Lernen für den Test: Wie der Wettbewerb um Olympia-Medaillen und PISA-Rangplätze das paternalistische Bildungsregime in Asien zum Vorbild macht

Bei den Olympischen Spielen 2008 in Peking konnte alle Welt mit Staunen beobachten, zu welchen Spitzenleistungen die chinesischen Sportler fähig sind. Bei den zur Zeit in London stattfindenden Spielen bestätigen die chinesischen Sportler ihre Leistungsstärke auf eindrucksvolle Weise. China führte nach 207 von 302 Entscheidungen vor den USA, Großbritannien und Südkorea den Medaillenspiegel an. Für das ganz große Erstaunen sorgte die erst 16 Jahre alte Schwimmerin Ye Shiwen, als sie die 400 Meter Lagen in neuer Weltrekordzeit gewann und dabei die letzten 50 Meter schneller schwamm als der kurz zuvor gekürte Olympiasieger der Männer über 400 Meter Lagen, Ryan Lochte. Wie üblich in solchen Fällen kam der Verdacht auf Doping auf, zumal chinesischen Schwimmern schon Ende der 1990er Jahre und noch einmal 2009 Doping nachgewiesen wurde. Die Schwimmerin selbst meinte in der anschließenden Pressekonferenz nur, dass sie in China ein sehr gutes Training hätten.

Tags darauf konnte die Silbermedaillengewinnerin über 100 Meter Schmetterling, Lu Ying, etwas mehr zu den Trainingsmethoden in China sagen. Sie hatte – wie auch andere chinesische Schwimmerinnen – einige Zeit in Australien trainiert und meinte, dass die Schwimmerinnen in Australien neben dem Schwimmen auch anderen Interessen nachgingen und viel Spaß in der Freizeit hätten. Das sei in China nicht so. Dort gäbe es nur „lernen, lernen, lernen, trainieren, trainieren, trainieren, schlafen, schlafen, schlafen“ (Catuogno 2012). Die Australier hätten eine Begeisterung für das Schwimmen, die im Einklang mit anderen Interessen stehe. Hier stoße die chinesische Methode an ihre Grenzen. Sie frage sich, ob sie für sich selbst oder für jemanden anderen trainiere. Sie hat mit dieser für eine Pressekonferenz nach einem Olympiarennen ungewöhnlichen Selbstreflexion die anwesenden Journalisten zum Nachdenken über den chinesischen Medaillenregen gebracht.

An der Spitze der PISA-Tabelle

China ist nicht nur in vielen Sportarten in eine weltweit führende Rolle hineingewachsen, sondern verfügt inzwischen auch über die größte und am dynamischsten wachsende Volkswirtschaft. Und damit ist es noch nicht genug. Shanghai und Hongkong führen mit anderen asiatischen Ländern – mit Südkorea, Singapur und Japan – auch die Tabelle des seit 2000 alle drei Jahre von einem Konsortium von fünf Agenturen für die OECD (2010a) durchgeführten PISA-Tests (Programme for International Student Assessment) an. Bei diesem Wettbewerb werden die Kompetenzen von fünfzehnjährigen Schülerinnen und Schülern in Lesen, Mathematik und Naturwissenschaft gemessen. Der Test hat inzwischen eine so große Bedeutung, dass die Zahl der teilnehmenden Länder von 2000 bis 2009 von 32 auf 65 gestiegen ist. Die Länder werden anhand der erreichten durchschnittlichen Punktzahl in eine Rangordnung gebracht. Auf diese Weise ist die Verbesserung der PISA-Punktzahl ein wesentliches Ziel der Bildungspolitik der teilnehmenden Länder geworden. Und wie soll es anders sein, als dass die führenden Länder die Maßstäbe setzen und so zu Vorbildern für die anderen Teilnehmer werden.

Die großen Investitionen der asiatischen Schwellenländer in Bildung und Forschung und deren wirtschaftliche Wachstumsraten wecken in den westlichen Industrieländern Befürchtungen, bald von ihnen in Wissenschaft, Technologie und Wirtschaftskraft überflügelt zu werden. Dass in diesen Ländern Spitzenergebnisse im PISA-Test und hohe wirtschaftliche Wachstumsraten zusammenkommen, hat entsprechend dazu beigetragen, dass ein positiver Effekt von PISA-Leistungspunkten auf das wirtschaftliche Wachstum errechnet werden konnte. Die OECD empfiehlt deshalb, auf Verbesserungen im PISA-Test zu setzen, um mehr wirtschaftliches Wachstum zu erreichen (OECD 2010c). Allerdings handelt es sich dabei um ein höchst artifizielles Rechenergebnis. Würde man die asiatischen Schwellenländer herausnehmen, dann käme es kaum noch zustande. Die lateinamerikanischen Schwellenländer haben hohe Wachstumsraten mit schlechten PISA-Ergebnissen erreicht. Die osteuropäischen Transformationsländer haben hohe Wachstumsraten bei nur mäßigen PISA-Ergebnissen erzielt. Und Japan gehört zur PISA-Spitzengruppe, leidet aber schon seit zwanzig Jahren an einer wirtschaftlichen Stagnation. Es besteht demnach kein robuster positiver Effekt von PISA-Leistungspunkten auf das wirtschaftliche Wachstum (vgl. Wolf 2002). Die Zweifel daran werden umso größer, wenn man sich das asiatische Bildungsregime genauer anschaut und darüber nachdenkt, was geschehen würde, wenn die westlichen Industrieländer ihrem Beispiel nacheifern würden. Hier gilt es nämlich für das Bildungssystem zu reflektieren, was die chinesische Schwimmerin Lu Ying über die in China praktizierten Trainingsmethoden gesagt hat.

