Managergehälter und Armutsbericht. Der Arbeitsmarkt als Mittler zwischen Wirtschaft und Gesellschaft

Während derzeit einerseits die öffentliche Empörung über zu hohe Managergehälter so weit geht, dass diskutiert wird, diese zu beschränken, berichtet der Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, dass trotz relativ geringer Arbeitslosenquoten etwa jeder siebte Bundesbürger von Armut bedroht ist. Dies verweist auf die besondere Rolle, die der Arbeitsmarkt in modernen Gesellschaften – und die Soziologie – hat.

Arbeit als besondere Ware

Der Arbeitsmarkt war und ist schon immer ein besonderer Markt gewesen. Erstens ist die Erkenntnis uralt, dass „Arbeit“ eben nicht eine Ware ist wie jede andere, sondern an die Person des Arbeitenden gebunden ist, der gleichzeitig auch Mensch und Gesellschaftsmitglied ist. Deshalb kann der Arbeitsmarkt nie nach denselben Logiken funktionieren wie andere Märkte – und vor allem nie nach dem rein ökonomischen Kalkül (auch wenn uns neoliberale Wirtschaftstheorien das immer wieder glauben lassen wollen) (Baur 2001).

Zweitens verbindet der Arbeitsmarkt auf allen Märkten den Produktionsbereich (denn das tun ja Arbeitende mit ihrer Arbeitskraft – sie produzieren Waren und Dienstleistungen) mit der Gesellschaft, und zwar in beide Richtungen: Die Gesellschaft leistet (u.a. über Arbeitsleistung der Erwerbstätigen) wichtige Vorleistungen für das Funktionieren von Märkten, und der Markt erbringt (über das Einkommen der Beschäftigten) wichtige Leistungen für die Gesellschaft (Baur 2008a).

Arbeitsleistung – die Leistung der Gesellschaft an den Markt

Wie man aus den endlosen Klagen der Industrie über den „Fachkräftemangel“ und die „mangelnde Ausbildungsfähigkeit“ leicht schließen kann, entspringen qualifizierte Arbeitskräfte nicht aus dem Nichts – sie müssen so ausgebildet werden, dass sie nicht nur das entsprechende Fachwissen, sondern auch eine dem jeweiligen sozio-kulturellen Kontext angemessene Arbeits- und Zeitkultur mitbringen, zu der die Bereitschaft gehört, Verträge einzuhalten und den eigenen Zeitrhythmus den Bedürfnissen des Marktes anzupassen. Ebenso kann man Arbeitskräfte nicht unendlich arbeiten lassen – wenn wir nicht ab und zu schlafen und essen, klappen wir einfach zusammen.

Die Gesellschaft erbringt demnach zahlreiche sog. Vorleistungen, um dem Markt diejenigen Arbeitskräfte zu liefern, die er für die Aufrechterhaltung der Produktion benötigt. U.a. wird die Sozialisation und Reproduktion von Arbeitskräften auf die Privathaushalte (Kindererziehung, Hausarbeit) und das Bildungssystem ausgelagert (Baur 2008a, 2008b), wobei auch heute noch für Deutschland gilt, dass Bildungssystem und Arbeitsmarkt sehr stark gekoppelt sind: Wer gut ausgebildet ist, ist wesentlich weniger der Gefahr ausgesetzt, arbeitslos zu werden, und hat hohe Chancen auf einen gut bezahlten und prestigereichen Beruf (Baur/Wagner 2013).

Einkommen – die Leistung des Marktes an die Gesellschaft

Im Tausch gegen die Arbeitskraft der Erwerbstätigen wird (über das Einkommen) der auf Märkten erwirtschafteten Wohlstands an die Gesellschaft rücktransferiert, d.h. wer viel verdient, hat nicht nur die Möglichkeit, sich mehr Güter und Dienstleistungen zu kaufen, sondern er genießt i.d.R. auch ein höheres gesellschaftliches Prestige (die Debatte um die Frauenquote ist aus dieser Perspektive ein Kampf um hohes gesellschaftliches Prestige). Außerdem werden in Deutschland Ansprüche auf Sozialleistungen vorrangig über Sozialversicherungsbeiträge erworben, sind also an abhängige Beschäftigung auf dem Arbeitsmarkt gekoppelt, und die Versicherungssysteme zielen auf Statuserhalt ab (Bonß/Ludwig-Mayerhofer 2000). Wer ein niedriges Einkommen hat oder gar arbeitslos wird, ist also doppelt bestraft, weil er nicht nur weniger Einkommen, sondern auch weniger Sozialleistungen bekommt.

