Studierkulturen

Im Westen nichts Neues – jedenfalls nicht zum hiesigen Studieren aus meiner Sicht. Es gab zwar einiges zum Dozieren, aber keine Kapazitäten zum Beobachten, weil meine Beobachtungsgabe infolge einer sitzungstechnisch erforderlichen Stippvisite in Karlsruhe und dem damit einhergehenden Zweifach-Jetlag (der sich übrigens nicht aufhebt, sondern spätes Einschlafen mit frühem Aufwachen kombiniert) auf ein Minimum reduziert war. Aus diesem Grund berichte ich heute – etwas akademischer – über den Forschungszusammenhang, in dem meine im letzten Blog-Eintrag geäußerten persönlichen Betrachtungen zum Studieren stehen:

In der Begegnung mit Studierenden machen wir Dozenten ja häufig die Erfahrung, dass „die Uni“ nur einen geringen Teil ihres Alltags darstellt und das Studium in seiner Bedeutung für sie nicht selten hintan steht. Äußerungen wie ‚Ich kann nächste Woche leider nicht zum Seminar kommen, da muss ich arbeiten’ oder auch ‚Ich kann mich am Wochenenden nicht mit meiner Arbeitsgruppe treffen, weil ich da nachhause fahre, um Fußball zu spielen’, deuten wir zumeist als mangelnde Studienorientierung, als Dezentralisierung des Studiums heute.

Dem stehen Befunde gegenüber, dass junge Leute heute ihr Studium mit großer Ernsthaftigkeit und zum Teil unter hohem Druck absolvieren. Und auch sie selber wissen häufig in keiner Weise von einem Laissez faire zu berichten. Dies hat damit zu tun, dass sie sich in einem Spannungsfeld bewegen, das für nicht wenige Studenten zur Zerreißprobe wird.

Studieren als Zerreißprobe?

Der Hochschulabschluss ist heute für viele berufliche Positionen Conditio sine qua non und hat damit seine Funktion als Selektionskriterium verloren. Gleichzeitig leben Studenten in einer Gesellschaft, in der entsprechend der Logik der „Aufmerksamkeitsökonomie“ (Georg Franck) eine positive Selbstdarstellung nicht nur erstrebenswert, sondern unerlässlich erscheint. Nur wer den Lebenslauf mit Besonderheiten ausstattet, scheint interessant für mögliche Arbeitgeber zu sein. Nur eine irgendwie ‚besondere’ (d.h. nur ja keine Normal-)Biographie mit Auslandsaufenthalten, extravaganten Praktika und außergewöhnlichen Hobbys und Nebenjobs, in denen in der Arbeitswelt gefragte Kompetenzen wie Teamfähigkeit, interkulturelle Kommunikation, Sozialkompetenz usw. eingeübt werden, erscheint erfolgversprechend.

Entgegen den ursprünglich damit verbundenen Absichten einer Mobilitätserhöhung erweisen sich die Bologna-Strukturen dafür aber allem Anschein nach nicht förderlich. Denn das Zeit-Korsett der ECTS-Punkte, die sowohl Lehre als auch Prüfungsleistungen strukturieren sollen, sowie allgemein verbindlich definierte Standards des Kompetenzerwerbs entwickeln eine Tendenz zur Vereinheitlichung. Und mit der Modularisierung der Studiengänge ist eine Verschulung des Studiums zu beobachten. Begriffe wie „Stundenplan“ und „Hausaufgaben“ haben Einzug in den universitären Sprachgebrauch gefunden und auch das Studieren selber wird dem schulischen Lernen immer ähnlicher. Die Studienordnung bildet dergestalt einen Rahmen, innerhalb dessen Leistungen immer stärker extrinsisch motiviert erbracht werden muss. Dieser Wandel vom Studieren zum Lernen, für das die Lehre klare Strukturen vorgibt und auf Kompetenzaufbau hin ausgerichtet ist, findet sich nicht nur in praxisorientierten und traditionell stärker regulierten Studiengängen wie z.B. denen der Ingenieurswissenschaften, sondern zieht sich bis in die Geistes- und Sozialwissenschaften hinein (vgl. Kühl, 2012: 63).

