Der Ausschluss ist Alltag

In den folgenden Beiträgen will ich versuchen, eine soziologische Annäherung an das Phänomen des rechtsterroristischen „Nationalsozialistischen Untergrund“ zu leisten. Dabei soll es weniger um die Terroristinnen und Terroristen und ihre konkreten Verbrechen gehen als darum, wie die Straftaten medial und politisch thematisiert wurden.

Was geschah? Es geschah eine Mord- und Banken­raub­serie, verübt von Neonazis. Die Ermittlungsbehörden ermittelten in weiten Teilen gegen die Opfer und ihre Angehörigen, ein rechter Hintergrund wurde – trotz Hinweisen von Augenzeugen, Beamten und Angehörigen – ausgeschlossen. Massenmedien, bei weitem nicht nur der Boulevard, schrieben und sendeten Beiträge über tote „Döner“, den „Döner-Killer“ und die „Türkenmafia“. Hier nur zwei von vielen Beispielen:

„‚Döner-Killer‘, wie der Mörder von Türken inzwischen auch genannt wird.“ (AZ 13.08.2011)

Döner-Morde in Deutschland aufgeklärt, Spur führt zu Rechtsextremisten, die nach Bankraub Selbstmord begingen (NZZ, 13.11.2011)

Die Gemeinsamkeiten der Opfer – ein sogenannter Migrationshintergrund und ihre Ermordung am Arbeitsplatz – werden nicht als Hinweis auf die Opferwerdung interpretiert. Dabei war die Einordnung der Opfer als „Ausländer“ wohl der einzige Grund für ihre Ermordung durch die Terroristen.  Auf einen rechtsradikalen Hintergrund habe es keine Hinweise gegeben, lautet das Mantra der Ermittlungsbehörden bis heute. Doch einige Beamte widersprechen. Und die Hinweise mehrerer Profilerteams aus Deutschland und den USA auf einen rechtsradikalen Hintergrunf wurden „aktiv“ ignoriert. Indes wurde die Figur der „Dönermorde“ (bzw. des Döner-Killers) in einem Bekennervideo des NSU, in rechtsradikalem Liedgut und in Fanzines der Nazi-Szene aufgenommen – noch lange bevor „man“ davon wusste.

Inzwischen wissen wir aus vielen Berichten und den NSU-Untersuchungsausschüssen vom Versagen und Vertuschen der Behörden. Es sei nur auf das Zeitmagazin vom 13. Juni verwiesen, indem ausführlich über die Nicht-Verhaftung von Uwe Böhnhardt berichtet wird, auf das Buch von Patrick Gensing, auf die vielen Artikel auf publikative.org und die Daten, die NSU-Watch gesammelt hat. Die Archive, Fachjournalistinnen und Fachjournalisten kommen mit der Recherche und der Dokumentation dieser Versagensgeschichte kaum hinterher.

Wie kann nun eine soziologische Perspektive zum Verstehen dieser Vorgänge beitragen? Eine soziologische Perspektive kann zeigen, dass Prozesse, in denen dann bspw. Menschen als „Döner“ bezeichnet werden, nicht so surreal und ungeheuerlich sind, wie sie scheinen. Sie geraten als ein Effekt medialer Kommunikation und politischer Kollektivitätskonstruktion einer Gesellschaft in den Blick, die sich stets als tolerant, zivilisiert und aufgeklärt beschreibt, die ihre Gewalttätigkeit an den Rand medialer und politischer Wahrnehmung verschiebt.

Der Ausschluss ist Alltag. Denn die Banalität rassistischer und stereotyper Zuschrei­bungen in Sprache und medialen Bildern kommt oft viel unauffälliger daher, als im Reden von toten „Dönern“. Auch (und gerade!) weniger brachial formulierte mediale und politische Kommuni­ka­tionen erzeugen Einschließungs- und Ausschließungsver­hältnisse. Unterschiede zwischen Gruppen von Menschen zu machen, muss noch lange nicht „rassistisch gemeint“ sein. Ein Beispiel hierfür wäre die wohlmeinende Adressierung des „Migrationshintergrundes“ einer beliebigen durch Namen oder Hautfarbe als „fremd“ „erkannten“ Person in persönlichen Gesprächen: „Wo kommen sie denn wirklich her?“ Die Anrede als „Migrant_in (1.,2.,3. Ordnung) verweist auf die Erklärungsbedürftigkeit des Hier-Seins von Nicht-so-richtig-deutschen und konstituiert erst die Fremdheit der Angesprochenen, die vorher vielleicht noch gar nicht wussten, für wie fremd sie gehalten werden.

