Die Ausgrenzung Jugendlicher maghrebinischer Herkunft im urbanen Raum Frankreichs

Von Nadja Boufeljah

Die Entstehung sozialer Ungleichheit durch die Urbanisierung ist exemplarisch beobachtbar, wenn die Geographie und Sozialstruktur der Großstädte Frankreichs im 21. Jahrhundert betrachtet wird. Seit den Jugendrevolten in den Großstädten Frankreichs im November 2005 rückt deshalb auch die soziale Benachteiligung der Jugendlichen, die in den französischen Vorstädten leben, in den Vordergrund sozialwissenschaftlicher Diskurse. Aufgrund der fehlenden Anerkennung durch die gesellschaftlichen Institutionen und der eingeschränkten Teilhabe an der französischen Gesellschaft kann dies zu einer krisenhaften biographischen Linie der Jugendlichen führen, die in den Vorstädten Frankreichs aufwachsen. Auf der sozialen Ebene ist erkennbar, dass die prekären Lebens- und Wohnverhältnisse sowie die eingeschränkte Chancengleichheit im Bildungssystem zu unzureichenden Moratorien der Kindheit und Jugend führen. Neben sozialen Einschränkungen ist es auch der binationale Kontext der Jugendlichen mit Migrationshintergrund, welcher zu einer konflikthaften Auseinandersetzung mit der kulturellen Identität führen kann, wenn die Aufnahmegesellschaft die Integration verwehrt. Daraus resultierend ist erkennbar, dass Jugendliche mit Migrationshintergrund, neben der Diskriminierung aufgrund ihrer ethnischen, eine solche auch aufgrund ihrer sozialen Herkunft erfahren.

Historische Entwicklung französischer Vorstädte

Weiterhin ermöglicht „eine Analyse der Pariser Geographie […] Rückschlüsse über die soziale Stellung der in den Banlieues lebenden Individuen. Die räumlichen Gegenüberstellungen zwischen Zentrum und Nicht-Zentrum sind auch soziale Konfrontationen zwischen Franzosen und Menschen mit Migrationshintergrund“. (Mancheno 2011: 36) Demnach zeigt sich in der räumlichen Aufteilung der sozialen Räume in den Großstädten Frankreichs nicht nur eine räumliche, sondern auch eine soziale Entfernung. Dieser soziale Ausschluss zeigt sich deutlich, wenn man die Entwicklung der Vorstädte Frankreichs betrachtet. In der Mitte des 20. Jahrhunderts entwickelten sich rund um die Großstädte Frankreichs bidonvilles, die als Slums bezeichneten werden können. Diese bidonvilles waren als sozialer Raum für Familien gedacht, die nach Frankreich immigrierten. In diesen Stadtvierteln waren die Lebensbedingungen prekär, da es weder Strom- noch Wasserversorgung gab und die Wohnräume für die Familien meist beengt waren. Erst Ende der 60er Jahre wurden die Familien maghrebinischer Herkunft in die cites de transit umgesiedelt, die als eine Übergangsunterkunft gedacht waren, um später in die neuentstandenen Wohnsiedlungen, den sogenannten Banlieues, umzusiedeln. Als sich in den darauffolgenden Jahren auch die Situation in den Banlieues verschlechterte und der Drang aus den Wohnsiedlungen auszuziehen stieg, wiesen „die Statistiken von 1990 [..] eine Konzentration von 67,1% von Nord- und Schwarzafrikanern in [den Banlieues] auf, in den sogenannten quartiers prioritaires sind es sogar 80,8%“. (Schumann 2002: 42) Die quartiers priotitaieres zeichnen sich dadurch aus, dass sie als besonders gefährdet galten, da in diesen cites aufgrund der prekären Lebensverhältnisse gehäuft Jugendkrawalle ausgelöst wurden und Auseinandersetzungen unter rivalisierenden Gruppen auftraten. (vgl. ebd.: 42) Auch 2007 änderte sich wenig an der Infrastruktur der Banlieues, die meist als Zone Urbaines Sensibles beziehungsweise Problemgebiete bezeichnet werden. „Als Kriterium für die Einstufung als Zone Urbaines Sensibles gilt eine  überdurchschnittlich hohe Arbeitslosigkeit und ein geringes Bildungsniveau.“ (Eckard 2007: 34)