Auch unter Abziehung der medial erzeugten Alarmstimmung ist der ‚Stress’, von dem Studierende berichten, ein Hinweis auf diese Zerreißprobe – wobei mit Antiprokrastinations-Trainings und Coachings individuell zu beheben versucht wird, was strukturell verursacht ist. Was ist wichtiger: Den Bachelor in Regelstudienzeit abzuschließen, ein Auslandssemester einzuschieben oder vielleicht doch die Vorlesung zu besuchen, die man wirklich gerne hören will, ohne ECTS dafür zu bekommen? Wen wundert’s, dass Studierende am liebsten alles unter einen Hut bekommen – und zugleich noch ihre neu gewonnene ‚Freiheit’ nach Verlassen des Elternhauses genießen wollen.

Die Variation von Gestaltungsweisen und die Bandbreite von Bewältigungsformen sind Gegenstand unserer Forschung zu Studierkulturen.

Dieses Erkenntnisinteresse war uns zunächst Anlass, die alltägliche Lebensführung Studierender in räumlicher (MyCampus) und zeitlicher (MyAgenda) Hinsicht zu untersuchen. Dabei gehen wir prinzipiell davon aus, dass der Erwerb zertifizierter Leistungsnachweise keineswegs erst unter Bologna-Bedingungen das Kernmerkmal von Studieren ist. An welcher Stelle diese Relevanz in der spezifischen Lebenswelt des einzelnen Studierenden rangiert, ist individuell jedoch höchst unterschiedlich. Die Universität setzt mit ihren infrastrukturellen und die Fakultäten setzen mit ihren formalen Vorgaben zwar jeweils spezifische Rahmenbedingungen; innerhalb derer allerdings keineswegs nur wir  Hochschul-Lehrende, sondern eben auch Studierende höchst individuell Relevanzen setzen. Das führt dazu, dass die Tages-, Wochen- und Semestergestaltung von Studierenden desselben Studiengangs, ja selbst bei identischem Stundenplan immense Unterschiede aufweist.

MyCampus

Übergreifend haben wir im Rahmen unserer Studie fünf studentische Campusnutzer-Typen aufgefunden, die sich u.a. dahingehend unterscheiden, welche Bedeutung sie dem Aufenthalt auf dem Campus beimessen. Während sich z.B. für den „College“-Typ mehr oder weniger das gesamte Leben auf dem Campus abspielt, nimmt der „Separator“ das Uni-Gelände als reinen Arbeitsort wahr, an dem er – allein oder in mit Kommilitonen – Arbeitsbögen bearbeitet, Referate vorbereitet und auf Prüfungen lernt, während sein Zuhause ausschließlich der Erholung dient und häufig auch ausschließlich dafür eingerichtet ist (vgl. Gothe & Pfadenhauer 2010). Höchst flexibel verhält sich demgegenüber der „Integrator“, der lebt und lernt, wo es gerade zweckdienlich ist, während ein „Homie“ nicht etwas das, was mit dem Studium zu tun hat, aber die Uni nach Möglichkeit meidet – und tatsächlich ermöglicht die Internetpräsenz und Skriptkultur mancher Studiengänge inzwischen faktisch ein Fernstudium, in dem aufgrund der ‚sozialen’ Medien allerdings allenfalls der – persönliche – Kontakt zu den Dozenten, aber nicht untereinander leidet. Die mit ‚Bologna’ einhergehenden Studiengangs- und -ortswechsel schließlich befördern den „Flaneur“ als einen Campusnutzer, der keineswegs neu ist – der nicht mehr oder nicht so richtig, jedenfalls nicht hier studiert, aber das Flair genießt und die Freundschaften pflegt, die ihn mit einem Uni-Standort verbinden.

Die Lebenswelt Studierender beschränkt sich also bereits in räumlicher Hinsicht keineswegs auf die Universität. Dies gilt ebenso in zeitlicher Hinsicht, wobei die Gliederung des Studienjahres in Semester und die Abfolge von Vorlesungs- Prüfungs- und vorlesungsfreie Zeiten im Verstande von „Zeitinstitutionen“ (vgl. Maurer 1992) einen strukturierenden Effekt haben, der typ-, studienfach- und kulturabhängig unterschiedlich ausgestaltet wird.

