Augmented Space – Augmented Reality: Technologischer Wandel – Gesellschaftlicher Wandel?

Von Claas Pollmanns

Soziale Umbrüche und Gesellschaften im Wandel – so das Thema unserer Blogreihe. Für die Generation der Digital Natives gab es nie ein Leben ohne Internet – es war schon immer da. Das Internet wirkt sich dabei weitreichend auf unsere Gewohnheiten und die Art und Weise aus, wie wir leben. Das Social Web ist nur eine von vielen Erscheinungen, wie sich der Alltag durch den Zugang zum Internet verändert. In den letzten fünf Jahren hat sich durch technologischen Fortschritt ein weiteres Tor geöffnet, welches sich als ein „mobile user paradigm“ beschreiben lässt und die Ortsgebundenheit des PC auflöst (Manovich 2004: 225). Mobiles Internet, mobile Endgeräte wie Smartphones oder Tablets und neuerdings Google Glass sind als Schlüsselelemente dieses technologischen Wandels zu betrachten. Und wie die meisten technologischen Errungenschaften in der Menschheitsgeschichte wird auch dieser Fortschritt gesellschaftliche Verhältnisse verändern. Aber was passiert hier und wie lässt sich das Beobachtete einordnen? Einige Diskussionsanregungen und Fragen.

 

Augmented Space

In seinem 2004 erschienenen Artikel lieferte Medientheoretiker Lev Manovic eine Vorschau auf unsere heutige Gegenwart und prägte die Idee des „Augmented Space“: Der Raum, in dem wir uns bewegen, wird dabei mit verschiedenen „Layern“ von dynamischen Informationen überzogen, die lokalisiert und personalisiert für jeden Nutzer sind (Manovich 2004: 219). Unter den Layern können wir uns heute zum Beispiel verschiedene soziale Netzwerke oder andere Programme vorstellen, welche mit lokalisierten (dank GPS) und personalisierten Informationen arbeiten, auf welche der Nutzer mittels mobiler Geräte zugreifen kann. Hierbei wird die raumzeitliche Abhängigkeit des Individuums weitestgehend aufgebrochen und das Konzept der Zeitgeografie – die Verankerung des Individuums an einen konkreten Ort zu einer bestimmten Zeit – verliert seine Bedeutung (vgl. Giddens 1997). Orts- und zeitungebundene Kommunikation mit Personen, Zugang zu Informationen zu jeder Zeit von jedem Ort aus ist heute möglich und alltäglich. Was zunächst nach einer praktischen Entwicklung für die persönliche Entwicklung klingt, hat jedoch weitere Folgen: Wer hat noch nicht beobachtet, wie das Smartphone ständiger Begleiter und Hauptinteraktionsobjekt von Bekannten (oder von einem selbst) geworden ist.

Soziales Leben

Soziologisch gesprochen heißt dies, dass der Raum, in dem wir uns bewegen und den wir bewohnen, mehr und mehr personalisiert und privatisiert wird (Bull 2007: 4). Je stärker wir jedoch unseren privaten Raum mit privater Kommunikation und abgestimmten Informationen aufwärmen, desto menschlich kälter wird auch die tatsächliche Umwelt, in der wir uns aufhalten (ebd.: 7), so der Medienwissenschaftler Michael Bull. Sichtbar wird dieser „Urban Chill“ (ebd.), wenn die Anonymität der Städte durch Kopfhörer und gesenktem Blick auf das Smartphone spürbar wird. Die „Atmosphäre der Städte“ (Löw 2008: 42f.) verändert sich im Zuge der grenzenlosen Vernetzung – jeder versinkt in seiner eigenen ‚Wolke‘, in der die tatsächliche Umwelt nur noch Substrat für rudimentäre Interaktionen ist.

Ist diese Entwicklung also ein weiterer Schritt in eine „atomisierte Gesellschaft“ (Pietschmann 2009)? Einer Gesellschaft, in der jeder für sich strebt und die Erfahrung oder zumindest das Gefühl von „Einheit“ und „Ganzheit“ immer seltener wird? Oder kann die neue Technologie nicht vielleicht auch Motivation und Chance für andere Formen der Vergemeinschaftung sein?