Soziale Ungleichheit im Bildungssystem Frankreichs

Der soziale Ausschluss ist weiterhin erkennbar, wenn man das Bildungssystem Frankreichs betrachtet. Es wird deutlich, dass sie dem Prinzip der „egalite aller Schüler im Sinne einer systematischen Nichtberücksichtigung von Besonderheiten aller Art, insbesondere religiöser und kultureller Differenzen“ (Schumann 2002: 44) folgt. Demnach weisen Individuen vor dem Schuleintritt soziale Differenzen auf, die im Laufe der Schullaufbahn durch objektivierte soziale Unterschiede ersetzt werden, was auch die These der Illusion der Chancengleichheit von Pierre Bourdieu und Jean-Claude Passeron bestätigt. (vgl. Bourdieu 1971: 20 ff) Denn nur die Vertrautheit im Umgang mit dem, im Bildungssystem geltenden, Habitus ermöglicht die objektive Tatsache der Chancengleichheit. Ist dies nicht erfüllt, kann dies zum sozialen Ausschluss oder zu einer permanenten Erschwerung des schulischen Aufstiegs führen. Daraus resultierend, können es Jugendliche mit Migrationshintergrund aus den Vorstädten Frankreichs schwer haben, sich in das Bildungssystem Frankreichs zu integrieren, da sie auf Grund ihres bikulturellen Kontextes zu einer Assimilation an das Bildungssystem gedrängt werden. Neben dem Effekt des Anpassungszwanges an die Kultur der französischen Bildungsinstitutionen, die als Selektionsprinzip genutzt wird, sind es die schwierigen Lebens- und Wohnverhältnisse, die Armut, der Bildungsgrad der Eltern und die sprachlichen Kenntnisse der Kinder, die sich auf die Chancengleichheit der Jugendlichen in den Schulen auswirken. Um die Chancenungleichheit im Bildungssystem Frankreichs zu verdeutlichen, können statistische Daten herangezogen werden, die beispielsweise zeigen, dass mehr als die Hälfte der Jugendlichen aus den Banlieues beziehungsweise „53 Prozent der Beschäftigten Jugendlichen […] im Jahr 2010 nur den niedrigsten Schulabschluss“ (Gnade 2013: o.S) besaßen.

Soziale Auswirkungen der Arbeitslosigkeit in Frankreich

Ein weiterer sozioökonomischer Faktor, der die soziale Ungleichheit in Frankreich vorantreibt, ist die Arbeitslosigkeit. Folgend beziehe ich mich auf statistische Daten zur Arbeitslosigkeit und Chancengleichheit in Frankreich, die ich der APuz entnahm. In den zones urbaines sensibles (ZUS) ist die Arbeitslosenquote 2005 bei 22 % angelangt, wobei diese, im Vergleich zum nationalen Durchschnitt, doppelt so hoch gewesen ist. Auch die Arbeitslosenquote bei den Jugendlichen, die in den Banlieues leben und sich im Alter von 15-24 befanden, lag bei 42%. Diese Zahl ist auch darauf zurückzuführen, dass die Chancengleichheit im Bildungssystem Frankreichs für Jugendliche maghrebinischer Herkunft erschwert wird. Unter den Jugendlichen, die nicht in Banlieues aufwachsen, fallen zu 20% durch, wobei unter den Heranwachsenden aus den ZUS die Prüfungen zu 32% nicht bestehen. Bei den Diplomabschlüssen blieben 2005 landesweit 25% Prozent ohne einen Abschluss, während bei den Jugendlichen unter den Einwanderern die Zahl bei 48% lag. Auch das Einkommen der Haushalte in den ZUS beträgt im Jahre 2005 nur 61% des nationalen Durschnitts. (vgl. Riedel 2007: 40ff) Die Folgen reichen von der sozialen Isolation, der fehlenden Zukunftsperspektive bis zum Leben am Existenzminimum.

Französische Vorstädte als sozialer Raum des Aufwachsens

Der Lebensraum in dem sie leben erscheint jedoch, aufgrund des sozialen Ausschlusses, als einziger Ort, an dem man sich zugehörig fühlen kann. Dabei ist für die Entwicklung das Sich-Erschließen-neuer-sozialer-Räume bedeutend. Nach Urie Bronfenbrenner eignet sich das Individuum in einem wechselseitigen Verhältnis seine Umwelt an, wobei er „Entwicklung als Ausweitung des Horizonts, in dem sich die Person neuen Umweltausschnitten zuwendet und sie mit bisherigen verbindet“ (Böhnisch 2003: 178) betrachtet. Wenn Jugendliche ausgegrenzt werden und ihnen die Teilhabe an sozialen Räumen verwehrt wird, wird die entwicklungsfördernde Aneignung neuer sozialer Räume unterdrückt. Die Moratorien der Kindheit und Jugend sind zum einen durch die beengten Wohnräume und zum anderen durch die fehlenden Freizeitaktivitäten in den ZUS eingeschränkt. Demnach gibt es für Kinder und Jugendliche auch in den Vorstädten Frankreichs weniger Erlebnis- und Erfahrungsräume, in denen sie sich frei entfalten können. Jedoch beginnt „Kinder-Öffentlichkeit […] mit der Freisetzung der körperlichen Bewegungen und der Überwindung der gesellschaftlich vorgeschriebenen Raumeinteilung. […] Sie brauchen Experimentiergelände, Plätze, ein offenes Aktionsfeld, in dem die Dinge nicht ein für alle Mal festgelegt, definiert, endgültig mit Namen versehen, unabänderlich durch Gebote und Verbote reglementiert sind“. (Negt 1989: 18)

