Theorie des Straktanten

Die Ameisen-Theorie (ANT[1] oder ANTheorie) hat eine neue Epoche in der Soziologie eingeleitet. Sie hat die letzten künstlichen, verwirrenden Distinktionen durchbrochen, welche sich bloß als erkenntnisverstellend erwiesen haben, jene zwischen Gesellschaft und Natur, zwischen Mensch und Technik, zwischen Person und Materie, zwischen Ich und Es, zwischen Sender und Empfänger, zwischen Schreiber und Computer, zwischen Wissenschaftler und Objekt, zwischen dem Kaffeetrinker und seiner Tasse. Alles interagiert mit allem, und im Grunde ist alles Eins. Diese paradigmatische Perspektivenänderung macht klar: Der Wissenschaftler unterhält sich mit seiner Theorie. Die Türklinke veranlasst das Individuum, die Tür zu öffnen. Die Pistole schießt mit dem Menschen.[2] Aber das genügt noch nicht.

ANTheoretiker verfallen nämlich in eine den Blick auf die Realität verstellende individualistische Engführung, wenn sie Aktanten als singulär-exklusive Entitäten betrachten, statt hinreichend strukturell-kontextualisierend zu verfahren, sie also in das Ambiente der Interaktionen einzuordnen, die sie mit ihresgleichen „ausüben“ (ohne Leugnung der permanenten Interaktivität mit andersartigen – unter Einschluss menschlicher – Entitäten). Ein solcher Zugang verfehlt den holistischen Charakter der Aktantensysteme, die – bei aller Besonderung der je durchgeführten Aktionen – doch ein Insgesamt bilden. Ein einfaches Beispiel: Mein Computer mag (mit mir) ein Aktant sein, aber viel entscheidender ist es, dass er mit seinesgleichen vernetzt, verflochten, gewissermaßen Teil einer Totalität ist, einer Allheit – und zu dieser materialisierten Aufeinanderbezogenheit stößt das anthropogene „Servicepersonal“, welches auf die subtilste Weise veranlasst wird, Tasten zu drücken, aber eben mit diesen Eingriffen (unzuverlässiger) Teil der Maschinerie wird. Die Totalität dieser Verhältnisse, die „große Einheit“ im Unterschied zur „kleinen Einheit“ des Aktanten, nenne ich den Straktanten.[3]

Eine verflochtene Vielzahl von Aktanten bildet einen Straktanten. Individuelle Mensch-Maschine-Hybriden bilden Systeme. Freilich haben viele soziologische Theoretiker mit Strukturen gearbeitet. Aber Arnold Gehlen hat etwa dabei bloß die Entlastungsfunktion gesehen; eine Kaffeetasse im Schrank ist ein praktischer Organersatz, zumal heißer Kaffee mit den Händen unangenehm zu schöpfen ist. Wer jedoch eine komplexe soziologische ANTheorie entwickeln will, der darf eben nicht alle Tassen im Schrank haben, sondern muss die Verschmelzung des Kaffeetrinkers mit seiner Tasse ins Auge fassen. Karl Marx hat sich natürlich vom Hybrid dadurch ablenken lassen, dass er nur auf die Produktivkräfte geschaut hat, auf die Kaffeemaschine. Der Fetischcharakter der Ware diskreditiert jedoch deren Reputation. Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft wäre deshalb als Geschichte von Straktantenkämpfen neu zu schreiben. Pierre Bourdieu war nur mit dem legitimen Geschmack beschäftigt, also mit der Frage Arabica versus Löskaffee.[4] McDonalds ist da schon weiter, wenn auf den Kaffeebechern vor möglichen aggressiven oder sexuellen Handlungen des Kaffees gewarnt wird: contents may be hot.

