Warum Schweden?

Schweden wird „normal“, so wie der Kontinent. Zum ersten Mal seit langer Zeit funktioniert die Konsensmaschine nicht mehr richtig und die Regierung stürzt nach nur zwei Monaten. Das ist die erste Regierungskrise seit 1978 und die erste vorgezogene Neuwahl seit 1958. Stefan Löfven hatte, wie üblich, eine Minderheitsregierung gebildet, die in der Regel vergleichsweise bequem regieren kann, solange sie keine Mehrheit gegen sich hat. Auch in diesem Fall wäre das gelungen, denn der alternative Haushaltsentwurf der bürgerlichen Parteien hätte keine Mehrheit gefunden — wenn ihm nicht die rechtsextremen „Schwedendemokraten“ zugestimmt hätten. Der bürgerliche Entwurf unterschied sich zwar nicht sehr von dem der Regierung, aber die müsste nun einen Haushalt der Opposition umsetzen. Im März dürften Neuwahlen stattfinden, und dann wird sich zeigen, ob die Aufteilung des politischen Lebens in zwei Blöcke und die Rechtsextremen als Zünglein an der Waage Bestand haben wird.

Zum ersten Mal wird dann wohl eine Rhetorik Realität, die schon alt ist. Nach der Einführung des parlamentarischen Systems waren die schwedischen Regierungen eher instabil, bis 1932 die Sozialdemokraten ihren Siegeszug antraten, in Koalition mit der konservativen Bauernpartei (etwa zehn Jahre), in einer Allparteienregierung (im Krieg), in der Minderheit (zumeist) oder mit der absoluten Mehrheit (selten). Da wurde die ganze Zeit Blockpolitik beschworen, und es gab, v.a. in den 1950er Jahren, heftige ideologische Auseinandersetzungen mit dem bürgerlichen Lager. Und ich weiß noch, wie ich zu Beginn dieses Jahrtausends aus schwedischen Medien mit Erstaunen zur Kenntnis nahm, dass der „Klassenkampf“ in diesem Land raste. Denn nirgendwo gab es im 20. Jahrhundert weniger Klassenkampf und weniger Blockpolitik als dort.

Die eigentümliche Gesellschaftsverfassung hat Schweden im Grunde zu einer riesigen Konsensmaschine gemacht. Eine kollektivistische Mentalität und ein institutionalisiertes System der Kompromissfindung ist seit der Frühen Neuzeit entstanden und hat sich derart eingeschliffen, dass es den Schweden nach 1933 schwer fiel (folgt man dem Historiker Piero Colla), das „Dritte Reich“ als Antithese zur eigenen Moral zu begreifen. Ein Grund war natürlich die alte Verbundenheit mit Deutschland, ein anderer aber eben die unbedingte Überzeugung, dass man mit jedem System und jeder gesellschaftlichen Gruppierung grundsätzlich verhandeln und einen Ausgleich schließen könne und — aus moralischen Gründen — müsse. Umgekehrt heißt das allerdings auch: Wer sich auf Grund „metaphysischer“ Überzeugungen (Religion, Moral, Eigensinn usw.) einem Kompromiss entzieht, wird rasch pathologisiert. Und das macht Schweden einerseits konfliktunfähig, andererseits aber sehr effizient, macht die Menschen einerseits bis zur Weinerlichkeit abhängig vom Vater Staat (oder Vater Eriksson), andererseits aber grundoptimistisch, dass man die Zukunft meistern werde. Und bislang hat das ja auch geklappt. Die Idee des „Volksheims“: Schweden als recht und gerecht geordnetes Heim für Jedermann, das war eine Richtschnur (keine Ideologie!), entlang derer sich die Sozialdemokratie immer wieder neu erfinden konnte, der unhintergehbare Rahmen für all die Kompromisse, die die Schweden miteinander schlossen. Das hatte so kein anderes Land, aber seit Ende des 20. Jahrhunderts, seit Globalisierung und Finanzkrisen, funktioniert das nicht mehr richtig. Der Politik fehlen, wie auf dem Kontinent, die Antworten.

Ich hatte im Blog über die Myrdals angemerkt, dass man von Schweden aus die Moderne anders beobachten könne. Wenn Historiker das 20. Jahrhundert und die Ambivalenz der Moderne gerne von den politischen Extremen her denken, so bildet Schweden das Gegenbild, das zeigt, wie es auch hätte laufen können. Natürlich sind Millionen Opfer von Stalinismus und Faschismus erklärungsbedürftiger als das Funktionieren einer kleinen Demokratie im hohen Norden. Aber diese Demokratie zeigt ja so merkwürdige Konvergenzen mit dem deutschen Fall. Großbritannien gilt als eindeutig positives Gegenbild zu Deutschland: als westliche Demokratie schlechthin. Schweden war eine funktionierende Konsensmaschine mit einem ausgeprägten Hang zur Enquete. Die „Staatlichen öffentlichen Untersuchungen“ durchleuchten seit dem 19. Jahrhundert jeden Bereich des sozialen Lebens und stehen geschlossen in den schwedischen Bibliotheken, als visuelles Sinnbild der Ideologie des permanenten unideologischen Justierens an der Gesellschaftsmaschine. Zugleich aber wurde in Schweden das weltweit erste rassenbiologische Institut der Welt geründet, und es wurden, wie in den anderen skandinavischen Ländern, Gesetze erlassen, um Menschen sterilisieren zu können, die als gefährlich für die Gemeinschaft eingeschätzt wurden.