In den 1980er Jahren wurde im Westen vor der japanischen Herausforderung gewarnt. Seitdem die japanische Wirtschaft in den 1990er Jahren in eine bis heute nicht überwundene Phase der wirtschaftlichen Stagnation geraten ist, redet niemand mehr von der japanischen Herausforderung. Die kulturelle und strukturelle Verwandtschaft mit Japan kann indessen als ein Indiz dafür betrachtet werden, dass auch in den aktuell stark wachsenden asiatischen Schwellenländern auf die Phase des Take-off eine Phase der Stagnation folgen könnte. Das könnte zu dem Zeitpunkt eintreten, zu dem auch diese Länder nicht mehr allein auf die Reproduktion vorhandener Technologien, sondern in höherem Maße auf wissenschaftliche Entdeckungen und Erfindungen angewiesen sind, um wirtschaftlich weiter wachsen zu können. Das verlangt im Bildungssystem Spielräume für Kreativität. Darüber hinaus können hochentwickelte Gesellschaften ihre Stabilität nur noch aus ihrer Wandlungsfähigkeit erlangen. Dafür bedarf es eines ausreichenden Spielraums für Kritik.

Was bringt asiatische Schulen an die Spitze der PISA-Rangliste?

Nimmt man Südkorea – sowohl bei Olympia als auch im PISA-Test mit an der Spitze – als Beispiel, dann sehen sich die Schülerinnen und Schüler einem für westliche Beobachter kaum zu glaubenden Pauk- und Testregime unterworfen. In den anderen asiatischen Ländern stellt es sich nicht wesentlich anders dar. Die Woche wird von Werktag zu Werktag vom Lernen beherrscht, von 8 bis 15 oder 16 Uhr in der Schule, im Anschluss daran bis 22 Uhr im Nachhilfeinstitut und zuhause. Auch am Sonntag werden mehrere Stunden mit Lernen verbracht. So kommen die Schülerinnen und Schüler auf gut 70 Arbeitsstunden pro Woche. Besonders intensiv muss auf die Examina gelernt werden, die über den Übergang in die nächste Bildungsstufe und den Zugang zu den ranghöchsten Schulen und Hochschulen sowie daraus folgend über den Zugang zu den Spitzenpositionen in Wirtschaft, Verwaltung und Politik entscheiden. Für Hinterfragen und Erklären bleibt dabei keine Zeit. Der gesamte Bildungsprozess ist auf das Einpauken des Lernstoffs ausgerichtet, der in standardisierter Form, oft mit Multiple-Choice-Fragen, abgeprüft wird. Diese Art des Lernens erzeugt vorrangig repetitive Kompetenzen und vor allem auch Kompetenzen im Bestehen der umfangreichen, zum Ende eines jeden Schulhalbjahres durchgeführten Tests.

Was gelernt wird, ist Testintelligenz. Die Eigenart von Tests ist jedoch ihr hoher Grad der Standardisierung, weil nur auf diese Weise in kurzer Zeit alle Schüler zugleich und unter gleichen Bedingungen abgeprüft werden können. Je größer die Zahl der teilnehmenden Schüler, umso konsequenter muss ein Test standardisiert und demnach vorhersehbar sein, weil sonst die einen bevorteilt und die anderen benachteiligt werden.

Das Bildungsregime der asiatischen Länder an der Spitze der PISA-Tabelle ist tief in der Kultur des Konfuzianismus verwurzelt. Im Kaiserreich Chinas war die Position des Beamten in der Verwaltung des Reiches die begehrteste und angesehenste in der Gesellschaft. Während der Han-Dynastie (206 v. Chr.-220 n. Chr.) wurde die von Konfuzius (551-479 v. Chr.) und seinen Schülern entwickelte Lehre zur Staatsdoktrin erhoben und es wurde ein umfassendes Prüfungssystem für die Beamtenanwärter der kaiserlichen Verwaltung eingerichtet. Korea ist 958 n.Chr. dem chinesischen Beispiel gefolgt. Die Beamtenstellen wurden nach einem strengen Auswahlverfahren besetzt, in dem es darum ging, wie gut die Kandidaten die konfuzianischen Schriften wiedergeben konnten. Es handelte sich um repetitive Fähigkeiten, die dabei getestet wurden. Implizit wurde natürlich auch die Bereitschaft der Unterwerfung unter den Lehrer als Repräsentant der Wissensordnung der Gesellschaft geprüft. Das Bildungsregime erzeugt einen Habitus der Unterwerfung unter die bestehende Ordnung. Es ist deshalb als paternalistisch zu bezeichnen. Wenn das zutrifft – und es mangelt nicht an Beschreibungen des Bildungsprozesses in den asiatischen Ländern, die das bestätigen –, dann ist deren Spitzenposition im PISA-Test nicht unhinterfragt als Beweis für ein besonders leistungsfähiges Bildungssystem zu betrachten (Guo 2005; Kyu 2006; Leung, Graf und Lopez-Real 2006; Morrison 2006; Suen und Yu 2006; Woo 2008).

Offensichtlich handelt es sich um sehr einseitige, mehr auf Reproduktion als auf Transformation ausgerichtete Kompetenzen, die im PISA-Test mit hohen Punktzahlen belohnt werden. Darauf weist auch die Tatsache hin, dass die Durchführung standardisierter externer Prüfungen mit 32 Prozent unter allen Variablen der Governance von Schulen im Test von 2009 bei weitem den größten Teil der Varianz in der von PISA gemessenen Lesekompetenz erklärt (OECD 2010b, Figure IV.2.6a).