Nur die Theorie des Straktanten verbindet Struktur und Handeln – es zeichnet sich eine Lösung ab für ein seit langem ungelöstes Problem in den Sozialwissenschaften. Der Unterschied wird, ganz im Sinne der Ameisentheorie, aufgelöst beziehungsweise synthetisiert. Wenn man die Theorie der Aktanten zu einer Theorie der Straktanten weiterententwickelt, kann man das Potential dieser entscheidenden Erkenntnis in seiner ganzen Tragweite ausschöpfen. Denn kein Aktant ist eine Insel. Straktanten sind Strukturen oder Systeme von Aktanten, die miteinander in stetigem Austausch stehen, allein schon durch ihr Dasein und Sosein, durch ihr Geworfensein und ihr Konstruiertsein, als Einheit von Sein und Nichts, von Einzelheit und Totalheit. Straktanten sind ein Kommunikationsgeflecht, in dem auch (menschliche) Personen vorkommen, ohne dass diesen ein in irgendeiner Weise superiorer Status oder privilegierter Sinn zugestanden würde, wie dies in der abendländischen präkolonialistischen Epoche so häufig in einer gegenüber der Welt der Dinge überheblichen Weise der Fall gewesen ist. Denn letztere Vorgangsweise würde wiederum in eine anthropozentrische Verzerrung zurückfallen, die durch die nunmehr erreichte Identifizierung, Verflechtung und Egalisierung von belebten und nichtbelebten Entitäten in einer Supra-Entität oder Trans-Identität[5] überwunden worden ist. Straktanten sind immer alles, und auch anderes – im Gegensatz zur Systemtheorie sind es Unterschiede, die einen Unterschied machen, obwohl sie keinen Unterschied machen.

Der isolierte Hybrid Mensch-Screen-Aktant, um nur ein Beispiel zu nennen, lebt ja in einem elektronisch-natürlichen Habitat. Jeder agiert auf seine Weise, mein Computer beispielsweise durchaus in seiner Eigensinnigkeit, und dennoch sind wir untrennbar aneinander gebunden. Aber man muss eine Pluralisierung der beiden Seiten vornehmen, im Sinne einer Multiplizierung der humanen ebenso wie der technischen „PartnerInnen“[6] – das heißt: Wahrnehmung der Vervielfachung von Nutzern und Screens, Vernetzung und Vernetzwerkung von Vielheiten, Entstehen von Emergenz, Interaktivität, Flows. Das Internet ist dynamische Emergenz, synchron und diachron in einem. Und es sind nicht einfach nur Netzwerke, die kontingent entstehen. Auch Kontingenz produziert patterns, und diese Muster fügen sich zu valenten Strukturen, die sich gleichsam hinter dem Rücken der Individuen durchsetzen. (Nicht nur mein Computer ruiniert von Zeit zu Zeit meine Files, auch das Netz hat mich im Visier. Es ist deshalb nicht nur doppelte Kontingenz, sondern zumindest dreifache.)

Die Fruchtbarkeit eines solchen Ansatzes – und seine Anschlussfähigkeit für andere Theoriefelder – lässt sich durch kurze Verweise auf drei Aspekte demonstrieren.

Erstens:  Während die Ameisentheorie den Strukturcharakter der Mensch-Ding-Welt unterbewertet, verfehlt die Systemtheorie die Realität durch ihre absurde Begrenzung auf menschliche Interaktionen. Erst die Erweiterung des Interaktionsbegriffs macht den unendlichen Kosmos der allseitigen Relationen sichtbar, die keineswegs reifiziert werden dürfen, weil jede solche Reifizierung ihren Liquiditätscharakter[7] außer acht ließe. Aktanten beobachten einander, aber der erforderliche Komplexitätsgrad, den eine auf der Höhe der postmodernen Zeit befindliche Theorie erfordert, wird dabei nicht erreicht. Straktanten sind die besseren Beobachter. Sie beobachten andere Straktanten beim Beobachten, ohne dass dies als individualistisch-handlungstheoretische Aktivität  angesehen werden darf; denn sie leisten noch viel mehr: Straktanten verfügen naturgemäß über ein viel höheres Beobachtungspotential als singuläre Aktanten. Sie sind ja auch größer. Man kann deshalb auch nicht die Spezifizität von Straktanten in eine einfache Erweiterung des Aktantenbegriffs packen, man muss in der Tat zwischen Aktanten und Straktanten unterscheiden, wenn man das theoretische Differenzierungspotential nutzen will. Die Logik des Verhältnisses zwischen dem Nutzer und seinem Computer muss zur Logik der Totalität von Nutzern und Gerätschaften erweitert werden, also gleichsam eine Etage höher steigen. Um zu klären, was daraus folgt, bedürfte es freilich noch einiger Forschungsprojekte.