Die Neoklassik und der Neoliberalismus postulieren nun, dass Markt(wirtschaft) immer den gesamtgesellschaftlichen Wohlstand maximiere und gleichzeitig Freiheit fördere. Gerade der Armutsbericht (in Kombination mit der Debatte um hohe Managergehalter) verweist auf einen alten soziologischen Befund, dass das nicht immer und unbedingt der Fall sein muss. Vielmehr existieren zwei Grundprobleme:

  1. die ungleiche Verteilung der Einkommen. Bereits Karl Marx argumentierte, dass Markt(wirtschaft) soziale Ungleichheit erhöhen und zur Verarmung großer Teile der Bevölkerung – teils ganzer Länder (Münch 2012) führen kann. Wirtschaftliche Freiheit kann sehr schnell in ein Ausbeutungsverhältnis umschlagen, wenn Marktteilnehmer unter dem Zwang stehen, ihre Arbeitskraft oder Güter unter Wert zu verkaufen (Fourcade/Healy 2007). Selbst wenn der gesamtgesellschaftliche Wohlstand maximiert ist, kann die Verteilung dieses Wohlstands auf die Gesellschaftsmitglieder sozial unerwünscht sein, indem etwa die Einkommen sehr ungleich sind (Baur 2008b) – in der Sprache des Neoliberalismus nennt sich das „Einkommensspreizung“. Diese Erkenntnis schlägt sich in der aktuellen Debatte um Mindestlöhne nieder (wobei das nicht heißen soll, dass das das einzige oder beste Mittel ist, um dieses Problem zu handhaben).
  2. Exklusion und Arbeitslosigkeit. Statt Menschen „nur“ schlecht zu bezahlen, kann der Markt sie auch ganz ausschließen (exkludieren), z. B. aufgrund ethnischer Diskriminierung oder weil (wie etwa in Ostdeutschland oder Südeuropa) schlicht nicht genug Arbeitsplätze vorhanden sind, dass alle Arbeitswilligen auch Arbeit finden (Bude/Willisch 2006). Aus diesem Grund ist auch Massenarbeitslosigkeit in allen modernen Gesellschaften ein Problem (Baur 2001).

Moderne Staaten versuchen diese unerwünschten Verteilungsergebnisse durch wohlfahrtsstaatliche Umverteilung auszugleichen, theoretisch wird unter den Stichworten „Gleichheit“ und „Freiheit“ seit langem diskutiert, wie gerecht die Umverteilung gesellschaftlichen Wohlstands über den Markt bzw. über den (Sozial )Staat ist.

Klassische Forschungsfelder der Soziologie

Wegen dieser engen Koppelung von Bildungssystem, Arbeitsmarkt, Sozialstaat und Sozialstruktur arbeitet sich die Soziologie seit je her an diesen Themen ab. Auch wenn das Thema uralt ist und es sehr viel soziologische Forschung dazu gibt, bleibt es – wie die aktuelle Presseentwicklung zeigt – immer aktuell. Und heute wie vor 200 Jahren wirkt hier soziale Ungleichheit (in dem klassischen Sinne, dass die Lebenschancen einer Person nicht von ihrer individuellen Leistung, sondern der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe bestimmt werden), wobei die Kategorien, nach denen wir heute analytisch schauen, meist Klasse/Schicht/Lebensstil, Geschlecht, Ethnizität, Alter, Gesundheitsstatus und regionale Herkunft sind.

Auch den Vertretern der sozialen Marktwirtschaft, die die Sozial- und Wirtschaftsordnung der Bundesrepublik der Nachkriegszeit wesentlich mitgestaltet, waren diese Zusammenhänge wohl bewusst. Um ihre Vorstellung von Markt, Gesellschaft und Politik soll es morgen gehen.