Nach den OECD-Kateogiren ist das schulsystem Südkoreas durch die folgenden Merkmale gekennzeichnet:
1. a) geringe vertikale Differenzierung des Schulsystems
b) mittlere horizontale Differenzierung des Schulsystems
c) geringe horizontale Differenzierung auf Schulebene
2. a) mehr Schulautonomie für Curriculum und Prüfung
b) mehr Wettbewerb zwischen Schulen um Schülerinnen und Schüler
3. a) häufiger Gebrauch von Test- oder Leistungsdaten für Benchmarking und Information
b) häufiger Gebrauch von Test- oder Leistungsdaten für Entscheidungen
4. a) hohe kumulative Ausgaben von Bildungsinstitutionen für Schüler zwischen 6 und 15
Jahren
b) große Klassen und hohe Lehrergehälter

Hongkong-China unterscheidet sich in diesen Merkmalen nur durch niedrige Ausgaben für Schüler zwischen 6 und 15 Jahren, Shanghai-China ebenso durch niedrige Ausgaben für Schüler zwischen 6 und 15 Jahren und durch weniger Wettbewerb zwischen Schulen, Singapur durch eine hohe horizontale Differenzierung des Schulsystems, weniger Wettbewerb zwischen Schulen und niedrige Ausgaben für Schüler zwischen 6 und 15 Jahren, Japan durch weniger Wettbewerb zwischen Schulen und weniger häufigen Gebrauch von Test- und Leistungsdaten zur Information. Alle asiatischen Länder setzen in gleicher Weise auf hohe Schulautonomie und die Nutzung von Test- und Leistungsdaten für Entscheidungen, und sie arbeiten mit großen Klassen. In Hongkong-China und Südkorea stehen die Schulen außerdem unter hohem Wettbewerbsdruck (OECD 2010b, Figure IV.1.2). Es handelt sich hier um wesentliche Kennziffern des auf hohe Disziplin ausgerichteten paternalistischen Bildungsregimes in der Tradition des Konfuzianismus.

Die Ausnahme Finnland

Neben Finnland schaffen es von den westlichen Ländern nur Kanada und Australien in das Spitzenfeld des PISA-Tests, allerdings nur bis zu den unteren Rängen des Feldes. Die große Ausnahme im Spitzenfeld ist nach den Kategorien im PISA-Bericht 2010 Finnland. Demnach wird Finnland wie folgt eingestuft: geringe vertikale und horizontale Differenzierung zwischen und innerhalb von Schulen, hohe Schulautonomie, aber wenig Wettbewerb zwischen Schulen, wenig Gebrauch von Leistungstests für Benchmarking oder Entscheidungen, hohe kumulative Ausgaben für Schüler im Alter zwischen 6 und 15 Jahren, kleine Klassen und niedrige Lehrergehälter (OECD 2010b; vgl. Sahlberg 2007). De facto ist der Lehrerberuf in Finnland im OECD-Vergleich zwar leicht unterdurchschnittlich bezahlt, aber er ist hoch begehrt. Die Lehrer werden gut aus- und weitergebildet und verfügen über hohe professionelle Autonomie. Die Gesellschaft bringt ihnen hohes Vertrauen entgegen. Dass sich Finnland wesentlich von den asiatischen Ländern in der PISA-Spitzengruppe unterscheidet, sagt uns, dass es auch anders geht. Allerdings gilt auch für Finnland, dass die Schülerinnen und Schüler ihren Lehrern viel Respekt entgegenbringen und vor dem Hintergrund einer Autoritäten achtenden Kultur ihren Anweisungen mehr gehorchen als dies in anderen westlichen Ländern der Fall ist. Zu diesem Ergebnis gelangt in der Tat Hannu Simola (2005) in einer Studie zum finnischen „PISA-Wunder“. Finnland wäre demgemäß kein Beweis dafür, dass auch Länder, die auf die westliche Kultur der Kreativität setzen, in der Spitzengruppe der PISA-Liga mitspielen können. Es fällt außerdem auf, dass Finnland trotz Spitzenergebnissen beim PISA-Test eine der höchsten Jugendarbeitslosigkeitsquoten unter den OECD-Ländern im Zeitraum zwischen 2000 und 2009 aufweist. Sie lag in diesem Zeitraum bei durchschnittlich 18,8 Prozent. Dagegen befand sie sich in den nur in der Mitte der PISA-Rangliste platzierten konservativen Wohlfahrtsstaaten Deutschland, Österreich und Schweiz in diesem Zeitraum bei 11,16, 7,98 und 7,12 Prozent (OECD 2010d).

Sind Spitzenergebnisse im PISA-Test nachahmenswert?

Dieses Ergebnis rückt den PISA-Test in ein anderes Licht, als es der offiziellen, von der OECD gepflegten Rhetorik entspricht. Spitzenwerte im PISA-Test lassen dann nicht unmittelbar auf ein generell leistungsfähiges Bildungssystem schließen, sondern eher auf hochstandardisiertes Lernen ohne Spielraum für Abweichung, Kritik und Kreativität. PISA misst demnach reproduktive Basiskompetenzen, aber keine kritischen, kreativen und produktiven Fähigkeiten. Wenn die Bildungsprozesse in der ganzen Welt nur noch von PISA regiert würden, dann müsste das Potential für Kreativität und Innovation weltweit sinken. Wenn die westlichen Länder den asiatischen in der Errichtung gleichwertiger Pauk- und Testregime nachfolgten, dann ginge ihnen das bis heute gegebene Potential für die Erzeugung von neuem Wissen, neuen Entdeckungen, technologischen und gesellschaftlichen Innovationen insgesamt verloren. Daraus kann gefolgert werden, dass die Erneuerungsfähigkeit der Weltgesellschaft davon lebt, dass nicht alle Länder auf PISA-Konformität getrimmt werden. Das weniger gute Abschneiden der westlichen Länder beim PISA-Test ist demnach ein Vorteil für die Welt.