Neben dem Studium sind Studierende beispielsweise Mitglied in einem Verein, haben einen Freundeskreis, den es zu pflegen gilt, und sind Teil einer Familie und einer Arbeitswelt. Diese „kleinen sozialen Lebens-Welten“ (Honer 2011) stehen nicht selten in Konkurrenz zueinander. Wird das Studium beispielsweise durch einen Nebenjob finanziert, müssen die verschiedenen Lebenswelten in der alltäglichen Lebensführung in Einklang gebracht werden, d.h. z.B. der  Arbeits- und Veranstaltungsplan in zeitlicher, räumlicher und auch sozialer Hinsicht koordiniert werden.

MyAgenda

Zeigt unsere MyCampus-Studie, dass die alltägliche Lebensführung von Studierenden hinsichtlich der Campusnutzung deutlich divergiert, weisen die Befunde der Zeitbudgetstudie MyAgenda auf erhebliche Unterschiede hinsichtlich der Zeitverwendung Studierender hin (vgl. Enchelmaier 2011; Enchelmaier/Kunz 2012). Unterschiede im Lernaufwand sind nicht zuletzt auch in der Betrachtung über die Fakultäten hinweg signifikant: Aufgrund der Spannweite des Zeitaufwands für das Studium von 1 bis 140 (!) Stunden pro Woche in der besonders lernintensiven vorlesungsfreien Zeit sind Mittelwerte (die in der Vorlesungszeit offenbar tatsächlich um die mit Bologna gewünschten 40h liegen) hier von ausgesprochen begrenzter Aussagekraft.

Nur zum Teil lassen sich diese Unterschiede durch die Studiengangsstruktur (z.B. die Anzahl von Klausuren im Verhältnis zu anderen Prüfungsleistungen) sowie die unterschiedlichen Fachkulturen (und damit einhergehende Wissenschafts- und Lehrverständnisse) erklären. Zum anderen Teil kommen auch hier – neben Unterschieden der Lern- und Arbeitstypen – Differenzen in den Relevanzsetzungen zum Tragen. Empirisch können wir sozusagen Vollzeitstudierende, die den größten Teil ihrer Zeit für das Studium, d.h. den Besuch von Lehrveranstaltungen und selbst organisiertes Lernen aufwenden, von solchen Studierenden unterscheiden, die ihr Studium – nicht de jure, aber de facto – in Teilzeit ausführen: am KIT sind das immerhin knapp 30 Prozent.

Studentische Fach(schafts)kulturen

Mit diesen Befunden zu den Unterschieden der Campusnutzung und Zeitverwendung am KIT bewegen wir uns allerdings erst an der Oberfläche von Studierkulturen. Einen anderen Einblick gewinnen wir im Blick auf fach(schafts-)kulturelle Unterschiede am KIT:

So ist für Studierende der Wirtschaftswissenschaften neben dem Erlangen von Fachwissen das Organisieren des Studiums ein zentraler Studieninhalt. Ihren Studienaufwand unterziehen sie einer permanenten Kosten-Nutzen-Kalkulation im Hinblick darauf, das Studium möglichst effizient zu gestalten. Studienschwerpunkte und zusätzliche Leistungen wie Praktika oder ehrenamtliche Tätigkeiten wählen sie mit dem Ziel aus, sich bestmöglich für das Berufsleben zu qualifizieren. Diese Relevanzsetzung ist ein weitgehend geteilter Wissensbestand der studentischen Wiwi-Fachkultur. Dieses kulturspezifische Wissen vermitteln Studierende höherer Semester u.a. in von der Fachschaft gestalteten Medien. In Artikeln mit Titeln wie „How to Wiwi“ geben sie Newcomern Handlungsorientierungen bzw. Anweisungen über do’s and dont’s im universitären Alltag an die Hand. Kultur stiftend erweist sich aber auch die Orientierungsphase zu Beginn des Studiums: In ritualförmigen kommunikativen Handlungen wie dem gemeinsamen Feiern und Kampftrinken wird hier nicht nur situativ Gemeinschaft hergestellt. Mittels Teambildung und Spieldynamiken sowie mittels starker Symboliken wie einer eigenen Hymne ein Zusammenhalt erzeugt, der sich z.T. über das ganze Studium hinweg als stabil erweist.