 

Literatur

Baur, Nina (2001): Soziologische und ökonomische Theorien der Erwerbsarbeit. Frankfurt a. M./New York: Campus

Baur, Nina (2008a): Markt. In: Baur, Nina/Korte, Hermann/Löw, Martina/Schroer, Markus (Hg.) (2008): Handbuch Soziologie. Wiesbaden: VS-Verlag. 273-294

Baur, Nina (2008b): Konsequenzen des Verlusts des ganzheitlichen Denkens. Soziale Marktwirtschaft und die Triade Arbeitsmarkt, Sozialstaat und Geschlechterbeziehungen am Beispiel von Westdeutschland. In: Struck, Olaf/Seifert, Hartmut (Hg.) (2008): Arbeitsmarkt und Sozialpolitik. Kontroversen um Effizienz und soziale Sicherheit. Wiesbaden: VS-Verlag. 189-229

Baur, Nina/Wagner, Pia (2013): Die moderne Sozialstrukturanalyse und das Problem der Operationalisierung von Intersektionalität. Eine messtheoretische Perspektive. In: Erwägen – Wissen – Ethik (EWE) 24 (2). Im Erscheinen

Bonß, Wolfgang/Ludwig-Mayerhofer, Wolfgang (2000): Arbeitsmarkt. In: Jutta Allmendinger/ Wolfgang Ludwig-Mayerhofer (Hg.) (2000): Soziologie des Sozialstaats. Weinheim/ München: Juventa. 109-144.

Bude, Heinz/Willisch, Andreas (Hrsg.) (2006): Das Problem der Exklusion. Hamburg: Hamburger Edition

Fourcade, Marion/Healy, Kieran (2007): Moral Views of Market Society. In: Annual Review of Sociology 33. 285-311

Autor: Nina Baur

Prof. Dr. Nina Baur (März & April 2013) Professorin für Methoden der empirischen Sozialforschung am Institut für Soziologie der Technischen Universität Berlin Arbeitsschwerpunkte: Methoden der qualitativen und quantitativen Sozialforschung, Marktsoziologie, Prozesssoziologie, Raumsoziologie

9 Gedanken zu „Managergehälter und Armutsbericht. Der Arbeitsmarkt als Mittler zwischen Wirtschaft und Gesellschaft“

  1. „…wobei die Kategorien, nach denen wir heute analytisch schauen, meist Klasse/Schicht/Lebensstil, Geschlecht, Ethnizität, Alter, Gesundheitsstatus und regionale Herkunft sind.“

    Ich würde Ihrer Aufzählung eine Variable hinzufügen: den Gefühlshaushalt. Ich denke da an emotionale Stratifizerungsmodelle wie sie von Randall Collins oder Eva Illouz vorgeschlagen werden. Diese Variable lenkt die Aufmerksamkeit auf die Energien, die es ermöglichen sich von erworbenen oder zugeschriebenen Merkmalen zu emanzipieren.

    1. Lieber Beobachter der Moderne,

      ich hoffe, Sie nehmen es mir nicht übel, wenn ich immer erst etwas verzögert auf Ihre Kommentare antworte – Sie haben eine sehr anregende und konstruktive Weise, den Finger auf die Wunde zu legen, weshalb ich mich immer auf Ihre Kommentare freue, aber immer ein paar Tage brauche, um darüber nachzudenken, wie ich dazu stehen.

      Ich glaube, ich würde den Gefühlshaushalt NICHT in diese Liste einreihen, und zwar aus einem ganz bestimmten Grund:

      Eine Basisannahme unserer Wissenschaft ist ja, dass es typische Muster des Handelns/der Kommunikation/der Interaktion gibt, und wir schauen normalerweise nach bestimmten Kategorien der Sozialstruktur (Klasse/Schicht/Lebensstil, Geschlecht, Ethnizität, Alter, Gesundheitsstatus und regionale Herkunft), weil wir aus bisheriger Erfahrung wissen, dass es empirisch oft Unterschiede zwischen diesen Gruppen gibt. Die Frage ist aber: welche Unterschiede. Und ich persöndlich meine, dass der Gefühlshaushalt (ebenso wie etwa Bildungschancen, Konsumgewohnheiten oder Praktiken der Alltagsgestaltung) einer der Aspekte ist, hinsichtlich derer diese Gruppen variieren.

