Impact Factor. Ein offener Brief

Sehr geehrter Kollege,

Sie fragen nach dem Impact Factor unserer Zeitschrift, weil Sie überlegen, ein Manuskript einzureichen.

Ich muss gestehen: Ich habe keine Ahnung. Ich habe mich bislang nicht darum gekümmert. Als redaktionsführender Herausgeber war ich darauf konzentriert, gute Manuskripte auszuwählen und in wenigen Fällen einzuwerben. Ihre Anfrage lenkte meine Aufmerksamkeit auf die Frage, ob der Impact Factor nun auch in der Soziologie zu einem wichtigen Motiv wird, in einer Zeitschrift zu publizieren. Sollten wir ihn also zur Kenntnis nehmen oder gar bewusst pflegen?

Zunächst: Generell entstehen Zeitschriftenrankings aus dem Bedarf, Urteile über die wissenschaftliche Leistung von ihrer inhaltlichen Bewertung zu trennen und mit Hilfe allgemeiner Kennzahlen zu objektivieren. Kennzahlen reduzieren Komplexität. Damit wird ein Urteil auch für denjenigen möglich, der die eigentliche Erkenntnisleistung nicht beurteilen, d.h. sein Urteil nicht durch Kenntnis von komplexen Wirklichkeiten begründen kann, sondern vom Urteil anderer abhängig machen muss. Und weil das über Personen peinlich, eben „nur subjektiv“ ist, wählt man lieber Verfahren. Rankings generieren also Maßstäbe für Unkundige (Politiker, Wissenschaftsbürokraten, Fachfremde), mit deren Hilfe die Begründung von Entscheidungen auf die Maßstabsgenerierung ausgelagert wird.

Nun gehe ich davon aus, dass Sie selbst sich in Ihrem Fachgebiet mit der Orientierung an Impact Factoren nicht zufriedengeben. Nehmen wir an, Sie stoßen auf einen interessanten Artikel, dann werden Sie die Entscheidung, ob Sie ihn lesen und in Ihren Publikationen aufgreifen, vermutlich nicht am Impact Factor des Artikels (falls ermittelt) oder gar der Zeitschrift orientieren. Im Gegenteil: Es lohnt sich weit eher, gerade das aufzugreifen, was andere nicht kennen, das erhöht die Originalität Ihrer Argumentation; Entdeckungen nennt man das, und sie spielen in den Sozialwissenschaften seit je eine große Rolle. Ihr Interesse am Impact Factor speist sich also nicht aus der Eigenverwendung, sondern aus der Annahme, dass andere Ihre Arbeit nach dem Impact Factor bewerten könnten.

Nun ist das nicht auszuschließen. Gerade die steigende Ausdifferenzierung der Sozialwissenschaften führt immer häufiger zu dem Phänomen, dass man sich mit seinem Urteil in Fachgebiete wagen muss, in denen man nicht selbst geforscht hat. Ist es also aus Ihrer Perspektive strategisch notwendig oder auch nur klug, die eigenen Publikationen daran auszurichten?

Ich kann Ihnen hier keinen Rat geben. Ich kann nur meine Erfahrungen aus zahlreichen Berufungskommissionen und Einstellungsgesprächen in einem ziemlich breiten Spektrum sozial- und geisteswissenschaftlicher Fächer wiedergeben: Impact Factoren haben bei der Auswahl der Kandidaten nie eine Rolle gespielt. Wohl hin und wieder die Frage, ob jemand in einem Peer-Review-Journal publiziert, aber letztlich ging es dann doch immer darum: Was hat er denn dort publiziert? Olle Kamellen? Methodisches Rauschen? Ideologie? Oder eine interessante These, ein neu erschlossenes empirisches Feld, einen vielversprechenden Ansatz? Spätestens auf der Ebene der Fachgutachter landen alle vor Fachleuten, und die – seien Sie versichert – urteilen nicht nach Kennzahlen, sondern nutzen diese allenfalls, um etwas durchzusetzen. Ansonsten wird der Impact Factor souverän ignoriert.