Fachschaften mit ihren je spezifischen Arbeitsstilen und Feierkulturen sowie einer spezifischen Mediennutzung und -gestaltung entfalten also eine kulturprägende Wirkung. Im Unterschied dazu, dass sich Studierende der Wirtschaftswissenschaften gegenseitig über Praktikumsplätze und Einstiegsmöglichkeiten in den Beruf informieren, behandeln Physik-Studenten (vermutlich nicht nur am KIT überwiegend männlich) in ihren studentischen Fachorganen akademische Themen. So berichten sie etwa über Sommer Schools oder handeln die ethische Verantwortung des Forschers ab und vermitteln sich dergestalt bereits während des Studiums das Berufsbild des Wissenschaftlers.

Leerstelle Studierkulturen

Aber auch damit ist die Heterogenität der Studierendenschaft lediglich schlaglichtartig beleuchtet: Welche Rituale bilden sich aus, welche Traditionen entwickeln sich, welche Deutungsmuster und Orientierungen, welche Relevanzen und Prioritäten sind tatsächlich handlungsleitend? Dabei ist nicht nur organisationsspezifischen Besonderheiten, sondern standort- und ‚schulen’-spezifischen Unterschieden des Studierens auf die Spur zu kommen, die quer zu den Grenzen von Fächern und Disziplinen verlaufen.

Damit ist schließlich die Verbindung zu den von Karin Knorr Cetina (2002: 12) so genannten „Wissenskulturen“ aufgezeigt: Ihr zufolge entstehen „spezifische Kulturen […], wenn Bereiche der sozialen Welt sich voneinander separieren und sich über längere Zeiträume vorwiegend auf sich selbst beziehen“. Die Wissenschaft ist ihr zufolge prädestiniert für solche kulturellen Differenzierungen, die institutionell (z.B. durch Verfahren der Forschungsförderung, berufliche Karrieremöglichkeiten usw.) gestützt werden. Dergestalt bilden sich spezifische „Praktiken, Mechanismen und Prinzipien, die in einem Wissensgebiet bestimmen, wie wir wissen, was wir wissen“ (Knorr Cetina 2002: 11).

Hinsichtlich dieser als „epistemic cultures“ bezeichneten “internen Erkenntnisstrukturen eines Wissensbereichs“ haben die Prozesse der Integration, der Sozialisation, der Enkulturation, ebenso wie die der Desorientierung, der Marginalisierung, der Ausgrenzung noch wenig Beachtung gefunden. Wie werden Naturwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler, wie werden Geistes-, wie anders werden Sozialwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler ‚gemacht’? Wie lernen die Anwärterinnen und Anwärter, was kompetente Mitgliedschaft in der Wissenschaftsgemeinde heißt, die viel partieller und diffuser ist als es das Konzept der scientific community glauben lässt. Und zu was werden Studierende an Hochschulen ‚gemacht’, die gar nicht in die Wissenschaft wollen, sollen oder dort nicht Fuß fassen können? Darauf fokussiert unsere Frage nach „Studierkulturen“.

Literatur

Enchelmaier, Meike (2011): Zeit im Studium. Zeitinstitutionen, Zeitverwendung und Zeiterleben von Studierenden. Diplomarbeit an der Universität Landau

Enchelmaier, Meike; Kunz, Alexa Maria (2012): Zur Zeitverwendung von Bachelor-Studierenden in der vorlesungsfreien Zeit. In: Journal of New Frontiers in Spatial Concepts (4), S. 41–43.

Gothe, Kerstin/ Pfadenhauer, Michaela (2010): My Campus – Räume für die Wissensgesellschaft“? – Raumnutzungsmuster von Studierenden. Wiesbaden: VS

Honer, Anne (2011): Bausteine zu einer lebensweltorientierten Wissenssoziologie. In: dies.: Kleine Leiblichkeiten. Erkundungen in Lebenswelten. Wiesbaden: VS, S.11-2

Knorr Cetina, Karin (2002): Wissenskulturen – Ein Vergleich naturwissenschaftlicher Wissensformen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Kühl, Stefan (2012): Der Sudoku-Effekt. Hochschulen im Teufelskreis der Bürokratie ; eine Streitschrift. Bielefeld: Transcript-Verl (Science studies).

Maurer, Andrea (1992): Zeit und Macht. Wechselwirkungen, 14 (56): 22-25.