      Ich glaube übrigens auch nicht, dass die oben genannten Gruppenvariablen „naturgegegen“ sind, sondern ich glaube, dass sie sozial konstruiert sind (am Beispiel regionaler Unterschiede habe ich ja in den letzten Tagen versucht zu illustrieren, was ich damit meine).

      Ein anderes Beispiel ist das Geschlecht: Ich verwende es i.d.R. als das, was man in der quantitativen Sozialforschung Proxy-Variable nennt, d.h. ich gehe davon aus, dass die Summe der in der Sozialisation/im Lebenslauf gemachten Erfahrungen heute sozial wirksam ist, so dass man etwa systematische Unterschiede zwischen erwachsenen Männern und Frauen (mit jeweils ähnlichen Vorerfahrungen) beobachten kann. Es ist für mich eine Vereinfachung, um das Phänomen empirisch greifbar zu machen, und natürlich ist man dabei auch etwas theoriefaul, weil man sich meist nicht genau überlegt, was da genau wirkt – es könnte z.B. der geschlechtsspezifisch unterschiedliche Gefühlshaushalt sein (den man aber wiederum wesentlich schwerer empirisch messen kann, als z.B. einfach in einer Befragung zu fragen, obn jemand ein Mann oder eine Frau ist).

      Ich hoffe, es ist einigermaßen klargeworden, was ich meine.

      Herzliche Grüße,
      Nina Baur

  2. Liebe Frau Baur,

    ich verstehe das Problem. Und darin haben wir sicher einen gemeinsamen Ausgangspunkt. Ihre Lösung verstehe ich so, dass Sie sich quasi methodisch verbieten, was Menschen immer tun müssen, wenn sie mit anderen Menschen interagieren, nämlich vom Außen (Handeln) auf das Innen (Erleben) zu schließen (korrigieren Sie mich, falls es das nicht trifft). Ich sehe es etwas pragmatischer. Der Sinn des Handelns ist nicht unmittelbar gegeben. Vielmehr findet hier bereits eine Syntheseleistung statt. Das zeigt sich schon an einem einfachen Beispiel, wenn sich zwei Menschen von Angesicht zu Angesicht gegenüber stehen und noch sinnvoll über rechts und links sprechen wollen. Für die Koordination des Handelns in Bezug auf ein gemeinsames Objekt der Aufmerksamkeit, auf das sich das gemeinsame Handeln bezieht, muss die Perspektive des Gegenübers mitberücksichtigt werden. Und diese ist bei dem rechts/links-Schema genau spiegelverkehrt. Wie will man das erklären, wenn man nicht das sozial geformte psychische Erleben der Kommunikationspartner nicht mit berücksichtigt? Das fängt bei solchen einfachen Problemen an und hört beim bewussten und emotionalen Selbsterleben des Gegenübers auf.

    Ich denke, dass gerade bei einer immer stärkeren Individualisierung von personaler Identität auch soziologische Theorien nicht darum herum kommen sich stärker zu psychologisieren. Wobei es auch hier zunächst darum geht zu beobachten, wie beobachtet wird – das gilt ja auch für Emotionen.

    Viele Grüße
    BdM

    1. Lieber BdM,

      ich glaube, ich denke einfach anders herum als Sie – vielleicht kommt das von der Methodenprofessur (oder ich bin auf einer Methodenprofessur gelandet, weil ich so herum denke): Viele Probleme gehe ich von der Empirie bzw. von Daten her an. Damit meine ich nicht nur, dass ich induktiv-abduktiv vorgehe, sondern auch meinen Interpretationsprozess selbst relektiere: Ich frage mich oft, was kann und was kann man nicht aus diesen Daten lesen. Insofern haben Sie mich mit folgenden Satz tatsächlich missverstanden:

      „Ihre Lösung verstehe ich so, dass Sie sich quasi methodisch verbieten, was Menschen immer tun müssen, wenn sie mit anderen Menschen interagieren, nämlich vom Außen (Handeln) auf das Innen (Erleben) zu schließe.“

      Uns interessiert als Soziologen m.E. meist beides – das Erleben und das Handeln. Was wir aber als Daten vorliegen haben, ist lediglich das Handlungs-/ Interaktionsprodukt in Form etwa einer sprachlichen Äußerung, eines beobachteten Tuns oder eines Artefakts, von dem wir wiederum auf das Innen und Außen schließen müssen. (Das gilt auch für das Interview, weil ja Interviewpartner z.B. lügen können).