Mir geht es aber nicht nur um die Ebene des Zweckrationalen, vielleicht sogar Strategischen, sondern um etwas anderes: Wir Sozialwissenschaftler sollten bei allen Fragen unseres Handelns immer auch die Perspektive des Beobachters zweiter Ordnung einnehmen können, in diesem Fall also fragen: Was geschieht mit einer wissenschaftlichen Disziplin, vielleicht sogar: mit dem Wissenschaftssystem, wenn denn Kennzahlen wie Rankings und Impact Factoren zur dominierenden Richtschnur des Handelns werden?

Ich mache ein Beispiel: Wenn die Herausgeber unserer Zeitschrift sich einig werden sollten, dass der Impact Factor eine bedeutende Steuerungsgröße für uns ist, könnten wir ihn selbst bewusst pflegen. Ich (und alle anderen Herausgeber sowie die Mitglieder des Beirates) würden verpflichtet, in den eigenen Publikationen möglichst viele Artikel aus unserer Zeitschrift zu zitieren, und zwar unabhängig von der Frage, ob diese inhaltlich etwas mit den verhandelten Themen zu tun haben. Wir könnten weiter nur Manuskripte aufnehmen, die mindestens vier Artikel unserer Zeitschrift in der Literaturliste enthalten, oder mit Redaktionen befreundeter Zeitschriften ein Zitierkartell bilden.

Alles das ist möglich – und alles das wird bereits heute betrieben, und zwar in Disziplinen, bei denen die Orientierung an solchen Rankings einen hohen Stellenwert hat. Allgemein kann man dazu sagen: Die Zunahme strategischen Handelns in einem System erhöht nicht unbedingt seine Effektivität im Hinblick auf das Systemziel, etwa Erkenntnisse zu generieren. Sie erhöht aber den Herdentrieb. Manche meinen: Man verblödet dann eben kollektiv (wie die Ökonomie vor der Finanzkrise). Wäre es trotzdem angebracht, die Soziologie zum Rang einer echten Wissenschaft, einer ‚harten science’ zu erheben, indem sie demselben Pfad folgt?

Die Entwicklung der Soziologie war bislang durch historische Zäsuren und Brüche gekennzeichnet, die das Erkenntnisinteresse einzelner Gruppen langsam oder auch auf einen Schlag historisch ad acta legten, andere Gruppen und Ansätze nach oben spülten. Zeitschriften waren darin stets Projekte einzelner Ansätze, Altersgruppen oder nationaler Fachkulturen. Wer auch nur 50 Jahre Geschichte der Soziologie überblickt mag doch einmal rückblickend das Experiment machen, ein Ranking zwischen Sozialer Welt (zu Schelskys Zeiten), der KZfSS und dem AJS herzustellen. Vielleicht könnte dann das Ergebnis lauten, die bedeutendste sei die 1942 eingestellte Zeitschrift für Sozialforschung, die Anfang der 70er Jahre dann wieder eifrig gelesen wurde. Der Mittelwert zwischen ihrer Beurteilung in Frankfurt und Köln dürfte wenig Aussagekraft haben, ebenso der Mittelwert zwischen der Zitationshäufigkeit von Max Horkheimers Artikel „Traditionelle und kritische Theorie“ (in welchem Jahrzehnt?) und, sagen wir: Charles A. Siepmanns Artikel „Radio and Education“ von 1941.

Eines wird bei solchen Vergleichen deutlich: Die Zeitgenossen, die peers, hatten in den seltensten Fällen einen klaren Blick für die Bedeutung einzelner Kollegen und ihrer Arbeiten (man lese die Urteile in Dirk Kaesler, Soziologische Abenteuer. Earle Edward Eubank besucht europäische Soziologen im Sommer 1934, Opladen 1985, René Königs Meinung über Adorno, Schelsky über König und Plessner, aber auch: Durkheim über van Gennep etc.). Insofern spreche ich dem Peer-Urteil die Kompetenz ab, das fachwissenschaftlich „Zukunftsweisende“ identifizieren zu können (Norbert Elias als Musterfall). Künftige Generationen von Forschern entscheiden häufig anders.