Literatur
Catuogno, Claudio. 2012. „Besser mit Barbecue. Schwimmerin Lu Ying reflektiert Chinas Drill-Dreiklang.“ Süddeutsche Zeitung Nr. 175, 31.07.2012, S. 31.
Guo, Yugui. 2005. Asia’s Educational Edge: Current Achievements in Japan, Korea, Taiwan, and India. Lanham, MD: Rowman & Littlefield.
Kyu, Lee Jeong. 2006. „Educational Fever and South Korean Higher Education.“ Revista Electrónica de Investigación Educativa 8 (1), S. 2-14.
Leung, Frederick K.S., Klaus D. Graf und Francis J. Lopez-Real. 2006. Education in Different Cultural Traditions. A Comparative Study of East Asia and the West. New York: Springer.
Morrison, Keith. 2006. „Paradox Lost: Toward a Robust Test of the Chinese Learner.“ Educational Journal 34 (1), S. 1-30.
OECD. 2010a. PISA 2009 Results. Volume I. What Students Know and Can Do. Paris: OECD.
OECD.2010b. PISA 2009 Results. Vol. IV. What Makes a School Successful? Paris: OECD.
OECD. 2010c. The High Cost of Low Educational Performance. The Long-Run Economic
OECD.2010d. Employment and Labour Market Statistics. Paris: OECD.
Impact of Improving PISA-Outcomes. Paris: OECD.
Sahlberg, Pasi. 2007. „Education Policies for Raising Student Learning: The Finnish Approach.“ Journal of Education Policy 22 (2), S. 147-171.
Simola, Hannu. 2005. „The Finnish Miracle of PISA: Historical and Sociological Remarks on Teaching and Teacher Education.“ Comparative Education 41 (4), S. 455-470.
Suen, Hoi K. und Lan Yu. 2006. „Chronic Consequences of High-Stakes Testing? Lessons from the Chinese Civil Service Exam.“ Comparative Education Review 50 (1), S. 46-65.
Wolf, Alison. 2002. Does Education Matter? Myths About Education and Economic Growth. London: Penguin Books.
Woo, Jeong-Gil. 2008. „Konfuzianismus im pädagogischen Alltag Südkoreas – Aus kulturvergleichender und autobiographischer Sicht.“ Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 11 (3), S. 475-491.

5 Gedanken zu „Lernen für den Test: Wie der Wettbewerb um Olympia-Medaillen und PISA-Rangplätze das paternalistische Bildungsregime in Asien zum Vorbild macht“

  1. Hallo Leserinnen und Leser,

    Diskussion und Erkenntniisfortschritt entsteht aus dem Widerspruch! Deshalb würde ich es sehr begrüßen, wenn mir jemand widersprechen und eine Lanze für den PISA-Test brechen würde. Aber auch jede andere Art von Kommentar, vielleicht eine Ergänzung oder eine Hinweis auf etwas Interessantes zum Thema sind willkommen. Das Thema ist doch heiß genug, um zur Diskussion herauszufordern. Auch hier geht es um ein Ranking! Vielleicht will mir ein PISA-Forscher oder eine PISA-Forscherin widersprechen. Oder es können Lehrerinnen und Lehrer aus Ihrer Erfahrung berichten. Das wäre schön!

    Richard Münch

  2. Als der Amerikaner Richard Phelps eine olympische Goldmedaille nach der anderen holte, hielt die westliche Welt vor Bewunderung dieser sportlichen Leistung wochenlang den Atem an. Als die Chinesin Lu Ying sich dann ihre erste Goldmedaille erschwomm, waren sich neunmalkluge Sportreporter dagegen sehr schnell einig, das ihre Leistung nur mit äußerst raffiniertem Doping möglich wurde. Nachdem sich diese Behauptung nicht mehr halten lies, musste ihre sportliche Leistung dann eben am erbarmungslosen chinesischen Trainingssystem liegen. Und natürlich lässt sich das alles dann unmittelbar auf den internationalen Vergleich der Schulsysteme übertragen.

    Schaut man sich das Ganze nüchtern an, so ist die Anzahl chinesischer Goldmedaillen nicht besonders beeindruckend. Pro Einwohner (das sicherlich relevanteste Maß für einen derartigen Vergleich) kommt ein Land wie Deutschland hier deutlich besser weg. Überhaupt bedarf es nur mäßigen Aufwandes um aus einer großen Zahl von Anwärtern einige wenige Höchstleistungen herauszufiltern (das zeigt im Übrigen auch ein Blick auf die Gewinner der Mathematikolympiade, die sich nicht unbedingt durch gute Schulsysteme auszeichnen). Effiziente Selektion reicht vielleicht im Sport, wo es nur einen Gewinner geben kann, nicht aber im Bildungssystem, wo die globale Wissensgesellschaft ein breites Spektrum an Talenten erfordert. Genau hier führt die Analyse Richard Münch’s in die Irre, und genau hier sind die PISA-Leistungen Shanghai’s so interessant.

    Der Unterschied zwischen den Schulsystemen Deutschlands und Shanghai’s liegt eben nicht in erster Linie bei den Spitzenleistungen. Shanghai führt den internationalen PISA¬-Vergleich deswegen an, weil es dem Bildungssystem dort gelingt, fast alle Schüler auf ein hohes Niveau zu bringen, weitgehend unabhängig von ihrem sozialen Hintergrund, während letzterer für deutsche Schüler eine wesentliche Barriere für schulischen Erfolg darstellt. Durch eine flexible und effiziente Arbeitsorganisation gelingt es in Shanghai, die talentiertesten Lehrer für die größten pädagogischen Herausforderungen und die besten Schulleiter für die Schulen im schwierigsten sozialen Kontext zu gewinnen. Davon kann Deutschland vieles lernen.

    All das spiegelt sich bereits im Erwartungshorizont der Schüler wider: Lediglich 23% der deutschen 15-Jährigen sehen ihre eigene Zukunft in der Wissensgesellschaft, während es 90% der 15-Jährigen in Shanghai sind. Ebenso interessant ist, dass deutsche Schüler gute mathematische Leistungen in der Regel auf Talent oder sozialen Hintergrund zurückführen, während bei asiatischen Schülern der Glaube an die eigenen Fähigkeiten und das Vertrauen in eine unterstützende Lernumgebung im Vordergrund steht. Das sagt mehr aus über die heutige Wirklichkeit aus, als es Stereotypen über die asiatischen Bildungssysteme die aus einer längst vergangenen Zeit kommen tun.