Konsum

Mit der digitalen Erweiterung des Raumes erfahren wir unsere Umgebung, speziell die der Stadt, nicht mehr wie der Flaneur bei Charles Baudelaire oder Walter Benjamin als ziellos umherstreunender Beobachter des städtischen Lebens, der in der Menge zu Hause ist. Jeder Schritt (zumindest besteht dazu die Möglichkeit) ist nun planvoll und kann mit unzähligen Informationsquellen hinterlegt werden. Die Frage stellt sich, was wir mit diesen Informationen anfangen und wofür wir sie sinnvoll einsetzen können. Heute haben wir die Möglichkeit, ergänzende Informationen über Produkte zu erlangen, indem wir mit mobilen Endgeräten die Barcodes scannen. Preise, Herstellungsprozesse, Inhaltsstoffe oder verbaute Materialien werden so überprüfbar und das Problem unvollständiger Informationen auf dem Markt wird fast beseitigt. Ein nahezu vollständig transparenter Markt, auf dem der Vorteil beim Konsumenten liegt und nicht beim Produzenten?

Kontrolle

Nun liegt es nahe, dass mit dem ständigen Zugriff auf Informationen durch das Individuum auch die umgekehrte Richtung der Informationsabfrage möglich ist. Die Sammlung und Speicherung von persönlichen Daten, die Kombination von verschiedenen Informationen und lokalisierten Standortabfragen lässt hier schnell die Verbindung zu Michel Foucaults „panoptischer Gesellschaft“ (1994) aufkommen, in der jegliches Handeln überprüfbar und kontrollierbar ist. Im Kleinen passiert dies, wenn geteilte Daten aus unterschiedlichen Informationsquellen kombiniert werden wie dies bei den inzwischen eingestellten Internetseiten www.pleaserobme.com oder girlsarroundme.com geschah. Die Diskussion zur Relevanz und zu den Gefahren von öffentlich zugänglichen Daten wurde dadurch – wieder einmal – aufgeworfen. Im großen Stil passiert dies, wenn Staaten jene Daten nutzen, um eine Überwachung ihrer Bürger zu installieren, was man derzeit vor allem mit dem Stichwort „PRISM“ verbindet. Ist der transparente Mensch also bereits Wirklichkeit? Wie wird sich dies auf unsere Lebensweise auswirken, wenn Foucaults Distopie zur Realität wird und wie weit sind wir davon noch entfernt?

Augmented Reality

Von der Idee des „Augmented Space“ von Manovic (2004), in der nur Informationen den Raum ergänzen, ist es nicht weit zur Idee einer „Augmented Reality“, in der virtuelle Inhalte in die Sicht der realen Welt integriert werden. Wenn auch die Technologie momentan noch nicht serienreif ist, wird sie dies in naher Zukunft vermutlich sein. Derzeit gibt es bereits Möglichkeiten, mit dem Blick durch die Handykamera ergänzende Informationen aus verschiedenen Datenbanken zu erlangen. Google Glass ist sicherlich auf einem guten Weg dahin, diese Technologie massentauglich zu machen. Wir bewegen uns also nicht nur mehr in einer gebauten Umwelt, sondern digitale und materielle Welt verschmelzen in unserer Wahrnehmung. Die menschliche Wahrnehmung wird damit erweitert und neue Räume von Kommunikation und Interaktion werden erschaffen. Nicht zuletzt müssen wir uns daher (wieder) fragen, was wir unter dem Begriff der Realität überhaupt fassen können und in welchem Umfang dies Einfluss auf uns hat. Mit Verschmelzung von digitaler und materieller Welt stellt sich auch die Frage: Wie verstehen wir das Subjekt, welches in dieser hybriden Welt lebt? Führt diese Realität zu einem hybriden Subjekt, welches nicht mehr trennbar von seiner digitalen Identität wird?

Technologischer Ausblick?

Fügen wir ein wenig Science-Fiction hinzu (oder eben auch nicht so viel), so können wir mit dem Humangeografen Nigel Thrift ein interessantes Zukunftsbild malen: „there is every reason to believe that we are only at the very start of developments of embodied technologies” (Thrift 2005: 247). Mit diesen „embodied technologies“ in Kombination mit „Augmented Realities“ werden wir in der Lage sein, die Grenzen der menschlichen Wahrnehmung nicht nur zu erweitern, sondern auch zu überschreiben (ebd.), um komplett individualisierte Realitäten wahrzunehmen. Teilen wir dann noch eine gemeinsame Realität mit den Menschen um uns herum? Müssen wir den philosophischen Konstruktivismus, der die Welt als von jedem Individuum anders wahrgenommen betrachtet, durch diese Entwicklung überdenken?

Wohin also?

Dieser Artikel soll aufzeigen, dass sich der derzeitige technologische Wandel auf unsere gesellschaftlichen Gewohnheiten auswirken wird. Es bleibt schlussendlich offen, welche Rolle die Soziologie in der Beantwortung der Fragen haben wird, welche Dinge sich genau verändern – deutlich wird jedoch, dass es viele Ansatzpunkte für soziologische Neugier gibt, die es auszuleben gilt.