      Nur leider haben wir oft sehr wenige Informationen/ Daten, weshalb wir interpretieren müssen (dazu brauchen wir ja unter anderem Theorie). Besonders deutlich wird das m.E. in der quantitativen Sozialforschung. Da stellen wir z.B. bei einer konkreten Problemstellung fest, dass es einen Unterschied zwischen Männern und Frauen gibt, aber das interessiert ja nicht wirklich oder ausschließlich.

      Was wir doch eigentlich wissen wollen, ist, warum es diesen Unterschied gibt: Ist es Biologie? Ist es der Gefühlshaushalt? Ist es Diskriminierung bzw. strukturelle Benachteiligung? Sind es die bislang im Lebenslauf getroffenen, systematisch unterschiedlichen Entscheidung?

      Oft (insbesondere in der quantitativen Sozialforschung) geben uns die Daten, die wir haben, keinen Hinweis darauf, welche dieser Antworten richtig ist – die Daten passen zu mehrere theoretischen Vorannahmen. Wir müssen daher interpretieren und uns für eine Theorie entscheiden. Ich finde hierbei das Credo der Geschichtswissenschaft sehr passend: Die Daten haben ein Veto-Recht.

      Gegen den Interpretationszwang kann man nichts machen (und das finde ich auch nicht weiter schlimm), aber ich finde, man sollte sich dessen bewusst sein, dass man interpretiert (die meisten quantitativen Sozialforscher sind sich übrigens meiner Erfahrung nach entgegen einem gängigen Vorurteil wohl bewusst – sie hängen nur derzeit überproportional bestimmten Theorierichtungen wie der Rational Choice-Theorie an, was ja aber auch völlig in Ordnung ist, aber zu einer bestimmten Deutung der empirisch beobachteten Phänomene führt).

      Jedenfalls würde ich deshalb gerne den Gefühlshaushalt von Konzepten wie Geschlecht und Alter trennen – weil das für mich stärker den Status einer Hintergrundtheorie hat, die die beobachteten Differenzen zwischen verschiedenen sozialen Gruppen „mit Leben füllt“ bzw. sie zu erklären versucht.

      Insofern stimme ich Ihrem „pragmatischen Ansatz“ zu – es geht mir v.a. aus methodologischer Perspektive darum, zumindest manchmal zu überlegen, ob man seine Daten nicht überinterpretiert. Dadurch kommen bei mir übrigens manchmal „Nebenbaustellen“ zustande – sie haben für mich heuristisch den Zweck, noch einmal genau über diesen Punkt nachzudenken und ggf. mit anderen Daten/aus anderen Quellen zusätzliche Informationen zu erlangen, um dann sozusagen theoretisch gesättigter zum „eigentlichen“ Problem zurückzukehren. In der „eigentlichen“ Analyse fokussiere ich dann auf das gerade interessierende Phänomen und blende die „Nebenbaustellen“ aus.

      Ich weiß nicht, ob klar geworden ist, was ich meine, hoffe aber, dass deutlich geworden ist, dass und warum ich Ihnen zustimme.

      Auch hinsichtlich einer Verknüpfung Soziologie – Psychologie ist m.E. nichts einzuwenden, im Gegenteil: Viele der disziplinären Trennungen sind m.E. nur historisch und machtpolitisch zu erklären (d.h. es ging um Stellen) – das trifft auch für die Abgrenzung der Soziologie von der Geschichtswissenschaft, Geographie und den Wirtschaftswissenschaften. Ich habe noch nie eingesehen, warum ich gute Ansätze und spannende Befunde aus diesen Disziplinen nicht verwenden soll, nur weil sie nicht von Soziologen stammen …

      Herzliche Grüße,
      Nina Baur

  3. Liebe Frau Baur,

    ich danke Ihnen für Ihre Ausführungen und ja, ich denke ich verstehe sehr gut was Sie beschreiben. In meinem nächsten Blog-Beitrag wird es zum Teil darum gehen den von Ihnen beschriebenen Prozess von Generalisierung und Spezifizierung von Begriffe oder Annahmen auf der Grundlage des systemtheoretischen Beobachtungsbegriffs selbst noch einmal zu reflektieren. Statt von Spezifizierung könnte man mit Blick auf wissenschaftliche Theorien auch von Operationalisierung sprechen. Das führt natürlich zur Differenzierung des Beobachtungsapparats und zur Notwendigkeit die einzelnen Annahmen unter einem Dach zu integrieren.