    Wen die schulischen Leistungen Shanghai’s dann immer noch nicht beeindrucken der behauptet dann, dass chinesische Schüler eben nur auf kognitive Routinefähigkeiten, also Abfragewissen, getrimmt werden, während sie an Lernaufgaben die auf kreativen Fähigkeiten aufbauen scheitern. Dumm nur, dass die PISA Ergebnisse das genaue Gegenteil zeigen. Im Vergleich mit deutschen Schülern sind die 15-Jährigen in Shanghai genau bei den kreativen Problemlösefähigkeiten besonders stark, während sich die deutschen Schüler eher bei der Widergabe von Wissen hervortun. Während wir schliefen hat Shanghai sein Bildungssystem radikal um- und ausgebaut.

    Absurd wird die Analyse Münch’s bei dem Versuch, Wirtschaftswachstum und Wirtschaftsleistungen der Staaten mit den Schulleistungen der heute 15-Jährigen zu erklären. Es ist offensichtlich dass bei einem solchen Vergleich berücksichtigt werden muss, dass die heutige Wirtschaftsleistung von den Bildungsleistungen vergangener Jahrzehnte bestimmt wird und das jedes Jahr nur etwa 2.5% der Schulabgänger in das Arbeitsleben übertreten und damit in zukünftigen Wirtschaftsleistungen wirksam werden können. Berücksichtigt man dies, dann sind kognitive Schulleistungen bei weitem die Besten Preditoren für zukünftiges Wirtschaftswachstum. Das Hoover Institut hat dazu eindrucksvolle Berechnungen angestellt. Davon werden wir noch einiges hören.

  3. Der Widerspruch ist also da, und auch noch von höchster Stelle! Dafür herzlichen Dank an Andreas Schleicher. Er verweist zu Recht auf drei Punkte, die der genaueren Betrachtung bedürfen: (1) die Relativierung der Olympia-Medaillen auf die Bevölkerungszahl, (2) die Leistungsfähigkeit eines Bildungssystems nicht nur in der Spitze, sondern auch in der Breite und (3) der Zusammenhang zwischen Bildung und Wirtschaftswachstum.

    Bezogen auf die Bevölkerungsgröße, stellen sich die Erfolge Chinas bei der Olympiade in London in der Tat nicht mehr als phänomenal dar. In dieser Hinsicht sehen die USA besser aus, Deutschland noch besser, Großbritannien noch viel besser und erst recht die Niederlande auf Rang 13 des Medaillenspiegels. Bleiben wir aber dennoch bei den Erfolgen Chinas, dann ist doch der riesige Abstand zu Indien, dem zweiten besonders bevölkerungsreichen Land Asiens interessant. Den 88 Medaillen Chinas stehen nur 6 von Indien gegenüber. Das hat dann wohl doch etwas mit Unterschieden in der Sportförderung und ihrer institutionellen und kulturellen Einbettung zu tun. Indien bzw. ein besonders fortgeschrittenes indisches Bundesland sind auch bei PISA nicht dabei. Es ist zu vermuten, dass Indien wohl in der Spitze mithalten könnte – worauf die weltweit gefragten indischen Software-Spezialisten verweisen -, aber nicht in der Breite.

    Genau in der effektiven Bildung in der Breite sieht Andreas Schleicher den großen Erfolg insbesondere Shanghais im PISA-Test, so gerade auch im Vergleich zu Deutschland. Hier müssen wir allerdings relativieren und in Rechnung stellen, dass Shanghai nicht ganz China repräsentiert, sondern einen besonders urbanisierten Teil Chinas, wo sich die neue, wirtschaftlich erfolgreiche Mittelschicht konzentriert. Es soll damit jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass es auch in diesem Ballungszentrum Problemzonen gibt, die offensichtlich besonders aufmerksam gefördert werden. Auf dem Land dürfte es jedoch ganz anders aussehen, vemutlich deutlich schlechter als in Deutschland, wo die ländlichen Regionen weitgehend in das urbane Leben einbezogen sind, wenn auch der neue Zug in die Stadt die Ungleichheit zwischen Stadt und Land auch hierzulande wieder größer werden lässt.

    Ein Teil der relativ homogenen Leistungen der Schülerinnen und Schüler in Shanghai müsste demnach der relativ homogenen Bevölkerungsstruktur geschuldet sein. Trotzdem müssen diese Leistungen durch ein gutes Schulmanagement, engagierte Lehrer und lernwillige Schülerinnen und Schüler erst einmal erbracht werden. Sie kommen nicht von alleine. Und hier fällt doch auf, dass es neben Shanghai mit Hongkong, Südkorea, Singapur und Japan weitere ostasiatische Länder sind, die an der Spitze der PISA-Rangliste stehen. Die Vermutung, dass die Lerntradition des Konfuzianismus dabei eine nicht unerhebliche Rolle spielt, ist kein aus der Geschichte übernommenes Vorurteil, sondern ein von der aktuellen Forschungsliteratur, aus der ich einige Studien aufgelistet habe, sehr ernst genommener Erklärungsfaktor für die Spitzenleistungen der genannten Ländergruppe bei internationalen Vergleichstests. Vor allem fünf Faktoren kommen dabei offensichtlich zusammen: (1) die entscheidende Bedeutung des Übertritts in eine hochrangige Universität für die berufliche Karriere und die tiefgreifende Ausrichtung der schulischen Karriere breiter Schichten auf dieses Ziel, (2) die uneingeschränkte Unterwerfung unter die Autorität des Lehrers, (3) die in großer Breite vorzufindende Bereitschaft der Schülerinnen und Schüler, ihren Alltag auf das Lernen in der Schule und für die Schule einzustellen, (4) die Ausrichtung des Lernens auf Leistungstests und (5) die hohe Affinität der Testaufgaben in internationalen Leistungstests zu den im eigenen Land eingeübten Testkompetenzen. Dass dabei das Lernen für den Test Vorrang vor der Erprobung von Kritikfähigkeit hat, wird ebenfalls von der Forschungsliteratur bestätigt.