Zweitens: Erst wenn das Phänomen der Straktanten in seiner ganzen Tragweite wahrgenommen wird, entfaltet sich das Potential der Machtverhältnisse, welche die Welt – verschleiert und unwahrnehmbar – durchziehen. Macht ist immer im Spiel. Aktanten suggerieren Harmlosigkeit, da doch die in Wahrheit lebensprägende Machtausübung der Türklinke sich einer Alltagsperspektive nicht unmittelbar erschließt. Nur manchmal blitzen Machtfragen durch, so etwa, wenn in einer Studie die Klinke durch einen automatischen Schließmechanismus der Türe ersetzt und die Möglichkeit erörtert wird, dass der Schließmechanismus zu stark eingestellt sein könne, sodass der Passant am Ende gar eingeklemmt wird. Der konkrete Fall  erschließt theoretisch wohl eine neue Betrachtungsweise, doch erst bei Wahrnehmung  des gesamten „Machtfeldes“, das heißt des Systems von Türen, Klinken, Schließautomatismen und anderen exkludierenden und inkludierenden Facilitäten, wird ersichtlich, welche überwältigenden Herrschaftsverhältnisse sich in der Konstitution derartiger Systeme verbergen. Diese Machtverhältnisse setzen gesellschaftliche Exklusion und Inklusion (was am Fallbeispiel der Türklinke als eines expliziten Ausschließungsmechanismus besonders deutlich sichtbar wird), und sie sind umso wirksamer, als der Macht- und Herrschaftscharakter auf common sense-Ebene nicht wahrnehmbar ist, sondern sich nur einer analytischen, eben nicht einfach ontologisierenden Perspektive erschließt. Eine straktantielle Machttheorie ist ohne Zweifel ebenfalls ein Forschungsdesiderat.

Drittens: Auch andere künstliche Oppositionierungen werden durch die Straktantentheorie überwunden, beispielsweise jene der (bekanntlich ohnehin kulturell konstruierten) Geschlechter. Die Ameisentheorie laboriert noch an einer patriarchalischen Vereinzelungstradition, in der männliche Durchsetzungsideologie triumphiert. Das zeigt sich am bekannten Beispiel eines Mensch-Pistole-Hybriden – denn solche Beispiele sind kein Zufall.[8] Das System der Straktanten beruht hingegen auf der Struktur, und die Struktur ist weiblich. In nuce haben wir es deshalb mit einer feminin geprägten Theorie zu tun, und das Prinzip der practical correctness empfiehlt, überhaupt von einer Theorie  der Straktantinnen zu sprechen.[9]


[1] Das Kürzel hat sich für die Akteur-Netzwerk-Theorie eingebürgert.

[2] Die Theorie lenkt die Aufmerksamkeit auf mögliche und ausgeschlossene Handlungsperspektiven. Das berühmte Beispiel mit der Pistole legt nahe: Menschen denken darüber nach, ob sie in einer entsprechenden Situation schießen sollten, wenn sie eine Pistole in die Hand nehmen – aber, wie es in einem Buch heißt, sie denken nicht darüber nach, wie sie diese Waffe verwenden könnten, um die Blutung einer Wunde zu stillen. Tatsächlich wird durch die prägende Kraft der Pistole eine riesige Welt von Möglichkeiten ausgeschlossen: Man kann diese Pistole auch nicht essen, man kann mit ihr nicht schreiben oder Autofahren. Bislang waren sich die Menschen nicht bewusst, dass jedes Objekt auf diese Weise eine Unzahl von ausgeschlossenen Möglichkeiten verkörpert. Jedes einzelne Objekt dementiert gewissermaßen die Multioptionsgesellschaft. Es ist das Verdienst der Theorie, die Aufmerksamkeit auf diese ausgeschlossenen Möglichkeiten zu lenken und damit das Reflexionsniveau der Menschen entscheidend zu bereichern – keiner wird nunmehr noch in die Pistole beißen, weil er weiß, dass man sie nicht essen kann. Erstmals wird mit diesen Distinktionen auch klar, dass sich zwei Situationen gravierend unterscheiden: (1) ein Mensch mit einer Pistole in der Hand; (2) ein Mensch mit einem Blumenstrauß in der Hand. Hinter diesen Stand der theoretischen und praktischen Wahrnehmungsdifferenzierung kann man nicht mehr zurückfallen.