Stigmatisierung aufgrund der kulturellen und sozialen Herkunft

Auch die Stigmatisierung durch die soziale Umwelt aufgrund der sozialen und kulturellen Herkunft und der daraus resultierenden Diskriminierung führt zu einer Entfremdung von der Aufnahmegesellschaft. Um auf das Thema der Stigmatisierung Jugendlicher aus den Banlieues aufmerksam zu machen, ist es von großer Bedeutung zu erwähnen, dass „in den französischen Medien und der Politik […] Immigration und Delinquenz immer stärker vermischt [werden]. Das eine wird immer häufiger mit dem anderen vermischt.“ (Tiemann 2004: 75) Die Diskriminierung von Ausländern und Franzosen mit Migrationshintergrund in französischen Medien wird meist weder von der Politik noch von anderen gesellschaftlichen Institutionen kritisiert. Beispielsweise schrieb Christophe Barbier, der Redaktionsleiter der Zeitschrift l´Express am 18.2.2009 folgendes:

„Die Franzosen aus den Tropen, die auf antillische Weise arbeiten und auf europäische Weise konsumieren wollen, möchten wir daran erinnern, dass der Acker gepflügt werden muss, wenn er anstelle von Phantasiefrüchten eine wirklich Ernte abwerfen soll, und dass die Antillen, wenn sie nicht zu Frankreich gehörten, im besten Fall eine amerikanische Touristenfabrik wären, im schlimmsten Fall ein von der Mafia geplagtes Steuerparadies oder ein trostloses Haiti, das von Milizen verwüstet wird, die nicht so gutmütig sind wie Yves Jego.“ (Souley 2010: 14)

An anderer Stelle erwähnte Georges Freches, der ehemalige Präsident des Parlaments der Region Languedoc-Rousillon, am 16.11.2006 über die französische Fussballnationalmannschaft in der Zeitung Midi Libre folgendes:

„In dieser Mannschaft sind neun von elf schwarz. Normal wären drei oder vier. Das würde die Gesellschaft widerspiegeln. Aber wenn es so viele sind, liegt das daran, dass die Weißen zu schlecht sind. Ich schäme mich für dieses Land. Bald werden es elf Schwarze sein.“ (ebd.: 112)

An diesen zwei Exempeln ist erkennbar, dass in der Medienlandschaft Frankreichs diskriminierende Aussagen von Persönlichkeiten aus den führenden Positionen vertreten werden und in der breiten Bevölkerung Frankreichs kaum Entsetzen auslösen. Diese Gleichgültigkeit gegenüber diskriminierenden Aussagen zeigt, dass Rassismus gegenüber ethnischen Minderheiten zu einer Normalisierung führen kann. „An diesem kritiklosen Stillschweigen angesichts des Rassismus sind gleichermaßen Frauen und Männer der Linken, der Rechten und der Mitte beteiligt, und selbst Humanisten und Verteidiger der Menschenrechte sind davon nicht ausgenommen.“ (ebd.: 114) Um auf die Stigmatisierung zurückzukommen, ist davon auszugehen, dass rassistische Äußerungen auf medialer Ebene gegenüber Jugendlichen maghrebinischer Herkunft, die in den Vorstädten Frankreich aufwachsen, zu einer Ausgrenzung und Marginalisierung innerhalb der französischen Gesellschaft führen.