    Ene Studie legt dar, dass das Lernen für den Test charakteristisch für das nahezu 1300 Jahre praktizierte Prüfungssystem für die Aufnahme in den öffentlichen Dienst war und zu vier typischen Folgen führte: (1) „memorizing by rote of model performances“, (2) „focussing on test-taking skills and surface features“, (3) „cheating“ und (4) „psychopathological effects on the examinee“ (Suen und Yu 2006, S. 51-60). Die Literatur zum gegenwärtigen konfuzianisch geprägten Lernregime, legt nahe, dass all dies auch zur heutigen Realität des Lernens gehört. Dagegen verweist allerdings Andreas Schleicher darauf, dass die Schülerinnen und Schüler in Shanghai im PISA-Test ausgerechnet bei den kreativen problemlösenden Aufgaben besser abgeschnitten haben als die deutschen, die sich eher bei der Wiedergabe von Wissen hervorgetan haben. Wie ist dieses Ergebnis einzuschätzen? Meine Antwort lautet hier, dass vor dem Hintergrund der erwähnten Forschungsliteratur zum Lernen unter konfuzianischem Einfluss daran zu zweifeln ist, dass die problemlösenden Aufgaben im PISA-Test das messen, was wir in der Tradition der westlichen Kultur unter Kreativität verstehen. Problemlösende Aufgaben testen vermutlich genau diejenige Fähigkeit, die Thomas Kuhn(1967) als Rätsellösen der Normalwissenschaft unter der unbefragten Herrschaft eines Paradigmas zugeordnet hat. Davon ist eine Kreativität zu unterscheiden, die aus dem Infragestellen des herrschenden Wissens erwächst und einen revolutionären Umbruch einleitet. Natürlich kann das nicht die Sache einer jeden Schülerin und eines jeden Schülers sein. Aber es muss auch in der Schule einen Spielraum dafür geben. Und dieser Spielraum wird zu sehr eingeengt, wenn PISA und erst recht die Spitzenreiter in der PISA-Tabelle vorgeben, was wir unter Bildung zu verstehen haben und wie wir den Bildungsprozess gestalten sollen.

    Dennoch ist es völlig legitim, ein Bildungssystem auch daran zu messen, wie breit es die Schülerinnen und Schüler mitnimmt. In gewissem Maße besteht wohl ein Trade-off zwischen dem Spielraum für Kreativität und der breiten Vermittlung von Basiskompetenzen. Hier muss der richtige Weg zwischen diesen beiden legitimen Zielen gefunden werden. Es könnte jedoch sein, dass PISA das Gewicht zu weit auf die Seite der breiten Vermittlung von Basiskompetenzen verschiebt und die Kreativität darunter leidet. Und es steht keineswegs fest, dass PISA den richtigen Weg für die breite Inklusion der Heranwachsenden in die Gesellschaft weist. PISA steht für die globale Ausbreitung eines Testregimes, das auf nationaler Ebene eine noch tiefer greifende Ausrichtung von Schule und Unterricht auf Leistungstests mit Konsequenzen für Lehrer und Schüler zur Folge hat. Ein solches, einseitig auf kognitive Kompetenzen ausgerichtetes Testregime produziert frühzeitig Versager, die kaum noch Chancen auf eine berufliche Karriere haben, obwohl viele Berufe deutlich mehr soziale als kognitive Kompetenzen verlangen. In vielen Ländern, die der OECD-Strategie der Expansion der Sekundar- und Tertiärbildung gefolgt sind, gibt es eine wachsende Zahl von Hochschulabsolventen ohne Arbeit, in prekärer Beschäftigung oder in gering bezahlter Arbeit. Das Versprechen, dass mehr Bildung zu einem höheren Lebensstandard führt, konnte für sie nicht eingelöst werden (Brown et al. 2011). Es stimmt eben nicht, dass die Sozialpolitik komplett durch Bildungspolitik ersetzt werden kann. Vielmehr schaft die Bildungsexpansion neue soziale Probleme. Auffallenderweise ist in den liberalen Ländern, die in besonderem Maße auf die Bildungsexpansion gesetzt haben und dadurch mehr Chancengleichheit im Zugang zur höheren Bildung erreicht haben, zugleich die Einkommensungleichheit besonders stark gestiegen. Es ist deshalb ein Irglaube, zu denken, das man mit der möglichst breiten Inklusion der Bevölkerung in die höhere Bildung zugleich für die bestmögliche soziale Integration der Gesellschaft sorgen würde. Die OECD schürt diesen Glauben mit dem Paradigma der Wissensgesellschaft.

