Die soziale Konstruiertheit des Raumes und die derzeitigen Grenzen der Leistungsfähigkeit von Geoinformationssystemen

Dass ich gestern geschrieben habe, der physische Raum würde von der Soziologie unterschätzt, soll nicht heißen, dass ich die soziale Konstruktion des Räumlichen (Lefèbre 1974) leugne – im Gegenteil: Wie wichtig die menschliche Syntheseleistung (Löw 2001) ist, erkennt man, wenn man sich mit Geodäten über Geoinformationssysteme (GIS) und die darauf basierenden Kartendarstellungen (wie Google Maps, Google Earth oder 3D-Stadtmodelle) unterhält.

Ich wette, dass die meisten von Ihnen, wenn Sie auf den Stadtplan einer typischen europäischen Stadt schauen, allein an der Anordnung der Häuser (also ohne die Gebäude- und Straßennamen zu lesen) ziemlich sicher erkennen, wo etwa der Marktplatz bzw. das Stadtzentrum liegen, wo etwaige (frühere) Industrie- und Hafengebiete lagen und was Vororte mit ruhigen oder schlechten Wohnlagen sind. Sehen sich verschiedene Personen unabhängig voneinander die Karte an, werden sie vermutlich außerdem (mehr oder weniger) zu demselben Ergebnis kommen.

Mathematisch gesehen ist das, was wir beim Erkennen räumlicher Strukturen tun, eine sehr einfache Operation: Datenbasis sind sogenannte georeferenzierte Daten oder Geodaten,[i] also Daten zu bestimmten Raum-Zeit-Koordinaten, die die Information enthalten, welches physische Objekt (Person, Gegenstand) sich zu welcher Zeit an welchem Ort befindet.

Diese Daten werden zu Orten verdichtet (Baur 2005: 80-82), wobei der Grad der Abstraktion variieren kann. So verdichten Menschen im Alltag (auf einer etwas niedrigeren Ebene) das, was sie sehen, zu einem Gegenstand (Ort, Stuhl, Sitzgruppe usw.), zu einem Zimmer, einem Gebäude, einem Ort in einer Stadt (Marktplatz, Stadtzentrum, Vorort), zu einer Stadt, einer Region, einem Land usw.

Da jede dieser Abstraktionsebenen eine Verdichtung auf Basis derselben Datengrundlage ist (Geodaten zu bestimmten Raum-Zeit-Koordinaten), müssten sie sich im Prinzip ganz einfach mathematisch ineinander überführen lassen – man rechnet einfach hoch oder runter. Im Alltag tun wir das ganz selbstverständlich: Mühelos springen wir zwischen dem Gedanken hin und her, dass wir an einem konkreten Tisch sitzen, der Teil eines Zimmers/ eines Gebäudes/ eines Wohnvierte / einer Stadt / eines Landes ist.

Aber der Computer kann das nicht. Trotz Geodaten und Geoinformationssystemen werden auch heute noch nach wie vor die meisten Karten als Bilder abgelegt, d.h., wenn Sie auf Google Maps den Umriss eines Gebäudes sehen, ist das gezeichnet (und nicht berechnet!). Auch was wir auf 3D-Stadtmodellen (z.B. von New York City) von Google Earth sehen, sind de facto Bilder.

Der Grund, warum diese verschiedenen Abstraktionsebenen (derzeit) nicht ineinander übergerechnet werden können, ist, dass der Geoinformatik derzeit die Formeln und Modelle fehlen, um diese Ebenen ineinander überzuführen – kurz: Es fehlt an soziologischer Theorie, wie die soziale Konstruktion von Raum funktioniert.

Natürlich gibt es eine Reihe von Arbeiten, die sich mit der sozialen Konstruktion des Raumes befassen, z.B. Elias’ und Scotsons (2002) Studie zu den Etablierten und Außenseitern oder Löws und Ruhnes (2011) Studie zur Prostitution. Auch über Grenzen (z.B. zwischen Nationen) existieren eine Reihe jüngerer Arbeiten. Schaut man sich aber genau an, was untersucht wird, so fällt auf, dass der physische Raum i.d.R. bereits als gegeben angenommen wird. „Konstruktion“ meint die semantische Besetzung dieses Raumes (z.B. als „gutes“ oder „schlechtes“ Viertel), die Definition von Nutzungsordnungen, Zugangsregeln, Atmosphären usw. im Sinne Löws (2001).