Genauer habe ich das an anderer Stelle ausgeführt, und dort habe ich zusammenfassend (noch in alter Rechtschreibung) formuliert: „Schweden war eine demokratische Volksgemeinschaft, die auf Inklusion durch Sozialpolitik und Exklusion durch eugenische Maßnahmen setzte, die nicht politisch totalitär wurde, sondern durch eine totale soziale Durchstrukturierung des Volkskörpers auf die Löschung von Ambivalenz und damit auf Ordnung zielte. Schweden zeigt, und das macht das Land für eine europäische Geschichte der Moderne so wichtig, daß Ordnung eben nicht notwendig an totalitäre Herrschaft gekoppelt ist, daß sie in einem demokratischen, aber — im westlichen Sinne — dezidiert antipluralistischen Staat mit Mitteln erreicht werden konnte, die auf den ersten Blick verdächtig an den Nationalsozialismus erinnern können. Die schwedische Gesellschaftsverfassung selbst ist höchst ambivalent, das unterscheidet sie von den eindeutigen Bildern, die Historiker manchmal bevorzugen. Die Ambivalenz der Moderne mit einem in unseren Augen höchst ambivalenten Modell erfolgreich bewältigt zu haben, das paßt nicht wirklich zu den Vorstellungen von demjenigen ‚Europa‘, das im Korridor [Sowjetunion/Deutschland — Frankreich/Großbritannien] liegt. Deshalb greifen für Schweden auch nicht die analytischen Kategorien eines westlichen ‚Pluralismus‘ oder einer totalitären ‚Herrschaft‘, sondern man muß, mit Michel Foucault, von ‚Normalisierung‘ und ‚Gouvernementalität‘ sprechen. Berücksichtigen wir Schweden, verändert sich unser Sprechen über Europa.“

Im Grunde müsste man eine historische und vergleichende Verfassungsgeschichte Europas schreiben, Verfassung in einem weiten Sinne: wie ist das politische System organisiert, wie sieht die Konflikt-/Konsenskultur aus, welche Praktiken und Rituale gibt es, um mit Dissens umzugehen, welche Vorstellungen von Konflikt/Konsens hat man, wie werden sie gewichtet und gewertet, in welchen Arenen werden Konflikte ausgetragen und Kompromisse geschlossen, wie wird das Verhältnis sozialer Gruppen zueinander imaginiert und austariert usw. — eine Praxeologie, wie moderne Gesellschaften sich steuern. Erst dann wird man die unterschiedlichen Wege Europas durch das „Zeitalter der Extreme“ abschätzen können und begreifen, wie reduziert der Gegensatz von Demokratie und Diktatur ist. Man betrachte nur, extrem holzschnittartig: das agonale Großbritannien, die versäulten Niederlande, das monarchisch-chaotische Frankreich, die improvisierenden ewigen failing (aber eben nicht failed) states Belgien und Italien, das föderalisiert-bürokratisch-autoritär-zerrissene Deutschland, das Ein-/Allparteienregime Schweden usw.

Arnd Bauerkämper hat in einem kleinen Büchlein über die Geschichte des Faschismus angemerkt, dass autoritäre Politikstile in der Zwischenkriegszeit populär gewesen seien. Tim B. Müller vertritt dagegen die These, dass die Demokratie in diesem Zeitraum durchaus eine Chance gehabt habe, und in der Tat ist die Weimarer Republik ja erst in den letzten Monaten ihres Bestehens endgültig gescheitert. Länder wie Schweden oder die Niederlande als „Lackmustest“ zu bezeichnen, wäre sicherlich eine überzogene Metapher. Aber statt immer zu fragen, warum Deutschland — mit immer neuen und riesigen Portionen Glück für die Nationalsozialisten — in die Diktatur und einen brutalen Krieg gerutscht ist, wäre es hilfreich, einmal umgekehrt zu fragen, warum sich in einer Zeit allgemeiner Verunsicherung und schwerer wirtschaftlicher Krisen demokratische Systeme mehr oder weniger erfolgreich haben halten können — und zwar in größeren Teilen West- und Nordeuropas. Vom schwedischen Sonderfall her kann man den deutschen Sonderfall genauer konturieren.