    Damit sind wir auch beim Zusammenhang zwischen Bildung und Wirtschaftswachstum. Zweifellos trägt eine gut ausgebildete Arbeitnehmerschaft dazu bei, das Wirtschaftswachstum voranzutreiben. Was aber „gut ausgebildet“ heißt, ist eine völlig offene Frage. Lange Zeit war Deutschland der Prügelknabe des OECD-Benchmarkings, auch weil dessen duales Berufsbildungssystem im OECD-Vergleich nicht adäquat erfasst wurde und mit zu einer relativ niedrigen Quote von Hochschulabsolventen beigetragen hat. Dabei stellt sich ein Facharbeiter bei Volkswagen in Deutschland bestimmt besser als ein College-Absolvent bei McDonald`s in den USA. Heute gilt Deutschland mit seiner gerade auf dem dualen Ausbildungsystem beruhenden Exportindustrie als Vorbild, das andere Länder schon gar nicht mehr nachahmen können, weil sie zu weit davon entfernt sind, auch Länder wie Großbritannien, die einmal über eine solche Industrie verfügten. Folgen wir dem Forschungsansatz der Varieties of Capitalism von Hall und Soskice(2001), dann liefert gerade das duale Ausbildungssystem diejenigen Kompetenzen, die benötigt werden, um inkrementale Innovationen zu fördern. Es muss also viel genauer gefragt werden, welche Art von Wissen und Kompetenzen in einer Wissensgesellschaft gebraucht werden, in der es nach wie vor viele Routinetätigkeiten, viele technisch anspruchsvolle Tätigkeiten und einige wissenschaftlich höchst anspruchsvolle Tätigkeiten geben wird. Mit dem Einheitsmaß der Absolventenquote der tertiären Allgemeinbildung – sprich: Bachelor – wird man diesen Anforderungen nicht gerecht. Dasselbe gilt für den Zusammenhang zwischen PISA-Punkten und Wirtschaftswachstum. Ich wollte nur darauf hinweisen, dass es Schwellenländer mit sehr unterschiedlichen PISA-Ergebnissen und gleichwohl hohen Wachstumsraten gibt, ebenso Industrieländer mit unterschiedlichen PISA-Ergebnissen und relativ niedrigen Wachstumsraten, also der Entwicklungsstand mehr über die Wachstumsrate sagt als das PISA-Ergebnis, dementsprechend die Rechnung nicht so leicht aufgeht, dass sich die Länder nur um bessere PISA-Ergebnisse bemühen müssten und schon hätten sie höhere Wachstumsraten. Noch viel komplizierter wird es, wenn man sich der Frage widmet, welches Bildungssysten nun für ein bestimmtes Land genau die richtige Mischung von Kompetenzen hervorbringt. Das OECD-Benchmarking und PISA bringen dabei die Gefahr mit sich, Bildung zu sehr über einen Kamm zu scheren und die Welt so zu vereinheitlichen, dass sie einen großen Verlust an Diversität erleidet, die bekanntlich die wichtigste Quelle für Innovation und Fortschritt ist. Und wirtschaftliches Wachstum ist ja nicht das einzige Kriterium, an dem wir Bildungssysteme messen wollen. Die Arbeitslosenquote für Jugendliche und junge Erwachsene und die Einkommensungleichheit sind auch für die OECD mindestens genauso relevant. Aber auch Bildung im klassischen Sinn und Kreativität sind Kriterien, die nach wie vor Gültigkeit haben und auf dem Wege der globalen Standardisierung nicht auf der Stecke bleiben sollten.

    Literatur

    Brown, P., H. Lauder und D. Ashton. 2011. The Global Auction. The Broken Promises of Education, Jobs and Incomes. Oxford: Oxford University Press.

    Hall, P. und D. Soskice (Hg.).2001. Varieties of Capitalism. Oxford: Oxford University Press.

    Kuhn, T. 1967. Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

    Suen, H. K. und L. Yu. 2006. „Chronic Consequences of High Stakes Testing? Lessons from the Chinese Civil Service Exam.“ Comparative Education Review 50(1), S. 46-65.

  4. Ich möchte – vermutlich zu verspätet – die Diskussion zwischen Andreas Schleicher und Richard Münch kurz kommentieren. Leider habe ich etwas zu viel geschrieben – ich würde mich aber freuen, wenn irgend jemand zumindest das Fazit am Ende liest…

    Man muss m.M. nach vier Dinge berücksichtigen, wenn man über China und PISA-Test redet:
    1. Aufgrund der „Test-Intelligenz“ der chinesischen Schüler werden Chinesen zweifellos in Test relativ zu Europäern besser abschneiden. Beispielsweise erreichen Chinesen meinen Beobachtungen nach regelmäßig hohe Punktzahlen in TOEFL und Test DaF, auch wenn ihre tatsächlichen Sprachkompetenzen niedrig sind. Insofern ist eine Kritik des PISA-Tests als Instrument des Internationalen Vergleiches sicherlich angemessen.
    2. Umgekehrt werden chinesische Schule und Studierende im mündlichen Bereich vermutlich regelmäßig unterschätzt. Das chinesische Schulsystem legt kaum wert auf Präsentationen, Referant und Sprechen vor Gruppen. Insgesamt verhalten sich Chinesen bzw. sogar alle Ostasiaten (nach deutschen Maßstäben) „Schüchtern“ ggü. Lehrern und Klasse. (So lange sie kein Mikrophon in der Hand halten). Anders gesagt: Bestimmte Indikatoren für Kreativität und Kompetenz, z.B. proaktives einbringen von Ideen, aggressives Argumentieren etc. werden kaum trainiert. Das heist nicht, dass die Schüler nicht kreativ SIND, sondern nur, dass sie nicht die (westliche) Selbstdarstellungs-Kompetenz besitzen (hier sei natürlich auf Goffman und Bourdieu verwiesen!). Dies wird allzuschnell als Bestätigung des Vorurteils der asiatischen Auswenig-Lerner herangezogen!
    (Dies ist mein persönlicher Eindruck, allerdings auch das Ergebnis bei Liu 2001. Insofern muss man die Balance zwischen Test-Basierter Überschätzung und intuitiver Unterschätzung asiatischer Schüler und Studenten schaffen.)
    3. Herr Schleicher hat Recht: Aus irgend einem Grund sprechen sich Chinesen selbst eine sehr hohe Agency zu – sehr viel höher als Deutsche. M.M. wäre es aber Falsch, anzunehmen, dass dies eine Leistung des Schulsystems sei: Alpermann (2011) konnte (bisher nur Vorläufig) eine ebenso hohe subjektive Agency bei Schwarzhändlern am Straßenrand feststellen: Auch sie glaubten, es durch Fleiß und harte Arbeit schaffen zu können. Der „American Dream“ in China ist eben nicht nur bei Schülern, die tatsächlich reich werden könnten verbreitet, sondern auch bei „objektiv“ nahezu hoffnungslosen Wanderarbeitern etc.
    4. Das Chinesische Schulsystem ist Transparenter als das Deutsche: Wer funktioniert (bzw. erfolgreich „trivialisert“ wurde, wie H.v.Foerster 1993, 206f sagt), der wird belohnt. Dem deutschen Schulsystem ist es nicht gelungen, eine solche Transparenz herzustellen. Und dies gilt auch für das Universitätssystem: Offensichtlich gelingt es in Deutschland nicht, Studienplatz-Nachfrage und Jobchancen zu koordinieren, was dann in hunderten engagierter Geisteswissenschaftlern resultiert, die faktisch am Produktiven einbringen ihrer Fähigkeiten gehindert werden. Und ihre Erfahrungsberichten wirken m.E. zurück auf die Motivation der noch studierenden Individuen.
    Wer Erfolg und Misserfolg des chinesischen Schulsystems beurteilen will, muss daher die Trivialisierung durch Test-Wahn (die auch von Chinesen massiv kritisiert wird) gegen den Vorteil der Transparenz, den hochstandartisierte Tests mit sich bringen, abwägen. Bzw. einen Weg aufzeigen, wie man dies ohne Standartisierung erreich kann.
    Transparenz meint hier übrigens nicht soziale Mobilität: Zwar ist die Schichtspezifische Durchlässigkeit des chinesischen Schulsystems dank der Tests vermutlich höher als in Deutschland. Aber dafür gibt es eine größere Regionale Ungerechtigkeit: Wer Beijing hukou besitzt, benötigt weniger Punkte im „Abitur“, um an die Eliteuni Beijing-Daxue zu dürfen. Die Eliteunis liege aber alle in ohnehin schon sozial bevorzugten Regionen. Auch sonst schneiden unterentwickelte Regionen im Bildungsbereich schlechter ab. Schließlich haben Personen ohne entsprechende Netzwerke (Guanxi) weniger Hoffnungen auf gute Jobs – und diese Netzwerke hängen noch stärker als im Westen von (familiären) Strong Ties ab. (So zumindest noch zu Zeiten von Bian 1997). Folge davon ist, dass Bauernkinder auch mit Uni-Abschluss (Eliteunis seien einmal ausgenommen) massive Nachteile am Arbeitsmarkt haben. Positive Effekte müssen also tatsächlich mit der Transparenz innerhalb des Schulsystems, und nicht mit der hohen sozialen Mobilität der Gesamtgesellschaft zusammenhängen! (Wobei natürlich auch eine Art „kollektive Erinnerung“ an die tatsächlich sehr durchlässigen 80er und frühen 90er wirken könnte).
    5. Shanghai mit China gleichzusetzen, ist problematisch. Ich bin sicher, dass der PISA Test in Shanghai nur Schüler testete, deren Eltern ein Shanghai hukou (= einen „Pass“ für Shanghai) besitzen. Die von Münch berichteten Probleme müssten aber in ganz China (bei ähnlichem Schulsystem) auftreten. Und dies ist m.M. nach tatsächlich der Fall. Von einem Einsatz der Lehrer in sozial schwachen Gebieten kann Chinaweit keine Rede sein: Aus oben genannten Gründen würde kein erfolgreicher Lehrer sich oder seinen Kindern ein minderwertiges Hukou aufbürden – man bleibt in Shanghai, Beijing und co., wenn man es erst einmal in diese Städte geschafft hat.

