Raum ist nicht (nur) sozial konstruiert. Globalisierung und die räumliche Differenzierung der Produktionskette (Differenzierung 4)

Bei der Lektüre vieler sozial- und kulturwissenschaftlicher Texte gewinnt man manchmal den Eindruck, dass im Zuge der Globalisierung und der zunehmenden Bedeutung des Internets der (physische) Raum keinerlei Bedeutung mehr habe und der Raum eine reine sozialen Konstruktion sei. Auch wenn auch ich glaube, dass Raum sozial überformt wird und Grenzen sozial konstruiert werden (Baur 2005: 80-82; 165-172), so bin ich doch der Ansicht, dass viele raumsoziologische Arbeiten die soziale Wirksamkeit des physischen Raumes unterschätzen.

Dass die Körpersoziologie in den letzten Jahren einen so großen Aufschwung bekommen hat, lese ich übrigens als Zeichen, dass ich das nicht allein so sehe: Wir sind als Menschen über den Körper im Raum gebunden. Allein schon unsere körperlichen Unterschiede beeinflussen unsere Lebenschancen: Auch wenn der einzelne Mensch und das soziale Umfeld durchaus Vieles ausgleichen können, so hat jemand mit nur einem Bein doch einen Nachteil gegenüber jemand mit zwei Beinen, ebenso wie ein Gesunder gegenüber einem Kranken.

Durch unsere Körperlichkeit befinden wir uns zu jedem beliebigen Zeitpunkt an einen spezifischen Ort (auf einer bestimmten Raum-Zeit-Koordinate), und auch wo wir uns befinden, macht einen Unterschied. Nicht umsonst ist „Regionale Herkunft“ eine klassische und wichtige Kategorie sozialer Ungleichheit.

Menschen und Güter durch den physischen Raum zu bewegen, kostet Zeit (sie haben einen spezifischen Raum-Zeit-Pfad), und um menschliche Handlungen zu koordinieren, müssen sich ihre Raum-Zeit-Pfade treffen, wobei hier technische Hilfsmittel (manchmal) zur Überbrückung der Differenzen zwischen Raum-Zeit-Pfaden dienen können – genau das tut das Internet: Es erleichtert die Kommunikation zwischen Personen, die sich zur selben Zeit an verschiedenen Orten befinden. Aber bei der Produktion und beim Transport von physischen Objekten hilft das Internet nicht (es kann ja nicht beamen). Die Rohstoffe für die Maschinen, das Produkt und die Verpackung müssen an bestimmten Orten wachsen oder produziert werden. Sie müssen weiterhin irgendwo in einer Molkerei verarbeitet werden, und auch die Menschen, die das Produkt konsumieren, wohnen an bestimmten Orten. Alle dies findet unmittelbar im physischen Raum statt und nimmt einen bestimmten Raum in Anspruch, wie bei der Darstellung der Produktionslinie bereits deutlich geworden ist.

Das verweist auf einen weiteren Aspekt der Differenzierung auf modernen Massenmärkten: Nicht nur wird die Zahl der Produktionsschritte pro Produktionsstufe, um etwa Lebensmittel zu produzieren, immer größer. Mit der Ausdifferenzierung der Produktionskette in komplexe Zulieferer-Netzwerke geht auch eine räumliche Ausdehnung der Produktionskette einher: Die Orte, an denen produziert und konsumiert werden, sind nicht notwendigerweise dieselben, weshalb das Produkt unter Umständen sehr weit transportiert werden muss. Verschiedene Phasen des Produktionsprozesses werden in unterschiedlichen Betrieben an unterschiedlichen Orten abgewickelt. Logistikunternehmen überbrücken die Distanzen zwischen den Unternehmen.

Transportwege für die Herstellung eines Erdbeer-Joghurts im Recycling-Glas (1993) (Quelle: Nuhn 1999: 156)
Grafik 1: Transportwege für die Herstellung eines Erdbeer-Joghurts im Recycling-Glas (1993) (Quelle: Nuhn 1999: 156)

Ein sehr altes, aber immer noch gutes Beispiel sind die Transportwege, die Anfang der 1990er zurückgelegt werden mussten, um einen 150g-Glas Erdbeer-Joghurt zu produzieren (vgl. Grafik 1) – und damals hatte die Globalisierung gerade erst eingesetzt und es wurde noch weitgehend national produziert. Dass das heute nicht anders ist, zeigt die Rekonstruktion der Transportwege, wie das Pferdefleisch in die Fertiggerichte gelangte (Spiegel Online 2013). Zum Aflatoxin in der Milch schreibt das manager magazin online (2013):

