Qualitätskonventionen auf dem Milchmarkt

Ökonomische Konventionen sind nicht nur lokal unterschiedlich, sie unterscheiden sich auch innerhalb eines Marktes für bestimmte Marktsegmente – und sind damit ein wesentliches Mittel, um das sog. Koordinationsproblem (Beckert 2007) zu lösen: Aufgrund der Differenzierung der Produktionskette in Zulieferer, Produzenten, Handel und Konsumenten stellt sich die Frage, wie diese Komplexität gehandhabt und die Marktteilnehmer so koordiniert werden können, dass eine Aufrechterhaltung der Wertschöpfungskette möglich ist. Wie etwa findet ein Verkäufer den richtigen Käufer? Wie wird die richtige Menge produziert?

 Der Markt als Feld

Um diese Frage beantworten zu können, schlagen eine Reihe wirtschaftssoziologischer Ansätzen, die sich an Bourdieu (1982, 1983) orientieren, vor, den Markt als Feld zu konzipieren, in dem ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital ungleich verteilt sind (Fligstein 2001, Diaz-Bone 2007a, 2007b, 2010, 2012, Florian/Hillebrandt 2006, Rössel 2007). Die Akteure versuchen, ihre jeweiligen Ressourcen zu vermehren und tragen Positionierungskämpfe aus. Diese Kämpfe finden in alltäglichen Interaktionen statt.

Qualitätskonventionen

Das im Kontext dieses Blog-Beitrags entscheidende Argument ist aber, dass Zulieferer, Produzenten und Handel gleichzeitig die komplette Wertschöpfungskette an einer bestimmten Form ökonomischer Konventionen – den sog. Qualitätskonventionen – ausrichten. Die Produktionskette wird folglich als Ganzes so organisiert, dass das Produkt symbolisch aufgeladen wird. Die Idee ist, dass der Kunde zwar keinen direkten Kontakt zum Hersteller hat, er aber indirekt über diese Symbole signalisiert bekommt, um welche Art von Produkt es sich dabei handelt – und zwar über das Produkt selbst, und nicht über die Medien.

Wie das funktioniert, ist v.a. für den französischen Lebensmittelmarkt und insbesondere für den Käsemarkt und Weinmarkt gut erforscht (Diaz-Bone 2005, 2008; Diaz-Bone/Hahn 2007; 2008; Schenk/Rössel 2012). Grob lassen sich zwei Typen von Qualitätskonventionen unterscheiden, die sich auch auf dem Joghurt- und Milchmarkt unterscheiden lassen.

Industrielle Massenproduktion

Die eine Art der Organisation der Wertschöpfungskette ist Produktion in industrieller Massenproduktion, über die ich in den vergangenen zwei Monaten in diesem Blog immer geschrieben haben: Hier ist die Produktionskette in komplexe, global organisierte Produzenten-Zulieferer-Netzwerke differenziert. Die Bauern sind meist Großbauern mit großen Viehbeständen. Der Rohstoff „Milch“ sollte möglichst einheitlich und gleichförmig sein – sollte er dies nicht sein, wird er vorher standardisiert, bevor er in die Produktion eingeführt wird. Die Molkereien sind meist mittlere oder große Unternehmen, die die Milch sehr vieler Bauern verarbeiten, große Mengen Milchprodukte für den Massengeschmack produzieren und ihr Produkt über große Handelsketten zu günstigen Preise vertreiben. Die Produktion selbst verläuft massenindustriell in Fabriken und ähnelt sehr stark der Produktion in der chemischen Industrie. Überwacht wird sie etwa von universitär ausgebildeten Agraringenieuren und Lebensmitteltechnikern.

Traditionell-handwerkliche Herstellung

In einem zweiten Marktsegment ist die Produktion noch nach traditionell handwerklichen Prinzipien organisiert:

Melken von Schafen, Zypern (© Patrik Budenz 2013)
Melken von Schafen von Hand (© Patrik Budenz, Zypern 2013)

Kleinbauern halten wenige Milchtiere, die viel Weidegang haben oder nach traditionellen Methoden gefüttert und gemolken werden. Unterschiede in der Milch verschiedener Bauern werden hier nicht als zu entfernendes Manko, sondern genau umgekehrt als Qualitätsmerkmal und Zeichen für die Einzigartigkeit des Produktes gesehen.

Traditionelle Herstellung von Halloumi,  (© Patrik Budenz 2013)
Traditionelle Herstellung von Halloumi (© Patrik Budenz, Zypern 2013)

Diese Einzigartigkeit wird erhalten, indem es von kleinen Molkereien (möglichst Familienunternehmen mit jahrhundertelanger Tradition) liebevoll nach traditionellen Methoden weiterverarbeitet und über kleine Läden (Marktstände, Delikatessläden) vertrieben wird.