    –> Soziale Mobilität und Förderung soziale Schwacher ist daher möglicherweise Shanghai-Intern tatsächlich besser als in Deutschland. Aber Landesweit sagt das gar nichts aus. Schicht-Ungerechtigkeit wird in China noch stärker als in Deutschland auf regionale Ungerechtigkeit umgelagert. Es bleibt also abzuwarten, welche Auswirkungen ein Abbau der regionalen Ungleichheit in China in der Zukunft bringen wird. Hinzu kommt eine Tendenz, Chinesen in standartisierten Tests zu überschätzen!

    Fazit daher: Aus hohen PISA-Punkten in Shanghai auf eine überlegenheit des gesamten chinesischen Schulsystems zu schließen, ist höchst fragwürdig. Genauso fragwürdig ist es, die Ergebnisse für Shanghai irgendwie mit dem Erfolg des Nationalstaats China in Verbindung zu bringen. Am sinnvollsten wäre es, gar keine Schlüsse aus dem PISA-Test zu ziehen, sondern ihn nur als Anregung für weiterführende Forschungsfragen zu sehen, die dann kultursensibler und differenzierter Arbeiten müssten! Insofern ist die Kritik von Herrn Münch berechtigt – nicht so sehr die Beurteilung des chinesischen Schulsystems. Aber ganz sicher die Kritik an einer Ableitung erziehungspolitischer Handlungsziele in Deutschland aus den Daten der PISA-Studie. (die – in Luhmannscher Sprache – tatsächlich als DATEN und nicht schon als Informationen behandelt werden sollten, denn wir wissen eben nicht, welche Unterschiede diese Daten tatsächlich für uns machen. Und die Sozialwissenschaften haben – leider – noch nicht die nötige China-Expertise aufgebaut, um zu beurteilen, was das hohe PISA-Ergebnis in China eigentlich bedeutet).

    Dennoch, und hier stimme ich Herrn Schleicher aus ganzem Herzen zu, tendiert die Ausführung von Herrn Münch dazu, bestimmte Stereotype über China (Lern-Robotter, Unnachhaltige Aufholstrategien usw.) zu bestätigen, die unbedingt differenzierter gesehen werden müssten – einfach deshalb, weil wir kaum etwas so dringen benötigen wie ein differenzierteres Chinabild in der Öffentlichkeit!

    Alpermann, Björn (2011): Bauer, Händler, Produktpirat: Soziale Identitäten in China im Wandel. In: Kompetenznetz Regieren in China, Background Papers (2).
    Bian, Yanjie (1997): Bringing strong ties back in: Indirect ties, network bridges, and job searches in china. In: American Sociological Review 62, S. 366–385.
    Foerster, Heinz von (1993): Zukunft der Wahrnehmung: Wahrnehmung der Zukunft 1972. In: Heinz von Foerster und Siegfried J. Schmidt (Hg.): Wissen und Gewissen. Versuch einer Brücke. Frankfurt am Main (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 876), S. 194–210.
    Liu, Jun (2001): Asian students‘ classroom communication patterns in U.S. universities. An emic perspective. Westport: Greenwood Publishing Group.

  5. Habe zufällig mit nahezu vierjähriger Verspätung nochmals reingeschaut und erst jetzt den Kommentar entdeckt. Ich möchte mich für den sehr differenzierten und weiterführenden Kommentar bedanken!

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