    Am Ende geht es weniger um die Frage des Ausgangspunkts – Theorie oder Empirie. Vielmehr will man ja mit Hilfe der Theorie Informationen über den Forschungsgegenstand gewinnen. Und die Empirie wird wiederum Information darüber liefern, ob die Theorie adäquat ist oder nicht. Es geht also um das Rückkopplungsverhältnis zwischen Theorie und Empirie. Wichtig ist, zu reflektieren, wie dieses Rückkopplungsverhältnis über die verwendeten Annahmen und Operationalisierungen konstruiert wird und ob die Irritation durch die Empirie bei der Modifikation der Theorie zu höherer Irritierbarkeit der Theorie (informationelle Offenheit) oder zu geringerer Irritierbarkeit (informationelle Schießung) führen.

    Der Vorteil einer Variablen wie Emotion sehe ich u. a. darin, dass sie gegenüber Einflüssen wie Alter oder Geschlecht zunächst neutral ist. Alle Menschen sind empfindungsfähig, aber nicht alle fühlen gleich. Insofern trifft es die Formulierung Hintergrundtheorie tatsächlich ziemlich gut. Es geht darum eine Generalisierung einzuführen um den Beobachtungshorizont zu erweitern und die Irritierbarkeit zu erhöhen. Das ist es was Luhmann mit dem Tiefer-Legen der Theorie meinte. Ausgehend von der Empfindungsfähigkeit kann man dann prüfen, ob Alter oder Geschlecht einen zufälligen oder systematischen Einfluss auf emotionale Stratifizierung haben. Wenn letzteres der Fall wäre, müsste man prüfen, wieso das so ist. Und da würde ich als erstes auf die Kommunikation schauen. Alle Menschen müssen sich an Kommunikation beteiligen, aber nicht alle beteiligen sich in gleicher Weise an Kommunikation. Wieso? Hier sehe ich einen Zusammenhang zwischen Kommunikation (Gesellschaft) und Emotion (Menschen). Und der wird auch von anderen Ansätzen gesehen. Zugleich besteht hier die Anschlussstelle für andere Wissenschaftszweige wie Psychologie, Neurologie, Biologie, Biochemie u.v.m..

    Viele Grüße
    BdM

    1. Lieber BdM,

      ich stimme Ihnen vollkommen zu. Es ist eine seltsame Folge der Differenzierung (Sie haben schon Recht – das ist ein echtes Basisproblem) der (deutschen) Soziologie in Allgemeine Soziologie/Theorie, Spezielle Soziologien und Methoden, dass es zu einem der (wenn nicht dem) wichtigsten Probleme der Forschung – der Verknüpfung von Daten und Theorie – kaum Diskussionen und Literatur gibt. In jeder Methodeneinführung steht, dass Operationalisierung das Wichtigste und Schwerste überhaupt sei – aber man findet kaum Anleitungen, wie man das nun genau machen soll. (Ich mache selbst einen Versuch, das in der Neuauflage der Verlaufsmusteranalyse, die im Herbst erscheinen wird, am Beispiel prozessorientierter Forschungsfragen besser herauszuarbeiten, bin aber immer noch nicht wirklich zufrieden – deshalb freue ich mich besonders auf Ihren Blogbeitrag).

      Momentan bin ich auf dem Stand, dass wir zwischen min. zwei bis drei Theorieebenen unterscheiden müssen:

      1. den wissenschaftstheoretischen Grundannanmen

      2. der Sozialtheorie

      3. der Theorie mittlerer Reichweite

      Wir brauchen 1 und 2, um überhaupt auf die Wirklichkeit zugreifen und Daten interpretieren zu können, und unsere herkömmliche Methodologie ist v.a. darauf ausgerichtet, 3 voranzutreiben – und ich stimme vollkommen zu, dass es wichtig ist, Rückkoppelungsschleifen einzubauen sowie die Forschung so anzulegen, dass die eigenen Hintergrundannanmen irritiert werden können.