Käsestand auf einem Markt, Georgien (© Patrik Budenz 2011)
Käsestand auf einem Markt (© Patrik Budenz, Georgien 2011)

Wichtig ist, dass das Endprodukt außergewöhnlich schmeckt – was nur ein kenntnisreicher Verbraucher überhaupt feststellen kann. Anders als bei der industriell hergestellten Ware ist es nicht nur völlig in Ordnung, sondern geradezu Zeichen von besonderer Qualität, dass das Produkt jedes Jahr anders schmecken kann und eben ab und zu auch mal aus sein kann. Diese Produkte eignen sich damit auch ausgesprochen gut für die soziale Distinktion der gehobenen sozialen Milieus.

Was ist besser? Qualitätskonventionen und Risiken

Man kann hier nicht sagen, dass das Eine oder Andere besser sei. Vielmehr liegen den beiden Produktionsweisen sehr unterschiedliche Philosophien – eben Qualitätskonventionen – zugrunde, die aber jeweils unterschiedliche Voraussetzungen, Vor- und Nachteile haben.

Die traditionell-handwerkliche Herstellung hat den großen Vorteil, dass sie wesentlich weniger anfällig ist für die spezifischen Risiken der industriellen Massenproduktion, die in den letzten Jahren zutage treten – falsche Deklaration von Lebensmitteln, Verkauf von verdorbenen Lebensmittel, Nichteinhaltung der Kühlkette usw. Das heißt aber nicht, dass sie frei ist von Gesundheitsrisiken: Entgegen der oft betriebenen Romantisierung der bäuerlichen Produktion weiß eben nicht jeder traditionelle Hersteller, was er tut – es gibt wie überall kompetente und inkompetente Produzenten, und dadurch, dass die Produkte nicht so standardisiert sind und auch nicht unter Laborbedingungen produziert wird, sind die Qualitätsschwankungen wesentlich höher – das war ja historisch genau der Grund, warum die Massenproduktion staatlich mit Gesetzen und Lebensmittelkontrollen gefördert wurde.

Der Vorteil der traditionell-handwerklichen Herstellung ist weiterhin, dass – sollte etwas schief gehen – aufgrund der geringen Produktionsmengen der Kreis der Betroffenen sehr gering ist (d.h. i.d.R. wird maximal eine Familie vergiftet). Bei der industriellen Massenproduktion fallen diese Art von gesundheitlichen Risiken zwar i.d.R. seltener an – dafür haben sie aber eine wesentlich größere Reichweite, weil potenziell (Hundert)tausende von Verbrauchern betroffen sind.

Die Qualitätsphilosophie bei der industriellen Massenproduktion ist folglich, dass durch Hygiene, Standardisierung und Laborbedingungen der Produktionsbedingungen Risiken minimiert werden. Solange die staatlichen Lebensmittelvorschriften eingehalten und regelmäßige Lebensmittelkontrollen durchgeführt werden, kann sich auch ein Verbraucher, der keine Ahnung von Ernährung und Essen hat, einigermaßen darauf verlassen, dass sein Essen sicher ist.

Die Qualitätsphilosophie bei der industriellen Massenproduktion geht dagegen davon aus, dass Risiken durch einen kompetenten Verbraucher, die persönliche Kenntnis des Händlers/Produzenten und eine persönliche Vertrauensbeziehung minimiert werden. Dies setzt voraus, dass der Verbraucher sehr genau über Lebensmittel Bescheid weiß und gute von schlechten Lebensmitteln unterscheiden kann. Wenn man sich mit Essen auskennt, erkennt man z.B. i.d.R. an Geruch, Aussehen, Konsistenz und Geschmack von Lebensmitteln, ob sie verdorben sind oder nicht.

Insgesamt hat folglich die handwerklich-traditionelle Produktion zwei entscheidende Nachteile:

  1. Sie ist nicht massen(produktions)tauglich – um sie (wieder)einzuführen oder auszuweiten (denn sie existiert ja noch, auch in Deutschland), müsste der komplette Produktionsprozess umgestellt werden. Ich bin mir tatsächlich nicht sicher, ob eine Komplettumstellung in einem Land wie Deutschland überhaupt möglich wäre – die Massenproduktion von Lebensmitteln hat schließlich in den vergangenen zwei Jahrhunderten immer mehr Menschen aus dem landwirtschaftlichen Bereich „freigesetzt“ und ermöglicht, dass sie stattdessen in Dienstleistungs- oder herstellenden Betrieben arbeiten, was eine wesentliche Voraussetzung für die Industrialisierung und unsere moderne Wirtschaftsstruktur war.
  2. Sie setzt wesentlich größere Anforderungen an den Verbraucher – er muss erstens wesentlich mehr Zeit und Aufwand betreiben, um an das gute Essen heranzukommen. Noch in den 1950ern verbrachten deutsche Hausfrauen etwa einen großen Teil ihres Tages damit, Essen zu beschaffen und zuzubereiten. Viel entscheidender ist aber, dass der Verbraucher auch sehr, sehr viel über Lebensmittel wissen muss, um überhaupt eine kompetente Entscheidung treffen zu können – ein Wissen, das vielen Konsumenten heute verloren gegangen ist (weshalb der Vorstoß, Ernährungskunde im Schulunterricht einzuführen, tatsächlich gar kein so schlechter Gedanke ist).