Literaturverzeichnis

Bull, Michael (2007): Sound Moves. iPod Culture and Urban Experience. London: Routledge.

Foucault, Michel (1994): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Giddens, Anthony: Die Konstitution der Gesellschaft. 3. Auflage, Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Löw, Martina (2008): The Constitution of Space: The Structuration of Spaces Through the Simultaneity of Effect and Perception. In: European Journal of Social Theory, Vol. 11, No. 1, S. 25-49.

Manovich, Lev (2004): The Poetics of Augmented Space. Online unter: http://www.alice.id.tue.nl/references/manovich-2006.pdf (18.07.2013).

Pietschmann, Herbert (2009): Die Atomisierung der Gesellschaft. München. C.H. Beck.

Thrift, Nigel (2005): Beyond Mediation. Three New Material Registers and Their Consequences. In: Daniel Miller (Hrsg.): Materiality. Durham: Duke University Press, S. 231-254.

 

Autor: Soziologiemagazin

Das soziologiemagazin e.V. ist ein studentisch-nachwuchswissenschaftliches Projekt, in dem Studierende und Absolvent_innen aus dem deutschsprachigen Raum ehrenamtlich arbeiten und neben dem Soziologiemagazin (kostenloses eJournal), einen soziologischen Wissenschaftsblog, einen YouTube-Channel und tägliche Infos in den Social Media herausgeben. Zu unseren Call4Papers können Beiträge für das Soziologiemagazin eingereicht werden, die wir gemeinsam mit unserem Wissenschaftlichen Beirat zur zitierfähigen Veröffentlichung auswählen und betreuen.

3 Gedanken zu „Augmented Space – Augmented Reality: Technologischer Wandel – Gesellschaftlicher Wandel?“

  1. „Mit diesen „embodied technologies“ in Kombination mit „Augmented Realities“ werden wir in der Lage sein, die Grenzen der menschlichen Wahrnehmung nicht nur zu erweitern, sondern auch zu überschreiben (ebd.), um komplett individualisierte Realitäten wahrzunehmen. Teilen wir dann noch eine gemeinsame Realität mit den Menschen um uns herum?“

    Was sollte sich denn mit embodied technologies noch ändern? Denn bereits jetzt nimmt jeder Mensch eine kompett individualisierte Realität wahr. Aufgrund der operativen Geschlossenheit des Gehirns war das bereits immer so. Keine Perspektive eines Menschen auf die gemeinsam geteilte Welt ist vollkommen identisch mit der eines anderen Menschen. Richtig ist, dass Technik dieses Problem noch verstärkt anstatt es zu lösen. Doch genau aus diesem Problem gewinnt die Soziologie ihre Existenzberechtigung: wie kann es zu einer Handlungskoordination kommen, wenn das Erleben der beteiligten Menschen beständig droht auseinander zu driften? Mit jeder technischen Innovation wird letztlich nur dieses alte Problem unter neuen technischen Rahmenbedingungen neu gestellt.

  2. zur Handlungskoordination brauchen menschen soziologie nicht, darin kann ihre existenzberechtigung nun nicht liegen. gehandelt wurde und wird ja immer, ob mit oder ohne (weitaus häufiger) soziologischem wissen. die klärung der frage ob es intersubjektivität gibt oder nicht ist praktisch gesehen völlig irrelevant, es sei denn handlungen sollen retrospektiv analysiert werden…

  3. @ Meta

    Im Prinzip würde ich zustimmen, dass es zur Handlungskoordination keine Soziologie braucht. Es geht auch nicht darum, dass dies geschieht, sondern wie. Wie es Menschen gelingt trotz unterschiedlichen Erlebens ihre Handlungen in Bezug aufeinander abzustimmen, beschreibt ja zunächst nur ein Problem und bestimmt in keiner Weise schon im Voraus mögliche Lösungen, die Menschen dafür finden. Eben so wenig wird damit die Annahme nahe gelegt, dass es so etwas wie Intersubjektivität gibt – speziell wenn man von der operativen Geschlossenheit psychischer Systeme ausgeht. Trotzdem ist es für die Beantwortung der klassisch soziologischen Fragestellung, was Gesellschaft zusammen hält, nicht völlig irrelevant ob Menschen mit oder ohne Annahmen über das Erleben des Kommunikationspartners handeln.

    Im Übrigen, was macht denn die Soziologie anderes als Handlungen retrospektiv zu analysieren? Eben das geschieht nicht völlig zweckfrei, sondern immer im Hinblick auf eine bestimmte Frage- oder Problemstellung. Wenn es das nicht, was der Soziologie ihre Funktion geben könnte, würde mich mal interessieren, worin Du die Aufgabe der Soziologie sehen würdest?

Kommentare sind geschlossen.