Pfadenhauer, Michaela/Enderle, Stefanie/Albrecht, Felix (2014): Cultures of studying under conditions of Big Science. In: Fischer, Martin/Langemeyer, Ines/Pfadenhauer, Michaela (Hrsg): Epistemic and Learning Cultures at the University of the 21st Century. Weinheim: Juventa (im Erscheinen)

6 Gedanken zu „Studierkulturen“

  1. Liebe Michaela,

    Eure Typisierung von studentischen Campusnutzer/innen lesend kommt mir eine weitere Figur in den Sinn, die mir persönlich in den letzten Jahren (zumindest gefühlt) sogar häufiger begegnet und die ich vorläufig vielleicht „die Gestrandeten“ nennen würde – nach meinem Eindruck eine überwiegend männlich besetzte Gruppe. Das geht selbstverständlich über die Dimension der Raumnutzung im engeren Sinne hinaus – für diese Studierenden, die (so meine empirische Privatevidenz) erkennbare Schwierigkeiten bei der Strukturierung von Arbeitsabläufen und auch der alltäglichen sozialen Interaktion mit Kommiliton/innen und Dozent/innen haben, bietet die Universität womöglich in der eigenen Wahrnehmung einen öffentlichen Rückzugs- und gewissermaßen biographischen Zwischenraum, der trotz der Bachelor-Reformen und jedenfalls in den geistes- und sozialwissenschaftlichen Studiengängen offenbar immer noch ein von den Normen und Standards der Lohnarbeitsgesellschaft abweichendes Verhalten ermöglicht weil relativ ungestraft lässt bzw. nur vergleichsweise weich und mittelbar sanktioniert (sorry an potenzielle Leser/innen, sehr langer Satz, und das ohne Zwischenüberschriften ;-). Es scheint mir, dass diese Studierenden nach herrschenden Sozialreformkriterien nur bedingt „beschäftigungsfähig“ sind und dies selber spüren bzw. auf entsprechende Signale hin die Universität als einen Nicht-Ort der Erwerbsgesellschaft nutzen – was selbstverständlich eine Täuschung und auch nur vorübergehend möglich ist, aber selbst unter den neuen, strikteren Regularien der Studienablaufplanung individuell möglichst lange auszudehnen versucht wird. Was wiederum individuell nachvollziehbar und legitim ist – aber eigentlich weitreichende institutionelle Fragen aufwirft. Mein Eindruck ist zum Beispiel, dass der psychosoziale Beratungsbedarf an unseren Hochschulen zunimmt und entsprechende Sensibilitäten und Aktivitäten zunehmend auch zu einer realistischen Arbeitsplatzbeschreibung von Universitätslehrenden gehört. Aber das ist dann schon wieder ein ganz anderes Thema.

    Herzliche Grüße nach Boston!

    1. Lieber Stefan,

      ich beobachte diesen Typus ebenfalls. Vermutlich hast Du da tatsächlich auch eine Fehlstelle in unserer Typologie markiert. In Anlehnung an die science & technlology studies könnte man sagen „non users also matter“, wobei ich aus meiner „Privatevidenz“ (wunderbarer Begriff, den ich mir sofort aneigne) nicht genau sagen kann, wie weit die Campus(nicht)nutzung reicht. Sie hängt vermutlich von der Tagesform ab, d.h. in Frustrationsphasen bleibt man(n) fern und steigt dann wieder ein, was relativ lange praktiziert werden kann, weshalb die Täuschung auch mindestens zu einer Lebensphasenlüge wird. Auf das Geschlecht hatte ich noch nicht geachtet, aber die Fälle, die mir im Kopf sind, sind tatsächlich männlich.

      Und in der Tat: die psychosozialen Beratungsstellen sind völlig ausgebucht, individuelles Coaching, Lernberatung, Anti-Prokrastinationstraining usw. greifen um sich, was heißt, dass wir alle es vor allem als psychologisches Problem einordnen. Dazu passt eine Mail, die ich gestern von der BU erhalten habe: Die Human Resources Abteilung der Boston University bietet dem Lehrpersonal einen Katalog an Weiterbildungsmöglichkeiten an, die von Professional Development über Health Promotion bis Life Enhancement reichen. Neben „Improving your Customer Service Skills und – auch für uns Dozenten – „Just do it! A Procratinator’s Guide to Getting Motivated!“ ist mir folgendes Angebot ins Auge gefallen: „Being an Effective Resource for Students“. Hierin geht es laut Veranstaltungsbeschreibung darum, dass wir immer wieder mit Fragen und Problemen Studierender konfrontiert werden, die außerhalb unserer Expertise liegen. Zum einen wird man hier mit Maßnahmen zu besseren Hilfestellungsleistung versorgt, vor allem aber wird man über das an amerikanischen Unis vermutlich noch reichhaltigere Angebot an academic, medical and mental health resources Informiert, an die man Studierende (richtig) adressieren sollte.