Werden solche Adressierungen zu starken Semantiken, dann lassen sich präferierte Kollektivitäten des „Wir“ und andere, davon abzugrenzende Positionen beobachten. Durch die Konstruktion von Fremdheit – die nicht zuletzt medial verhandelt wird – wird ein Bild der Normalität erzeugt. Teil dieser Normalität war in der Berichterstattung über die NSU-Morde die Annahme, dass „die Ausländer“ krimineller sind als „normale Deutsche“ und demgemäß Morde an „Ausländern“ mit der hoch wahrscheinlichen kriminellen Betätigung dieser Gruppe zu tun haben müssen. Derlei Annahmen sind so „normal“ und so plausibel, dass Medien wie Behörden über die braven und angepassten Kleinunternehmer-Biografien der vom NSU ermordeten Männer ebenso hinwegsehen konnten, wie über mehrere operative Fallanalysen.

Bei Th. W. Adorno kann man lesen, dass das in der Moderne unwiderbringlich verlorene kollektive Ethos sich der Gewalt bediene, um den Schein seiner Allgemein­verbindlichkeit aufrechtzuerhalten (Adorno 1996: 32ff., dazu Butler 2007: 9ff.). Anders als Selbstbeschreibungen der Gesellschaft als „aufgeklärt“, politisch korrekt und tolerant vermuten lassen, finden aus dieser Perspektive in der Konstruktion politischer Kollektive Ausschlüsse statt, die die Form von Gewalt annehmen. Auf den ersten Blick sehr unterschiedliche Konzepte von Fremdheit und er­wünschter Kollektivität, wie die mediale Anrufung von „Dönern“ und „Kopftuch­mäd­chen“, von „Nazi-Ossis“, „Hartz-IV-Schmarotzern“ und „Islamis­ten“ scheinen dann miteinander verwoben zu sein.

In den nächsten Beiträgen will ich versuchen, all diese Annahmen theoretisch zu präzisieren. Ich will besonders die mediale Berichterstattung, vor allem vor der (offiziellen) „Entdeckung“ des NSU – in den Blick nehmen und anhand unterschiedlicher theoretischer Angebote diskutieren. Meine wichtigsten theoretischen Bezüge werden sein:

(a) Judith Butlers dekonstruktive Re-Lektüre von Adornos Moralphilosophie, mit denen Prozesse der Verunsichtbarung und Exklusion als kollektive Ereignisse beschrieben werden können,

(b) Niklas Luhmanns Beschreibung der Massenmedien und ihrer verschiedenen Selektionsmechanismen, um die Verschränkung von Politik und Medien in den Blick zu nehmen sowie zum selben Zweck

(c) Armin Nassehis Beschreibung der Politik der Gesellschaft, welches nicht nur die Herstellung kollektiv bindender Entscheidung sondern die Herstellung des Publikums für kollektiv bindende Entscheidungen als Aufgabe des Politischen ausmacht (Nassehi 2006).

Jede politische Kommunikation stellt sich laut Nassehi ihr Publikum selbst her. Dies geschieht oft in Verbindung mit einem System der Massenmedien, welches laut Luhmann eigene Selektionskriterien besitzt. Und wie die politische und mediale Kommunikationen sich ihre Publikum vorstellen, wer in einem sozialen Kontext als politisch ernst zu nehmende Person mit Teilhaberechten definiert wird, ist laut Butler ein diskursiver Effekt mit harten Konsequenzen für jene, die aus dem Einzugsbereich des Menschlichen ausgeschlossen werden…

 

Literatur

Adorno, Th. W., 1996: Probleme der Moralphilosophie. In: Nachgelassene Schriften, Abt. IV Band 10, Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Butler, J., 2007: Kritik der ethischen Gewalt. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Nassehi, A., 2006: Der soziologische Diskurs der Moderne. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

 

5 Gedanken zu „Der Ausschluss ist Alltag“

  1. Hi,

    danke für diesen Artikel. Ich habe eine Nachfrage.

