Gesellschaft als Labor

In den nächsten Wochen werde ich diesen Blog dazu nutzen, einige meiner Wege nachzeichnen und dabei exemplarisch Themen aufgreifen, die mir wichtig sind. Der Blog stellt gleichsam eine Klammer für Erfahrungen dar und ist eine gute Gelegenheit, „mit fremden Gehirnen zu denken“ – wenn es stimmt, was man so über Soziale Medien, Schwarmintelligenz und so weiter sagt.

Dabei verfolge ich ein Ziel: Mit dieser Blog-Serie möchte ich pars pro toto die Potenziale einer „Soziologie für die Öffentlichkeit“ ausloten. Im ersten Beitrag stelle ich mir daher übergreifend die Frage, ob und wie die Soziologie ihren Gegenstandsbereich Gesellschaft, als „Labor“ betrachten kann.

Das hat zunächst einen biografisch-pragmatischen Grund. Ich arbeite an der höchstgelegenen Hochschule Europas, der Hochschule Furtwangen (Noch nicht einmal ironisch gemeintes Motto: „Studieren auf höchstem Niveau“). Die HFU entstand aus der Uhrmachertradition des Hochschwarzwaldes und pflegt bis heute sowohl eine außergewöhnliche Innovationskultur als auch eine besonders intensive lokale und regionale Vernetzung mit Unternehmen (viele davon Weltmarktführer in Branchen, die die meisten von uns nicht kennen aber benötigen).

Gerhard Schröder (Bundeskanzler a.D.) formulierte es am 25. April 2005 auf dem Berliner Forum Wissenschaft und Innovation der Friedrich-Ebert-Stiftung auf seine Art: „Das enge Tal im Schwarzwald [ist] buchstäblich vollgestopft mit dem, was wir ‚Hidden Champions‘ nennen, die in vielen Branchen Weltklasse anbieten, von der Steuerungstechnik bis zur Feinmechanik. Viele dieser Unternehmen sind übrigens Ausgründungen von Studenten der Hochschule Furtwangen (…) In Furtwangen lebt bis heute also jener Geist des fleißigen Tüftelns, herrscht eine Mentalität der Standfestigkeit und existiert ein Glaube an die eigene Wettbewerbsfähigkeit.“ Der Rest war politische Parole.

Nun eignet sich das Furtwangen-Valley aber auch noch für mehr: Fragen, die gesamtgesellschaftlich zunehmend Bedeutung gewinnen (Demografie, Energie, Mobilität, Lebensqualität etc.), können hier bereits seismografisch erforscht werden. Indem ich in diesem Umfeld penetrant von „Gesellschaft als Labor“ sprach, konnte ich mich auch Nicht-SoziologInnen vor Ort (immerhin die Mehrheit der Bevölkerung und der KollegInnen!) einigermaßen verständlich machen und die Akzeptanz der Soziologie als Disziplin vor Ort stärken. Das geht inzwischen soweit, dass die Presse den „Wandel der Hochschule hin zu den Gesellschaftswissenschaften“ nicht nur begrüßt, sondern einfordert.

Nach und nach gelang es tatsächlich, dieses „Labor“ – trotz seiner Unsichtbarkeit – mit Ressourcen auszustatten und sogar in einem „Modulhandbuch“ für einen Studiengang zu verankern, so dass ich nicht länger neidisch auf die mit Technik vollgepackten Labore meiner naturwissenschaftlichen KollegInnen blicken musste.

Ein unsichtbarer Gegenstand in einem unsichtbaren Labor

Aber wie arbeitet es sich in einem unsichtbaren Labor mit einem unsichtbaren Gegenstand? André Kieserling hat einmal behauptet, moderne Gesellschaften seien etwas Abwesendes, sie glänzten durch „Omniabsenz“. Dadurch gewöhne man sich an den Gedanken, dass „man die Gesellschaft nicht wahrnehmen kann, und man beginnt, einzusehen, dass man der Unterstützung durch Theorien bedarf, wenn man sie gleichwohl bestimmen will“ (Das Ende der guten Gesellschaft. In: Soziale Systeme, Heft 1, S. 177-191, 2001).

Gesellschaft wird also erst durch Theorie sichtbar? Je nach theoretischem Referenzrahmen liegt diese Deutung nahe. Dieser Sichtweise steht jedoch ein Zugang gegenüber, der in Gesellschaft konkrete Gestaltungs(spiel)räume erkennt. Auf der Suche nach öffentlicher Anerkennung der Soziologie als Disziplin, macht es Sinn über Möglichkeiten nachzudenken, soziologische Kompetenzen in diese Spielfelder einzubringen.