Die Vorstellung, durch das Ranken wissenschaftlicher Zeitschriften zu gültigen Aussagen über den Rang einzelner Publikationen zu kommen, gründet letztlich immer im positivistischen Konzept einer Einheitswissenschaft mit klaren Fachgrenzen, gesicherter Fragestellung, interner Kommunikation und kumulativem, in der Gegenwartslage entscheidbarem Erkenntnisfortschritt.

Glauben Sie, dass die Soziologie heute diesen Zustand erreicht hat oder künftig erreichen wird? Ja: dass dieser Zustand erstrebenswert sei? Die Soziologie heute scheint mir nach wie vor durch die innere Pluralität ihrer Richtungen, Schulen, methodischen Ansätze und nationalen Diskurslagen, vor allem aber durch Sprünge ihrer Leitfragen geprägt zu sein. Insofern sind gemittelte Aussagen über die Konsultation bestimmter Fachzeitschriften wertlos: Sie bilden vielleicht das Kräfteverhältnis zwischen einzelnen Gruppen (Quantis, Qualis, System- und Individualisierungstheoretikern) der Gegenwart ab, sagen aber über den Rang der Zeitschriften genauso wenig aus wie der Vergleich zwischen juristischen und romanistischen Zeitschriften über den Rang der beiden Disziplinen und ihre künftige Bedeutung. Wie oft erscheint in einer „schlechten“ Zeitschrift ein guter, in einer „guten“ ein schlechter Artikel – oder auch nur einer, der uns nicht interessiert. Rankings nivellieren, wo es um Einzelleistungen, sie formalisieren, wo es um Inhalte geht – und sind deshalb wenig mehr als ein Spielzeug in den Händen von Strategen mit eigennützigen Handlungszielen. Die Wissenschaft aber bringen sie nicht voran.

Wenn Sie mich einmal an der Mosel besuchen, können wir gerne eine Flasche Wein zusammen trinken. Wenn ich Ihnen dann ein Glas vorsetze und meine Auswahl damit begründe: Im Vergleich zu anderen Weinbaugebieten hatte der Moselwein im letzten Jahr einen deutlich höheren Absatz, und deshalb ist es auch gleichgültig, ob ich Ihnen einen Grauburgunder oder Gewürztraminer vorsetze, für 3 € 95 im örtlichen Aldi erworben, oder aber eine 1L-Flasche (Riesling, „Großes Gewächs“) – wären Sie damit glücklich?

Ich nicht. Und deshalb kümmere ich mich auch künftig nicht um Impact Factoren, sondern lese Artikel aus unterschiedlichen Zeitschriften – und das Manuskript, das Sie uns hoffentlich einsenden werden, und zwar unabhängig von Ihrem individuellen Impact Factor. Sie könnten ja eine Entdeckung sein – aber darüber sollen die Gutachter entscheiden. Mit Argumenten.

Mit besten Grüßen,

Ihr

Clemens Albrecht

3 Gedanken zu „Impact Factor. Ein offener Brief“

  1. „Ich kann nur meine Erfahrungen aus zahlreichen Berufungskommissionen und Einstellungsgesprächen in einem ziemlich breiten Spektrum sozial- und geisteswissenschaftlicher Fächer wiedergeben: Impact Factoren haben bei der Auswahl der Kandidaten nie eine Rolle gespielt.“

    Das zu ändern ist offenbar aber zunehmend das Ziel der von Ihnen so schön beschriebenen „Unkundigen“. In diesem Kontext sehr instruktiv: Das Plädoyer von Osterloh & Kieser in der FAZ v. 24.12.13 gegen die Evaluationsempfehlungen des Wissenschaftsrates (konkret am Beispiel der Soziologie) — leider online nur auszugsweise: http://fazjob.net/ratgeber-und-service/beruf-und-chance/campus/123666_Kommt-lasst-uns-noch-ein-paar-Laengsdenker-mehr-produzieren.html