    Im Artikel steht: „Eine soziologische Perspektive kann zeigen, dass Prozesse, in denen dann bspw. Menschen als “Döner” bezeichnet werden, nicht so surreal und ungeheuerlich sind, wie sie scheinen.“

    Der Sinn des so geschilderten Projektes besteht ja, so nehme ich an, darin, die angesprochenen Prozesse aus dem Reich des Surrealen herauszuholen, um sie dann der Öffentlichkeit zu präsentieren, in der Hoffnung, dass sich diese Prozesse daraufhin verändern, richtig?

    Wie schätzt die Autorin die Möglichkeiten ein, die soziologische Leistung, Rassismus zu entmystifizieren, in eine politische Leistung, d.h. in eine Veränderung von Zuschreibungsprozessen von Identität zu überführen?

    1. Hallo Flo G, danke für den Kommentar. In der Tat denke ich, dass die Aufgabe einer soziologischen Perspektive auf den NSU (oder andere rassistische Phänomene) darin besteht, sich die Alltäglichkeit der Unterscheidungspraxen klar zu machen, die dann politisch und medial in der Verunsichtbarung von Gruppen von Menschen resultieren kann. Als Beispiel kann man die Reden von Herrn Innenminister Friedrich über Flüchtlinge betrachten. Die Soziologie kann zeigen, inwiefern Unterscheidungspraxen Effekte sozialer Ungleichheit produzieren und wie wichtig es dabei ist, nicht schlicht eindeutig rassistische Handlungen (im Sinne von „Nazi haut Araber auf den Kopf“) sondern auch und gerade mediale Diskurse und die Konstruktion von Sprecherpositionen in Behörden, Gesetzen, Sozialisationsagenturen wie der Schule etc. anzuschauen – sich dem Phänomen also auch Kommunikations- bzw. diskursanalytisch zu nähern. So scheint es, dass viele Leute heute davon überzeugt sind, die Gesellschaft sei sehr politisch korrekt – vielleicht sogar ZU politisch korrekt (siehe Tugendfuror). Gleichzeitig steigt die Zahl rassistischer Gewalttaten, wird aber durch verschiedene Diskurse verunsichtbart. Auch wurden gar keine politischen Konsequenzen aus dem NSU gezogen: auch ein Hinweis darauf, dass die Ermordeten eher nicht für „unsere“ Kollektivitätskonstruktionen gebraucht werden. Hier könnten auch viele quantitative Untersuchungen anschließen, die bspw. hinterfragen, wie die Konstruktion der Variable rechtsradikale Gewalt in verschiedenen Statistiken vollzogen wird.

      „Wie schätzt die Autorin die Möglichkeiten ein, die soziologische Leistung, Rassismus zu entmystifizieren, in eine politische Leistung, d.h. in eine Veränderung von Zuschreibungsprozessen von Identität zu überführen?“

      Ehrlich gesagt, das hängt von meiner Tagesform ab… Es gibt sowohl sehr viele positive Zeichen, wie die späten Solidarisierungen mit den NSU-Opfern und auch die Reflexionen von Journalist_innen hinsichtlich ihrer Verantwortung für rassistische Zuschreibungen. Zum Beispiel hat Hans Leyendecker sehr offen seine eigene frühere Haltung reflektiert. Das zeigt dann schon auch Wirkung. Und andererseits gibt es eine neue Toleranz für völkisch-nationalistische Theorie, wie sie bspw. in T. Sarrazins Buch als Bestseller verkauft wird. Die Breitenwirkung dieser Publikation ist sehr hoch. Da ihr Erfolg vermutlich in der Einfachheit der Argumentation begründet liegt, die den Schutz des „uns“ vor Fremden und genetisch bedenklichen Menschen fordert, bin ich auch skeptisch, ob Gegenaufklärung mittels komplexer soziologischer Argumente hilft. Zumal „menschenfeindliche“ (ich glaube so nennen das Heitmayer und andere? Bin gerade im Bus und kann es nicht nachschauen…) Einstellungen ja sehr im Mainstream verankert sind – 10% der Leute haben laut der FES-Studie ein geschlossen rechtsradikales, antidemokratisches Weltbild, meine ich zu erinnern. Aus systemtheoretischer Perspektive kann man nur hoffen, dass die Ausdifferenzierung der Gesellschaft als Weltgesellschaft zwar Rassismus nicht ungeschehen macht – aber weniger wirksam, da die Inklusion von Menschen in die Funktionssysteme von Gender, Ethnie und anderen personalen Faktoren in der Regel absieht. Aus dieser Perspektive sind dann „Gegenbewegungen“ gegen bspw. die Ausweitung von Rechten (auf Frauen, „Ausländer“) zum Scheitern verurteilt.
      Soweit meine persönliche Meinung zu Ihrer Frage, die hoffentlich eine Antwort ist. Viele Grüße, JS