Entfremdung und Ausgrenzung in Frankreich

Aufgrund der vorliegenden Erkenntnisse ist erkennbar, dass das Aufwachsen von Kinder und Jugendlichen in den Vorstädten Frankreichs zu einer Entfremdung und Ausgrenzung durch die französische Gesellschaft führt. Die Sozialisationsbedingungen zeichnen sich durch die meist fehlende Integration der Kinder und Jugendlichen in das französische Bildungssystem und der Stigmatisierung als nicht-integrierbare „Problemkinder- und jugendliche“ in den Medien. Die Auswirkungen der sozioökonomischen Faktoren, wie der fehlende Zugang zum Arbeits- und Wohnungsmarkt und der prekären Lebens- und Wohnverhältnisse in den Banlieues, verstärken die Wut und Frustration der in den Banlieues lebenden jungen Generation, die wiederrum in gewalttätigen Jugendrevolten kompensiert werden. Erst wenn die Politik und die gesellschaftlichen Institutionen die Heterogenität der französischen Gesellschaft annehmen und auf dieser Grundlage eine individuelle Integration der Kinder und Jugendlichen maghrebinischer Herkunft, die in den Vorstädten Frankreichs leben, bieten, ist gewährleistet, dass die enorme Kluft zwischen Städtlern und Vorstädtlern aufgebrochen und ein gemeinsames miteinander Leben möglich werden kann.

Literaturverzeichnis

  • Bourdieu, Pierre/ Passeron, Jean-Claude (1971): Die Illusion der Chancengleichheit. Stuttgart
  • Böhnisch, Lothar (2003): Pädagogische Soziologie. Eine Einführung. Weinheim und München
  • Gnade, Simone (2013): Problemgebiet Banlieue. Konflikte und Ausgrenzungen in den französischen Vorstädten. In: bpb vom 21.01.2013, o.S.    Verfügbar       unter: http://www.bpb.de/internationales/europa/frankreich/152511/problemgebiet-banlieue. Abgerufen am: 18.03.2013
  • Mancheno, Tania (2011): Raum und Gewalt. Eine geo-ethnologische Analyse der Pariser Banlieues. Hamburg
  • Negt, Oskar (1989): Kindheit und Kinder-Öffentlichkeit. In: Grüneisl, G./ Zacharias, W. (Hrsg.): Die Kinderstadt. Reinbek bei Hamburg
  • Riedel, Sabine (2007): Frankreichs Schwierigkeiten mit den Banlieue. In: APuZ vom 17.09.2007, S. 40-46
  • Schumann, Adelheid (2002): Zwischen Eigenwahrnehmung und Fremdwahrnehmung. Die Beurs, Kinder der maghrebinischen Immigration in Frankreich. Frankfurt am Main
  • Souley, Hassane (2010): Pluralismus und Integration. Ein kritischer Essay über die politisch-intellektuellen Führungsschichten und die Medien in Frankreich. In: Löffler, Roland/ Hohn, Stephanie (Hrsg.): Nationale Identität und Integration. Herausforderungen an Politik und Medien in Frankreich und Deutschland. Freiburg, S. 103-117
  • Tiemann, Sophia (2004): Die Integration islamischer Migranten in Deutschland und Frankreich. Ein Situationsvergleich ausgewählter Bevölkerungsgruppen. Berlin

Autor: Soziologiemagazin

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Ein Gedanke zu „Die Ausgrenzung Jugendlicher maghrebinischer Herkunft im urbanen Raum Frankreichs“

  1. Der Artikel der Autorin macht deutlich, wie umfassend und tiefgreifend das Leben von Minderheiten von ungleichen Lebenschancen bestimmt ist. Ich frage mich jedoch ob es in der Soziologie heutzutage noch moralisch richtig sein kann, einen so komplexen Phänomenbereich in Schuldige und Opfer einzuteilen. Wenn die Autorin etwa schlussfolgert, dass sich nur durch eine Veränderung der aufnehmenden Gesellschaft und ihrer Institutionen das gesamtgesellschaftliche Ziel eines gemeinsamen Miteinanders erreichen lässt, verkennt sie, dass diese Veränderungen nutzlos sind, wenn es nicht auch seitens der Minderheit eine Bereitschaft gibt, gemeinsame Institutionen anzuerkennen. Ein gemeinsames Miteinander ist eben nur gemeinsam möglich. Und Heterogenität darf nicht bedeuten, dass die aufnehmende Gesellschaft Strukturen tolerieren muss, die auf der Ungleichheit von Geschlechtern, Herkunft oder Religion fußen. Ob man die Tochter überhaupt allein vor die Tür lässt, ob man sie auf eine weiterführende Schule schickt oder lieber früh verheiratet, ob man dem Sohn den Respekt vor einer Lehrerin lehrt etc. pp. Dies sind keine Exklusionsstrukturen französischer Institutionen, sondern stehen im Zusammenhang mit identitätsgenerierenden Strukturen der Minderheit, deren Folgelasten ihren Teil zur Ungleichheit beitragen. Ignoriert man diese durchaus hartnäckigen Strukturen, dann betreibt man eine Viktimisierung und wird der Beschreibung der ungleichen Lebenschancen von Minderheiten weder soziologisch, noch moralisch gerecht.

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