Die damit verbundenen Entwicklungen verfolge ich gegenwärtig mit Spannung. Denn es geht dabei um mehr als um die ‚holzschnittartige’ Gegenüberstellung von Theorie und Praxis. Vielmehr steht ein neues Wissenschaftsverständnis – und damit auch ein neues Verständnis von Soziologie – auf dem Prüfstand. Es geht darum, häufiger „Soziologie im Außendienst“ zu betreiben, ohne dass sich dies in Feldforschung erschöpft (vgl. trotzdem dieses geniale Buch: Dellwig, Michael, Prus, Robert (2012): Einführung in die interaktionistische Ethnografie. Soziologie im Außendienst. Wiesbaden).

Gesellschaft als Labor ernst zu nehmen, heißt zunächst, häufiger im „Außendienst“ tätig zu sein. Den „Innendienst“ verrichten wir ja sowieso – und können ihn auch weiterhin verrichten. Es geht also um Wechselwirkung, nicht um Ersatz.

Reallabore als Experimentierfelder der Gesellschaft

Ein aktueller Referenzrahmen für diese Wechselwirkung von Innen- und Außendienst ist das Konzept der Reallabore. Es wurde von der Expertengruppe „Wissenschaft für Nachhaltigkeit“ mit durchaus politisch-normativem Unterton ausbuchstabiert. Ich möchte kurz die Idee der Reallabore skizzieren und dann nach der Rolle der Soziologie als „Betreiber“ dieser Labore fragen.

Reallabore sind Erprobungsräume der Gesellschaft, in denen Transformationsprozesse gezielt wissenschaftlich angeregt und begleitet werden. Ein Reallabor ist ein Setting von überschaubarer Größe oder überschaubarem Maßstab, innerhalb dessen Veränderungsprozesse stattfinden. Ziel eines Reallabors ist es, Ursachen und Wirkungen besser zu verstehen, Probleme frühzeitig zu erkennen und gemeinsam mit Betroffenen vor Ort Maßnahmen zu ihrer Lösung zu entwickeln. Reallabore verfolgen die Idee, „zusammen mit zivilgesellschaftlichen Anbietern sozialer Innovationen Experimente durchzuführen“. Diese Akteure können sich auf Städte und Regionen verteilen, auf Unternehmen – oder in den Hochschulen selbst sitzen (wenn man es gerne selbstreflexiv möchte).

In jedem Fall geht es um das Ko-Design und die Ko-Produktion des Forschungsprozesses mit Akteuren außerhalb der Wissenschaft. Reallabore stellen also einen experimentellen Rahmen dar, um in (ausgewählten Bereichen) „vom Wissen zum Handeln“ zu gelangen. Sie sind eine wissenschaftsgeleitete Unterstützung gesellschaftlicher Transformationsprozesse (vgl. auch: Groß/Hoffmann-Riem/Krohn: Realexperimente. Ökologische Gestaltungsprozesse in der Wissensgesellschaft. Bielefeld, 2005)

Beispiele für Reallabore, die anlässlich der Tagung „Wissenschaft für Nachhaltigkeit. ‚Reallabore’ als Erprobungsräume für Transformation“ am 27. September 2013 in Stuttgart diskutiert wurden, sind z.B. ein Reallabor für nachhaltige Stadtplanung (Kallang River Bishan-Ang Mo Kio Park Singapur) oder die Gemeinde Urnäsch als Reallabor für die Entwicklung von Energiestrategien im ländlichen Voralpengebiet der Schweiz.

In meinem eigenen Arbeitsumfeld an der HFU versuchen wir konsequent die besondere Lage der Stadt Furtwangen als Reallabor nutzbar zu machen. Rund um zwei Kern-Projekte – „SONIA – Soziale Inklusion durch technikgestützte Kommunikationsangebote im Stadt-Land-Vergleich“ sowie „Nachhaltigkeit im Gepäck“ – laufen Fragen nach der Topografie des Peripheren zusammen: die Frage nach dem guten Leben im Alter, einer Archäologie lokalen Nachhaltigkeitswissens, Möglichkeiten zur Verbesserung der räumlicher Mobilität („Bürgerbus“) oder Aktivitäten freiwillig Engagierter der lokalen „Bürgerstiftung“, die (in der Stadt mit der niedrigsten Arbeitslosenquote Deutschlands!) eine „Tafel“ gründen möchten.