  2. Liebe Frau Siri,

    ich denke, es könnte sich lohnen, neben den von Ihnen schon angesprochenen bzw. angekündigten Faktoren für exklusionsinduzierende Identitätskonstruktionen noch einen weiteren Faktor in Betracht zu ziehen, nämlich den Begriff und das Verständnis von Gesellschaft als Nationalgesellschaft, an dessen Verbreitung die Sozialwissenschaften ja einen nicht unerheblichen Anteil hatten und haben. Methodologischer Nationalismus ist, gewollt oder nicht, immer auch eine Form von (in gewisser Weise sogar: ein zumindest schwaches „Bekenntnis“ zu) Nationalismus, und in den meisten Fällen wenden sozialwissenschaftliche Texte sich ja auch überwiegend an ein national gedachtes Publikum. Dafür mag es nachviollziehbare Gründe geben, aber definitiv keine fachlichen. Die – kontingente! – Privilegierung nationaler Gemeinschaften als analytische Bezugsgrößen tut ein weiteres. Kurzum: Liefern wir nicht selbst einen Teil des begrifflichen Repertoires, das Ausgrenzungen nahelegt? Oder können Sie sich eine Fassung von „der deutschen“ Gesellschaft vorstellen, bei der „alle“ dazugehören bzw. die niemanden zu „Fremden“ machen würde?

  3. Lieber Herr Schmidt, das ist wirklich ein wichtiger Hinweis, der im Text zu kurz kommt. Vielen Dank.

    „Kurzum: Liefern wir nicht selbst einen Teil des begrifflichen Repertoires, das Ausgrenzungen nahelegt? Oder können Sie sich eine Fassung von „der deutschen“ Gesellschaft vorstellen, bei der „alle“ dazugehören bzw. die niemanden zu „Fremden“ machen würde?“

    Eine (wie auch immer begründete) staatliche Einheit ohne Außen kann ich mir aktuell auch nicht vorstellen. Die Krux am Rassismus ist aber ja, dass die Grenze über Ethnie konstruiert wird. Und da zeigt zum Beispiel Europa – aber auch das Beispiel USA – dass die Grenzen auch anders gezogen werden können als über „Blut“. Die Abstammungsregel des dt. Rechts wirklich aufzugeben, wäre meines Erachtens ein wichtiger politischer Schritt. Das soll nicht bedeuten, dass es in Europa und Amerika keine Ausgrenzung gäbe, wie die Schicksale der Flüchtlinge, die auf Booten nach Europa zu kommen versuchen und illegale mexikanische Einwanderer zeigen… Soziologisch vertrete ich auch die These, dass Grenzen zwischen „uns“ und „anderen“ stets gezogen werden. Und Ausschlüsse sind damit immer Alltag. Die Soziologie kann dies thematisieren, was ich v.a. in den Begriffen tun würde. Ich finde nicht, dass die Untersuchung nationaler Einheiten das Problem ist, sondern vielmehr, ob man die Ergebnisse, die man erhält, verallgemeinert. Ich schreibe das, weil ich denke, dass viele der Forschungsdesigns, die sich jenseits des nationalen Containers wähnen, sich (bestenfalls) durch Uneindeutigkeit und (schlimmstenfalls) durch unverhohlenen Kolonialismus auszeichnen. (Nicht alle, klar!)

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