[3] Den Anstoß zur Entwicklung dieser Theorie haben einige Kollegen im Rahmen eines Institutsseminars über die Lehre gegeben; zum Zwecke der Kontextualisierung sei erwähnt: Es war schon vormittags in der Kaffeepause, im Umfeld einer didaktischen Diskussion, nicht erst beim abendlichen Beisammensein, also nicht in einem önologischen Kontext. Aber auch der letztere Kontext hätte gepasst.

[4] Auch wenn es bei der Theorie um die Auflösung von Gegensätzen geht, sei einem Missverständnis vorgebeugt: Die Kategorie des Löskaffees ist nicht besser zur Exemplifizierung der Verhältnisse (oder zur Beobachtung der Handlungsabsichten des Kaffees) geeignet als andere Kaffeesorten. In einem Teilprojekt der vorliegenden Untersuchung hat sich diese Vermutung auch empirisch erhärten lassen.

[5] Dies ist eine andere Verwendung des Wortes Transidentität als jene, die den Begriff mit Transsexualität oder Transgender gleichsetzt.

[6] Die natürlich in Wahrheit keine „PartnerInnen“ mehr sind, sondern die je zu einer Entität verschmolzen werden.

[7] Dieser Liquiditätscharakter muss im Falle der Türschnalle analytisch konstruiert werden, während er sich im Falle der Kaffeetasse unmittelbar lebensweltlich erschließt.

[8] Eines der üblichen/ klassischen Beispiele für einen Aktanten ist der Fall, dass ein Mensch eine Pistole in die Hand nimmt. In diesem Fall wäre die Fragestellung, ob der Mensch die Pistole kontrolliert (weil er nach Belieben auf den Abzugshahn drücken kann) oder die Pistole den Menschen kontrolliert (weil sie eine solche Faszination ausübt, dass ein bestimmtes Verhalten erzwungen wird), nicht zureichend. Vielmehr ist etwas Neues entstanden, eine Kombination aus Mensch und Pistole, eben ein Aktant. Aber Illustrationen kommen nicht aus dem Nichts, und so ist dieses Beispiel verräterisch: Es zeigt die Bindung der Ameisentheorie an eine männlich-technische, gewaltsame Welt – und diese patriarchalisch-autoritäre Einordnung wird erst durch die Theorie der Straktantinnen überwunden.

[9] Überflüssigerweise, aber zur Vermeidung von Unwägbarkeiten sei noch vermerkt: This article is, of course, a hoax.

4 Gedanken zu „Theorie des Straktanten“

  1. Nicht nur Saladin weiß (durch lesenbildet) zu sprechen, auch der alte Briest kommt zu Wort: „Das ist ein zu weites Feld“. Denn natürlich sind die StraktantInnen nur Elemente der Hofstadterschen Frau Colonia, die Theorie der StraktantInnen also nur ein Spezialfall der Allgemeinen Kolonialtheorie. Man erspare mir ihre Herleitung über die der n-dimensionalen Higgins-Eliza-Transformation.

  2. Als blutiger und gelegentlich flüchtig lesender Laie wäre ich im ersten Moment fast drauf reingefallen. Gut, daß ich begeisterter Fußnotenleser bin.

    Gesucht hatte ich eigentlich aktuelle psychologische und soziologische Studien zu Waffenbesitzern und Waffenbesitz.

  3. [Als Spam markiert von Antispam Bee | Spamgrund: Server IP]
    Zufällig wieder über diesen Text gestolpert und er bringt mich immer wieder zum schmunzeln und grübeln. Ein wirklich gelungener Blogbeitrag, der imho illustriert, dass Soziologie auch amüsant und spielerisch sein kann!

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