Ich sehe eine große Zukunft für derartige integrative und experimentelle Ansätze. Denn die dabei relevanten Phänomene lassen sich gerade unter soziologischer Prämisse beobachten, anregen und begleiten. Soziologie leistet dabei nicht nur einen Beitrag im (sonst eher üblichen) Sinn einer „Begleitforschung“, sondern gibt den Referenzrahmen für langfristige und grundlegende gesellschaftliche Re-Framing-Prozesse vor. Dieses Potenzial ist längst noch nicht ausgeschöpft. Daher hoffe ich, dass sich in Zukunft mehr und mehr Reallabore entwickeln, in denen SoziologInnen die treibende Kraft sind, anstatt nur Begleiter.

Experimentelle Gesellschaft – Potentiale und Gefahren

Noch gibt es zu wenig Erfahrungswissen darüber, wie diese Reallabore funktionieren. Damit werden sie letztlich reflexiv wieder zum Gegenstand der Soziologie. Der kommende Workshop „Experimentelle Gesellschaft – das Experiment als wissensgesellschaftliches Dispositiv“ fragt daher ausgehend von der „Bedeutungsvielfalt der Idee des experimentellen Handelns“, ob im Experiment ein gesellschaftliches Dispositiv (im Foucault’schen Sinne) angelegt ist und wie sich dies möglicherweise auswirkt. Grundlegend hierbei ist die Offenheit und Ambivalenz experimentellen Handelns. Aus dem CfP: „Wo immer es um die Erkundung des Neuen geht, verspricht die experimentelle Rahmung, die Spannung zwischen Wissen und Nichtwissen, zwischen Erwartung und Enttäuschung, zwischen Gewinn und Verlust, zwischen Erleben und Versagen letztlich konstruktiv umzusetzen.“ Kritisch anzumerken ist dabei zweierlei.

Erstens macht auch die schönste Idee zu einem Reallabor oder einem Gesellschaftsexperiment nicht automatisch deutlich, woher die Zielsetzungen für die darin angelegten Transformationsprozesse kommen. Im schlimmsten Fall kann es hierbei zu einer Instrumentalisierung genau derjenigen Akteure kommen, für die und mit denen das „Realexperiment“ durchgeführt wird. Bei der Frage nach den Grenzen solcher „Realexperimente“ ist an die vielen (durchaus auch kollektiven) „Menschenexperimente“ zu erinnern. Forschungsinteressen sind nicht selten von Ideologien überlagert – gerade auch die Verbesserungsversuche der Gesellschaftswissenschaften können sich ins Gegenteil umkehren. (vgl. dazu: Griesecke, Birgit et al.: Kulturgeschichte des Menschenversuchs im 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M., 2009).

Zweitens gibt es einen schleichenden Übergang vom Experiment zur Demonstration. Die Demonstration sieht zwar aus wie ein Experiment, unterscheidet sich aber von diesem darin, das schon vorher sichergestellt wurde, dass ein sozial oder politisch gewolltes Ergebnis herauskommt. Bei näherem Hinsehen entpuppen sich damit viele Prozesse (z.B. partizipativer Bürgerbeteiligung) als Demonstration eines schon feststehenden Ergebnisses. (vgl. Harry Collins & Trevor Pinch: Der Golem der Technologie. Wie unsere Wissenschaft die Wirklichkeit konstruiert)

Alter Wein in neuen Schläuchen?

Trotzdem halte ich daran fest, dass die Idee der „Reallabore“ im Hinblick auf eine „Soziologie für die Öffentlichkeit“ eine mehr als charmante Idee ist. Einer Idee allerdings, die so neu nicht ist. Gab es nicht schon einmal so etwas wie soziologische Aktionsforschung? (vgl. Fuchs, Werner Empirische Sozialforschung als politische Aktion. In: Soziale Welt. Zeitschrift für sozialwissenschaftliche  Forschung und Praxis. Jg. 21. H. 1, S. 1-17, 1970).

Oder „natürliche Experimente“, bei denen durch vielfältige Interventionen auf einen Ausschnitt der Gesellschaft eingewirkt werden sollte, um zu dauerhaften Veränderungen der Umweltwahrnehmung und des eigenen Verhaltens zu gelangen? (vgl. Bronfenbrenner, Urie: Die Ökologie der menschlichen Entwicklung. Natürliche und geplante Experimente. Stuttgart, 1981)

Gerade für Hochschulen für angewandte Wissenschaft (HAWs) ist die Idee der Reallabore eigentlich nicht neu, denn sie zeichnen sich durch eine stark institutionalisierte Transferorientierung aus. Neu ist hingegen, dass mit der Idee der Reallabore nicht nur der Transfer des Wissens aus der Hochschule in die Region erfolgt, sondern auch der Wissenstransfer von der Region in die Hochschule betont wird.