Damit sind wir also, wie versprochen, beim Verbraucher. Wie angekündigt, werde ich mich den Rest meiner Blog-Zeit mit dem Konsum befassen – welche Rolle er auf modernen Märkten spielt, wie der Konsum mit dem Arbeitsmarkt zusammenhängt, dass der Konsum geschlechtlich konnotiert ist, warum wir (wenn wir schon in Supermarkt einkaufen) bestimmte Marken kaufen, welche Konsummotive und Verbrauchertypen es gibt und wie es kommt, dass sich in Deutschland heute so wenige Verbraucher mit Ernährung auskennen.

 

 

Literatur

Beckert, Jens (2007): Die soziale Ordnung von Märkten. In: Beckert, Jens/Diaz-Bone, Rainer/Ganßmann, Heiner (Hg.) (2007): Märkte als soziale Strukturen. Frankfurt a. M./New York: Campus. 43-62

Bourdieu, Pierre (1982): Die feinen Unterschiede. Frankfurt a. M.: Suhrkamp

Bourdieu, Pierre (1983): The Forms of Capital. In: Richardson, John G. (Hg.) (1983): Handbook of Theory and Research for the Sociology of Education. Westport: Greenwood Press. 241-258

Diaz-Bone, Rainer (2005): Strukturen der Weinwelt und der Weinerfahrung, in: Sociologia Internationalis 43(1/2), S. 25-57

Diaz-Bone, Rainer (2007a): Qualitätskonventionen in ökonomischen Feldern. Perspektiven für die Soziologie des Marktes nach Bourdieu, in: Berliner Journal für Soziologie 17(4), S. 489-509

Diaz-Bone, Rainer (2007b): Habitusformierung und Theorieeffekte. In: Beckert, Jens/Diaz-Bone, Rainer/Ganßmann, Heiner (Hg.) (2007): Märkte als soziale Strukturen. Frankfurt a. M./New York: Campus. 253-266

Diaz-Bone, Rainer (2008): Économie des conventions – ein transdisziplinäres Fundament für die neue empirische Wirtschaftssoziologie. Vortrag gehalten im Rahmen der Jahrestagung der Sektion Wirtschaftssoziologie der DGS am 18./19. Februar 2008, Berlin. Quelle: http://www.mpifg.de/wirtschaftssoziologie-0802/papers/DiazBone.pdf am 07.04.2013

Diaz-Bone, Rainer (2010): Qualitätskonstruktion und Marktstrukturen. Ein Vergleich der Économie des conventions mit dem Marktmodell von Harrison White, in: Fuhse, Jan/Mützel, Sophie (Hg.)(2010): Relationale Soziologie. Zur kulturellen Wende der Netzwerkforschung. Wiesbaden: VS-Verlag, S. 163-178

Diaz-Bone, Rainer (2012): Ökonomische Felder und Konventionen. Perspektiven für die transdisziplinäre Analyse der Wirtschaft, in: Bernhard, Stefan/Schmidt-Wellenburg, Christian (Hg.) (2012): Feldanalyse als Forschungsprogramm 1. Der programmatische Kern. Wiesbaden: VS-Verlag, S. 99-119

Diaz-Bone, Rainer/Hahn, Alois (2007): Weinerfahrung, Distinktion und semantischer Raum, in: Sozialer Sinn. Zeitschrift für hermeneutische Forschung 8(1), S. 77-101

Diaz-Bone, Rainer/Hahn, Alois (2008): Wein und Distinktion. Die diskursiven Beiträge zur Konstruktion des Luxus, in: Jäckel, Michael/Schössler, Franziska (Hg.)(2008): Luxus. Interdisziplinäre Beiträge zu Formen und Repräsentationen des Konsums. Trierer Beiträge aus Forschung und Lehre an der Universität Trier, Band 28, S. 39-58

Fligstein, Neil (2001): The Architecture of Markets. Princeton: Princeton University Press

Florian, Michael/Hillebrandt, Frank (Hg.) (2006): Pierre Bourdieu: Neue Perspektiven für die Soziologie der Wirtschaft. Wiesbaden: VS-Verlag

Rössel, Jörg (2007): Ästhetisierung, Unsicherheit und die Entwicklung von Märkten. In: In: Beckert, Jens/Diaz-Bone, Rainer/Ganßmann, Heiner (Hg.) (2007): Märkte als soziale Strukturen. Frankfurt a. M./New York: Campus. 167-182

Schenk, Patrick/Rössel, Jörg (2012): Identität und Qualität im Weinfeld. In: Bernhard, Stefan/Schmidt-Wellenburg, Christian (Hg.) (2012): Feldanalyse als Forschungsprogramm. Wiesbaden: VS.

Autor: Nina Baur

Prof. Dr. Nina Baur (März & April 2013) Professorin für Methoden der empirischen Sozialforschung am Institut für Soziologie der Technischen Universität Berlin Arbeitsschwerpunkte: Methoden der qualitativen und quantitativen Sozialforschung, Marktsoziologie, Prozesssoziologie, Raumsoziologie