      Hinsichtlich Ihrer Anmerkungen zu Emotionen gebe ich Ihnen vollkommen Recht – und das Thema ist auch noch völlig unterbelichtet.

      Herzlich,

      Nina Baur

  4. Liebe Frau Bauer,

    dass hab ich nun davon. Eigenwerbung weckt große Erwartungen und provoziert zugleich große Enttäuschungen. Auf der einen Seite freut es mich natürlich Ihr Interesse geweckt zu haben. Aber prophylaktisch möchte die Erwartungen daher etwas dämpfen. Der kommende Blogbeitrag wird sich mit der Theorieebene 1 auseinandersetzen. Ich gehe allerdings den von Luhmann eingeschlagenen Weg weiter und versuche das Problem mit der Beobachtungstheorie bearbeiten. Danach beobachten alle sozialen Systeme mit einer spezifischen Operation. Wissenschaft unterscheidet sich damit in ihrer Operationsweise nicht vom Rest der Gesellschaft. Dann geht es nicht nur um ein wissenschaftstheoretisches Problem, sondern um ein erkenntnistheoretisches. Erst wenn die Möglichkeiten und Grenzen der Beobachtung klar sind, lassen sich auch die Konsequenzen für Theoriebildung abschätzen. Ich konzentriere mich zunächst nur auf Ersteres ohne eine funktionale Spezifizierung zu berücksichtigen. Einige Implikationen für Letzteres werden allerdings schon angedeutet. Die beziehen sich vornehmlich auf das in Ihrem anderen Kommentar angesprochene Problem der Ebenentrennung

    Viele Grüße
    BdM

    1. Lieber BdM,

      machen Sie sich keine Gedanken – ich bin froh, wenn man das Thema mal mit jemand diskutieren kann. Und ich finde es auch nicht schlimm, sondern sogar fast beruhigend, wenn wir kniffelige Probleme, die seit etwa 100 Jahren weder angemessen diskutiert noch gelöst wurden, nicht innerhalb weniger Monate lösen können, sondern vielleicht ein paar Jahr(zehnt)e diskutieren müssen (auch wenn man vielleicht doch die Befriedigung bekommt, schon schneller eine Lösung zu bekommen – oder zumindest die Hoffnung darauf nicht aufgibt).

      Es gibt ja auch noch eine Reihe anderer Probleme, an denen sich die Soziologie seit Jahrzehnten die Zähne ausbeißt (und das trotz Diskussion), z.B. das Mikro-Makro-Problem oder Zeit oder Raum …

      Ich freue mich auch auf den Beitrag, weil Sie das Thema systemtheoretisch angehen – wie Sie wahrscheinlich mittlerweile gemerkt haben, habe ich mich bislang mit Systemtheorie nur am Rande befasst – mein Hauptproblem war immer, dass ich mir eben nie sicher war, wie man das Ganze operationalisieren soll – und genau dazu werden Sie ja schreiben. Ihre Beiträge machen Jedenfalls insgesamt Lust, sich tiefer als bisher mit Systemtheorie zu befassen.

      Herzliche Grüße,

      Nina Baur

      1. Liebe Frau Baur,

        wenn ich wieder mehr Lust auf Systemtheorie machen kann, hätte ich auf jeden Fall schon was erreicht. Bisher scheint mir viel zu sehr auf die Unterschiede geachtet worden zu sein. Dabei gibt es auch so viele Anknüpfungspunkte zu anderen Theorieangeboten, die eine gute Grundlage für spannende Dialoge bieten würden.

        Zu einem Abschluss wird man eine Theorie geschweige denn eine Wissenschaft sowieso niemals bringen. Wie heißt es so schön: Je mehr man weiß, desto mehr weiß man auch darüber, was man alles nicht weiß.

        Ich freue mich auch, wenn ich ein Thema mit jemanden diskutieren kann. Bevor es hier noch weiter ausfranst, und so langsam verliere ich den Überblick. Wir kommen beide aus Berlin. Bei Interesse gerne auch mal in Echt.

        Viele Grüße
        BdM

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