      Ich habe es bislang tatsächlich als ein Problem unserer Leistungsgesellschaft, also gestiegener Leistungsdruck, verortet, das durch Bologna verstärkt wird: zum einen durch den permanenten Prüfungsdruck, zum anderen durch den Mobilitätsdruck. Noch ‚gefährlicher‘ als Auslandssemester scheint mir der BA-MA-Bruch zu sein, d.h. ein Wechsel der institutionellen Umgebung mit anderen Studierkulturen, für die die gerade erst gelernten Arbeits- und Deutungsmuster nicht passen.

      Interessieren würde mich, welche Ursachen Du für dieses „Stranden“ annimmst. Ich hab den Eindruck, Du setzt etwas jenseits der Universität an, was dazu führt, „nur bedingt beschäftigungsfähig“ zu sein (und das auch zu spüren).

      1. Den „Procrastinator’s Guide“ hätte ich auch gern mal… aber der SozBlog ist auch keine schlechte Ablenkung! – Ich habe keine wirklich belastbare These, was die gesellschaftlichen Bedingungen des universitären „Strandens“ angeht – jedenfalls keine, die wesentlich über Deinen Hinweis auf die Probleme der Leistungsgesellschaft hinausginge. In meinem Deutungsraster würde ich das den gesellschaftlichen Produktivismus nennen, der sich in unterschiedlichsten Feldern ausbreitet – und der eben unter anderem auch die Arbeitsmarkt- und Sozialreformen des letzten Jahrzehnts charakterisiert. In gewisser Weise war die Universität ja länger schon, neben vielem anderen, ein Rückzugsraum für den Anforderungsprofilen des Arbeitsmarktes nicht Gewachsene – was mit ihrer stetig fortschreitenden Durchökonomisierung (in der Mensa muss man neuerdings den elektronischen Mitgliedsausweis vorzeigen, es gibt kein preiswertes Essen mehr für lokale akademienahe Niedrigeinkommensbezieher) allerdings zunehmend weniger praktikabel wird, woraus sich wiederum (wer hat sich früher über langzeiteingeschriebene Uraltstudierende ernsthaft aufgeregt?) neue Spannungsverhältnisse und, ja: „soziale Probleme“ ergeben. – Wie auch immer: Mir wird immer klarer, dass sich die Soziologie stärker mit den Bedingungen ihrer eigenen akademischen Produktion und Reproduktion beschäftigen sollte. Danke in diesem Sinne schon einmal jetzt für die Berichte aus dem Off!

        1. Die Uni als Rückzugsraum und Auffangbecken ist etwas, das ich bislang nicht richtig auf dem Schirm hatte. Und deren Wandel unter den Bedingungen „gesellschaftlichen Produktivismus“ (Lessenich) könnte glatt ein neuen Forschungsthema werden. – Was bei uns immer mal wieder ein Thema ist, ist die Uni als Ort für „Gspinnerte“, wie sie in Bayern heißen. Der Campus zieht offenbar Leute an, die ein bisschen schräg unterwegs sind, auffällige Verhaltensweisen an den Tag legen, manchmal auch ein Sendungsbedürfnis haben. Sie sind nicht richtig integriert, werden aber toleriert, vielleicht ein bisschen belächelt, gehören halt irgendwie dazu.

          1. Ja, genau. Und die Frage scheint mir zu sein, ob sich die unternehmerische Universität zukünftig noch „Gspinnerte“ leisten wollen wird, die ihr womöglich die Kennziffern verhageln – übrigens auch „Gspinnerte“ unter dem Lehrpersonal… denn der Campus hat ja nicht bloß unter den Studierenden immer auch Leute angezogen, „die ein bisschen schräg unterwegs sind“ (Pfadenhauer). Wo sollen die in Zukunft landen? Und wie sähe eine Universität ohne tolerierte Schrägheit aus?

  2. Wobei sich wiederum die Frage stellt, ob sie schon immer schräg und gspinnert waren oder die Uni sie dazu macht.

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