Der Mais stammte aus Serbien. In ihm war der Grenzwert für das Schimmelpilz-Gift Aflatoxin von 0,02 Milligramm pro Kilogramm Futter um das Zehnfache überschritten worden. 45.000 Tonnen des Maises wurden im Hafen Brake angelandet. In einer Lagerhalle in Bremen konnten 25.000 Tonnen davon sichergestellt werden, in Brake selbst 10.000 Tonnen. Die übrigen 10.000 Tonnen wurden an 13 niedersächsische Futtermittelhersteller geliefert. Diese verkauften das Mischfutter mit dem verseuchten Mais an Tausende landwirtschaftliche Betriebe in Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen und Sachsen-Anhalt. Auch in die Niederlande sei verseuchtes Futter geliefert worden, teilte das Bundeslandwirtschaftsministerium mit. Vorsorglich seien auch die übrigen Bundesländer und die EU-Kommission informiert worden.

Die Kombination aus Arbeitsteilung, der Positionierung der Unternehmen im Raum und den Transport- und Kommunikationsbeziehungen der Unternehmen zueinander ergibt folglich der Produktionskette eine räumliche Struktur. Anhand dieser einfachen Beispiele wird auch deutlich, dass die Überbrückung dieser Distanzen durchaus ein Problem darstellt, und zwar in mehrerlei Hinsicht:

  • Die gesamte Produktionsprozess wird umso unübersichtlicher und störanfälliger, je weiter die einzelnen Produktionsstandorte voneinander entfernt sind und je mehr verschiedene Produktionsstandorte existieren: Ein Stau auf der Autobahn irgendwo zwischen Niebüll und Stuttgart kann die gesamte Produktion lahm legen. Wie die aktuellen Lebensmittelskandale illustrieren, werden diese Probleme werden umso größer, je mehr Landesgrenzen bei der Produktion überschritten werden, da dann zusätzlich die Eigenschaften verschiedener Kapitalismusmodelle zum Tragen kommen können. Beispielsweise können die polnischen Hygienevorschriften völlig anders sein als die deutschen.
  • Transport, Logistik und Kommunikation werden also immer bedeutender – aber dadurch werden die Raum-Zeit-Pfade asynchron: Während durch das Internet heute (fast) in Echtzeit kommuniziert werden kann, braucht der Transport Zeit – teils immer noch mehrere Wochen. Im Extremfall kann ein Produkt (etwa durch einen Lebensmittelskandal) gar nicht mehr verkäuflich sein, wenn es am Endstandort ankommt. Durch die Geschwindigkeit der Kommunikation wird diese Asynchronität von Kommunikation und Bewegung von Objekten im Raum zudem verschleiert, weil sie die Illusion erzeugt, heute ginge Alles viel schneller, aber zumindest in Echtzeit. Genau das führt dann oft zu Problemen, wenn wir mit der Tatsache konfrontiert werden, dass die physische Bewegung von Menschen und Gütern im Raum nicht so schnell geht.
  • Räumliche Differenzierung verursacht erhebliche (Transport-)Kosten, und allein der Transport kann zu erheblichen Umweltproblemen führen – daher sind etwa die Glasbecher für Joghurt so umstritten: Zwar ist das Verpackungsmaterial (Glas) wesentlich umweltfreundlicher, aber es ist schwerer im Transport (und verbraucht dadurch mehr Treibstoff für den Transport), und es muss (zum Recycling) wieder in die Fabrik zurücktransportiert werden, während man den (vom Material her umweltunfreundlicheren) Plastikbecker einfach wegschmeißt.
  • Menschen und Güter sind unterschiedlich räumlich beweglich, wodurch ein Machtungleichgewicht entsteht – aber dazu mehr an einem anderen Tag.

 

 

Literatur

Baur, Nina (2005): Verlaufsmusteranalyse. Methodologische Konsequenzen der Zeitlichkeit sozialen Handelns. Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissenschaften

Nuhn, Helmut (1999): Veränderungen des Produktionssystems der deutschen Milchwirtschaft im Spannungsfeld von Markt und Regulierung. In: Berthold, Astrid/Neiberger, Cordula/Nuhn, Helmut/Stamm, Andreas (Hg.) (1999): Auflösung regionaler Produktionsketten und Ansätze zu einer Neuformierung. Fallstudien zur Nahrungsmittelindustrie in Deutschland. Münster: Lit. S. 113-167

Autor: Nina Baur

Prof. Dr. Nina Baur (März & April 2013) Professorin für Methoden der empirischen Sozialforschung am Institut für Soziologie der Technischen Universität Berlin Arbeitsschwerpunkte: Methoden der qualitativen und quantitativen Sozialforschung, Marktsoziologie, Prozesssoziologie, Raumsoziologie