    Und hier die im Artikel angeführten Ergebnisse der Pilotstudie Soziologie: http://www.wissenschaftsrat.de/download/Forschungsrating/Dokumente/Pilotstude_Forschungsrating_Soziologie/pilot_ergeb_sozio.pdf Wenn man sich mal den „Bewertungsvorgang“ (S. 15ff.) anschaut, wird die vom Wissenschaftsrat eingeforderte Rolle des Impact Factors für die zukünftige Entwicklung der Soziologie überdeutlich…

  2. Lieber Herr Albrecht,
    vielen Dank für diesen Beitrag der mir aus dem Herzen spricht. Eine kleine Anekdote, die ein paar Konsequenzen aufzeigt:
    Kürzlich unterhielt ich mich mit einem Kollegen aus der Medizinethik, der an einer großen Hochschule lehrt. Dort ist es, so wurde mir berichtet, der Fall dass bei Promotionen in seinem Fach die kumulative Schrift den Normalfall darstellt. Monographinen sind zwar noch möglich, aber selten.

    Der Grund: Die Promotionen müssen von den Gutachtern nach einem Punktesystem bewertet werden. Ein Teil der Punkte wurde für den Ort der Veröffentlichungen vergeben und die anderen auf Inhaltliche wie formelle Qualität aufgeteilt (das genaue System kenne ich nicht, Sie können es sich aber vorstellen).

    Was mich besonders irritierte: Der Publikationsort wird nach Impact Factor vergeben. Dazu wird ein Wert aus den Publikationen mit ihrem Impact berechnet, der die Punktezahl vorgibt. Wer also 3 Artikel in internationalen „A Journals“ mit hohem Factor veröffentlicht bekommt 10 / 10 Punkten, wer in einem randständigen veröffentlicht entsprechend weniger. Monographien erhalten 0/10 Punkten (!). Das führt dazu dass man mit einer Monographie bestenfalls eine Note 2,7 in der Promotion erhalten kann. (und damit ist man möglicherweise raus bzw. benachteiligt im Wissenschaftsbetrieb). Unabhängig von der inhaltlichen Qualität, die Gutachter sind (so wurde mir berichtet) auch verpflichtet sich an die Regelungen zu halten.

    Hierbei handelt es sich übrigens um Promotionen von (Medizin-) Historikern und Philosophen.

    Das ist sicherlich ein Ergebnis der Verortung dieser geisteswissenschaftlichen Fächer in einer medizinischen Fakultät die selber versucht ihre Qualitätsmerkmale „zu verschärfen“, das führt aber meiner Ansicht nach zu skurilen Ergebnissen.

    Man überlege auch mal, welche Formen der Forschung eigentlich in Journal Papers veröffentlicht werden können, und welche in dieses Format einfach nicht hineinpassen…

    1. Lieber Herr Tuma,
      herzlichen Dank für diese Beispiele. Sie zeigen einmal mehr, dass die two cultures in Gefahr sind, weil sie von einer nivellierenden Wissenschaftspolitik ignoriert werden. Da geht es eben nicht darum, mal eben durch einen Fördertopf „auch die Geistes- und Sozialwissenschaften“ zu alimentieren, sondern um die Frage, ob sie aufgrund ihrer spezifischen Fragestellungen andere Lehr- und Forschungsstrukturen benötigen als Informatik und Medizin. Wir kennen aber auch die Fälle, in denen sich Sozialwissenschaften entschlossen am science-Modell ausrichten: Ökonomie und Psychologie. Das verspricht immer einen kurzfristigen Reputationsgewinn durch Anwendungsversprechen, führt aber langfristig in fundamentale Erkenntniskrisen, weil das Spektrum an differerierenden Ansätzen wegbricht, aus dem sich unsere Disziplinen erneuern.

Kommentare sind geschlossen.