Hier zeigt sich am deutlichsten die Notwendigkeit eines neuen Wissenschaftsverständnisses. Dieses neue Wissenschaftsverständnis ist auch Thema der Konferenz „Zwischen den Welten: Sozial- und Raumwissenschaften auf dem Weg zu einem neuen Transferverständnis“ am WZB im Dezember 2013. Ich würde es so beschreiben: Wer Gesellschaft als Labor betrachtet, begibt sich in eine Haltung des Lernens und Zuhörens. Unpassend ist hingegen eine Haltung des (Be-)Lehrens und Verkündens. Damit wird zugleich eine Schwierigkeit der Reallabore deutlich: Wissenschaft, die „snobistisch“ auftritt (d.h. ihre Konstruktionen 2. Ordnung über die Konstruktionen 1. Ordnung der „Beforschten“ stellt), wird es an Akzeptanz genau dort fehlen, wo sie vermehrt gesucht wird: in der Öffentlichkeit.

Die Anwesenheit der Gesellschaft als Chance einer Soziologie für die Öffentlichkeit

Gesellschaft ist nicht ab-, sondern anwesend. Zumindest dann, wenn eine Haltung eingenommen wird, die konkrete Anwendungsbezüge soziologischen Wissens betont. Eine derartige Orientierung an konkreten Zielen und realen Problemen, die im besten Fall auch die Ideen der Forschungspartner vor Ort erkennbar ernst nimmt, beinhaltet ein gewaltiges, bislang kaum genutztes Potenzial einer „Soziologie für die Öffentlichkeit“.

In dem Maße, in dem die inter- und transdisziplinäre Offenheit der Disziplin steigt und diese zudem eine Transformationsorientierung einnimmt, wird sie in der Öffentlichkeit nachgefragt werden, schon allein deshalb, weil dann ihre Anschlussfähigkeit steigt. Die Lernkurve für alle diejenigen, die „leidenschaftlich“ Soziologie betreiben (also auch für mich selbst) besteht dabei jedoch in der Notwendigkeit, mit einer Paradoxie umzugehen: Je weniger wir Wert darauf legen, unsere Arbeit monodisziplinär als „Soziologie“ zu etikettieren, desto eher wird es eine „Soziologie für die Öffentlichkeit“ sein. Es kommt darauf an, was wir wollen.

3 Gedanken zu „Gesellschaft als Labor“

  1. Ihre Ideen zu einer öffentlichen oder öffentlichkeitsbezogenen Soziologie, die Unterstützung von Zielen wie „Inklusion“ oder „Nachhaltigkeit“ mögen begrüßenswert sein, vielleicht auch in Form von „Reallaboren“. Allemal wäre es kaum hoch genug zu schätzen, wenn sich die Soziologie neben ihrer unerlässlichen Theoriefundierung und Epistemisierung stärker als eine auch (!) anwendungsorientierte, ‚anwendungsfähige‘ Disziplin verstehen würde. Wie Sie dabei jedoch die Gesellschaft als (wie auch immer zu verstehendes) Ganze „anwesend“ haben wollen, bleibt mir rätselhaft. Sie geben doch mit Ihrem Ansatz gerade der Deutung von Kieserling recht, dass Sie stets in einem Ausschnitt dieser Gesellschaft operieren, nur ausschnittsartige Beobachtungen machen können und stets die blinden Flecke Ihres Ausschnitts perpetuieren.

    Die Relativität Ihres Blicks bestätigt denn auch auf humorvolle Weise mein Vorredner ‚von oben‘, der Beobachter aus Dissentis.

    Beste Grüße also ‚von unten‘, aus Norddeutland nur wenige MüM. Aber auch hier sind originelle Einsichten möglich.

  2. Hallo Herr Etzemüller,
    bin Ethnologe an der LMU und finde die Idee der Reallabore spannend und zeitgemäß.
    Arbeite selbst in und an einem (Transition Town Initiative), ohne den Begriff bisher füllen zu können. Könnten Sie mir mit Literatur dazu helfen? Vielleicht können wir uns auch mal treffen, bin am Freitag/Samstag in München.
    Beste Grüße Ulrich Demmer
    Institut für Ethnologie-LMU

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