Die Auseinandersetzung mit den Problemen der Geodäsie verweist dagegen darauf, dass wir in soziologischen Analysen eine Ebene tiefer gehen müssten: Der physische Raum selbst ist eine Konstruktion, und zwar nicht nur in dem Sinne, dass Menschen im Lauf der Geschichte den physischen Raum gestalten, wie z.B. Braudel (2001) am Beispiel seiner Untersuchungen zum Mittelmeer zeigt, sondern auch, dass wir ständig über Platzierung und Synthese Orte sozial konstruieren (Löw 2001).

 

 

Literatur

Baur, Nina (2005): Verlaufsmusteranalyse. Methodologische Konsequenzen der Zeitlichkeit sozialen Handelns. Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissenschaften

Braudel, Fernand (2001): Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II. 3 Bände. Frankfurt a.M.: Suhrkamp

Elias, Norbert/Scotson, John L. (2002): Etablierte und Außenseiter. Frankfurt a.M.: Suhrkamp

Grözinger, Gerd/Wenzel, Matiaske (2010): Regional Data. In: RatSWD (Hg.) (2010): Building on Progress 1. Opladen/Farmington Hills: Budrich UniPress. 341-353

Haining, Robert (2009): The Special Nature of Spatial Data. In: Fotheringham, A. Stewart/Rogerson Peter A. (Hg.) (2009): The Sage Handbook of Spatial Analysis. London et al.: Sage. 5-23

Heineberg, Heinz (2006): Stadtgeographie. Paderborn. Schöningh

Lakes, Tobia (2010):Geodata. In: RatSWD (Hg.) (2010): Building on Progress 1. Opladen/Farmington Hills: Budrich UniPress. 325-340

Lefèbre, Henri (1974): Die Produktion des Raumes. In: Günzel, Stefan/Dünne, Jörg (Hg.) (2006): Raumtheorie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 330-342

Löw, Martina (2001): Raumsoziologie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp

Löw, Martina/Ruhne, Renate (2011): Prostitution. Frankfurt a.M.: Suhrkamp

Owen, David/Green, Anne/Elias, Peter (2009): Review of Spatial Data Needs and Resources. RatSWD Working Paper 88

RatSWD (2010): Recommendations for Expanding the Research Infrastructure for the Social, Economic, and Behavioral Sciences. RatSWD Working Paper 150

 

 

Anmerkungen

[i] Ich habe ja versprochen, so wenig wie möglich über Methoden zu schreiben, aber an dieser Stelle doch die Anmerkung, dass das Thema nicht nur theoretisch interessant ist, sondern auch methodologisch für die quantitative Sozialforschung. In Zusammenarbeit mit der Geodäsie wird hier seit einigen Jahren über die Eigenheiten räumlicher Daten (Haining 2009), über die Möglichkeit der Verknüpfung von Geodaten mit sozialwissenschaftlichen Daten (RatSWD 2010; Lakes 2010; Owen et al. 2009) sowie über Georeferenzierung bzw. die Regionalisierung von Daten (Grözinger/Wenzel 2010) diskutiert. Profitieren würde die Diskussion sicherlich von einer stärkeren Integration soziologischer mit sozial- und wirtschaftsgeographischen Methoden. So weisen Geographen darauf hin, dass man in der Analyse genau spezifizieren muss, was man vergleichen bzw. analysieren will (Heineberg 2006). Es macht methodologisch einen Unterschied, ob die Forschungsfrage auf die physische bzw. bauliche Struktur von Räumen (Morphogenetische Analyse), auf die symbolische Bedeutung von Räumen (Symbolische Analyse), auf Raumvorstellungen (Kognitive Karten bzw. Mental Maps), auf die Art, wie Räume genutzt werden (Funktionale Analyse), auf die Art, wie Menschen in einem gegebenen Raum typischerweise denken und handeln oder in diesem Raum verteilt sind (Sozialraumanalyse bzw. Sozialberichterstattung), auf Bewegungen bzw. Vernetzungen von Menschen und Artefakten im Raum bzw. zwischen Räumen (Aktionsraumanalyse) oder auf die Wechselwirkungen zwischen diesen Dimensionen abzielt.

Autor: Nina Baur

Prof. Dr. Nina Baur (März & April 2013) Professorin für Methoden der empirischen Sozialforschung am Institut für Soziologie der Technischen Universität Berlin Arbeitsschwerpunkte: Methoden der qualitativen und quantitativen Sozialforschung, Marktsoziologie, Prozesssoziologie, Raumsoziologie