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Algorithmen als autonome Akteure?

Im letzten Blog habe ich den ‚verdünnten’ Handlungsbegriff in einige Bereichen der qualitativen Sozialforschung kritisiert. Besonders deutlich zeigen sich die Folgen eines solchen Handlungsbegriffs in der neueren sozialwissenschaftlichen Diskussion über die Dynamik des Finanzmarktes.

Dort ist nämlich ein neuer Kandidat für die Akteursrolle aufgetaucht, dem oft eine entscheidende Rolle bei der Gestaltung der Gesellschaft der Gegenwart zugeschrieben wird: der Algorithmus. Wurde noch vor einigen Jahrzehnten die Maschine als wichtiger Kandidat für die Position des eigenständigen Akteurs gehandelt, so sind es heute nicht mehr die Maschinen selbst, sondern die ihnen innewohnenden elektronisch codierten und materiell eingeschriebenen Steuerungseinheiten, die Algorithmen, die selbst wieder Kalkülen aufruhen. Selbst Wissenschaftler/innen, die ansonsten vorsichtig sind, Objekten eine Agency zuzuschreiben, knicken beim Algorithmus ein und räumen ihm nicht nur Handlungsvermögen und Handlungsmacht, sondern auch Entscheidungsfähigkeit ein (so auch Karin Knorr-Cetina).

Die Frage lautet: Entscheiden Algorithmen wirklich oder was tun sie oder: Was lässt man sie tun? Entscheidend für die Beantwortung der Fragen ist allerdings die Vorstellung von Agency. Liegt dann eine Agency, also eine Handlungsmacht, vor, wenn etwas in den Lauf der Welt so eingreifen kann, dass es einen Unterschied macht oder ist nur dann sinnvoll, von Agency zu sprechen, wenn ein Akteur sinnhaft so in die Welt eingreift, dass ein Unterschied entsteht, also wenn ein Akteur auch versucht, sinnhaft die Welt in irgendeiner Weise zu lenken.

Nun sind Algorithmen, auf mathematischen Kalkülen aufruhend, erst einmal nur mathematische Repräsentationen von Sachverhalten und Verfahrensvorschriften. Sie haben die Form: Wenn X der Fall ist, dann soll Y folgen. Algorithmen bestehen aus einer endlichen Folge von eindeutig definierten und vorgegebenen Handlungsschritten und Verfahrensvorschriften, welche genau definierte Probleme oder genau definierte Typen von Problemen ‚lösen’ sollen. Insofern werden Algorithmen als standardisierte Problemlöser für standardisierte Probleme von Menschen eingesetzt. Menschen geben ihren Maschinen mittels Algorithmen Aufträge – nämlich den Auftrag, in einer bestimmten Situation X, die Handlung Y zu vollziehen. Insofern sind Algorithmen immer Imperative – Imperative, die sich an Menschen oder an Technik richten, oder aber auch an andere Algorithmen. Und da diese Imperative auch Maschinen beigegeben werden können, die in der Lage sind, in Bruchteilen von Sekunden die Situation zu erfassen und zu bewerten, verbessern die Menschen, die sie nutzen, mit diesen Maschinen ihre Fähigkeit, auf Situationen bedacht, also überlegt zu reagieren, enorm.

Das gilt natürlich auch und vor allem für das algorithmic trading (auch flash-trading oder e-trading), das auf einer quantifizierten Kalkulation und auf induktiv ermittelten Vorhersagen beruht. Der Trading-Algorithmus ist so konstruiert und gebaut, dass er auf der Basis von Wahrscheinlichkeitsberechnungen selbst minimale Veränderungen des Marktes ‚erkennen’ und dann ‚automatisch’ Kaufentscheidungen tätigen kann. Entscheidend ist, dass der Computer automatisch und ungeheuer schnell, aber nicht unabhängig vom menschlichen Trader, entscheidet, wie dies oft behauptet wird (z.B. Kissell & Malamut). Dieses schnelle und automatische Entscheiden auf dem Aktienmarkt mag zwar für viele Trader (und Beobachter) eine ‚revolution of trading’ sein, aber es ist definitiv kein Aufstand der Dinge gegen den Menschen. Computer sind nur sehr viel schneller als Menschen, ersetzen sie jedoch nicht.

Trading-Algorithmen führen auch kein eigenes Leben – auch wenn es manchen so erscheint. Selbst dann, wenn sie unerwartete Entscheidungen treffen, wenn sie scheinbar allein mit anderen Algorithmen ‚interagieren’ (also wenn scheinbar nur noch die Maschinen aufeinander reagieren) und wenn sie Folgen produzieren, die niemand wollte und voraussehen konnte (was schon mehrfach geschehen sein soll, z.B. der Black Monday am 19.10 1987), selbst dann bewegen sie sich in der Sinnhaftigkeit der Erzeuger der Algorithmen.

Der Algorithmus ist also eine spezifische Form, mit der Menschen Maschinen bestimmte Befehle geben. Wenn also Menschen sich entscheiden, bestimmten Algorithmen die Lösung von bestimmten Aufgaben zu überlassen, dann handeln die Algorithmen nicht selbstständig, sondern sie sind lediglich der erweiterte und ausgelagerte ‚Arm’ des Menschen oder die mathematisch codierte und niedergelegte Entscheidung, in einem bestimmten Fall sehr schnell etwas Bestimmtes zu tun. Algorithmen sind also in keiner Weise eigenständig (nur automatisch) und wenn Algorithmen ‚entscheiden’, tun sie das nur so und nur auf diese Weise, die ihnen ihr menschlicher Programmierer mit und eingeschrieben hat.

Aus dieser Sicht sind nicht die Algorithmen Akteure, sondern die Menschen, die zum einen die Algorithmen schreiben und zum zweiten die Menschen, die den Algorithmen in bestimmten, fest definierten Situationen bestimmte Aufgaben zur Erledigung anvertrauen. Wenn man in der Soziologie jedoch die Algorithmen als eigenständige Akteure in den Blick nimmt, übersieht man gerade das Soziale in den Algorithmen, übersieht, dass hinter den Algorithmen Menschen mit Interessen stehen, die das Wirken der Algorithmen verständlich machen. Mit Hilfe der Algorithmen handeln Menschen in bestimmten Situationen in spezifischer Weise auf einem globalen, hart umkämpften Markt. Die, welche diese Mittel einsetzen, tun dies, weil sie sich Vorteile davon erhoffen. Und die, welche nicht die finanziellen Mittel haben, mit Algorithmen zu arbeiten, erzielen auf dem Markt weniger Gewinne. Wer die Algorithmen zu Akteuren erklärt, verdunkelt somit die soziale Dynamik oder genauer gesagt die massiven gesellschaftlichen Auseinandersetzungen hinter dem Einsatz der Algorithmen.

Nebenbei betreibt man mit solchen verdunkelnden Formulierungen die Affirmation des Bestehenden: Soziale Vorgänge, die durchaus interessengeleitet sind, werden als quasi natürliche, nicht-menschliche Vorgänge objektiviert, ausgelagert und damit überhöht.

Diese Sprechweise von den Algorithmen als Akteure ist nicht nur unangemessen, sondern sie verdeckt und verbirgt zugleich: Sie kann nicht verstehen und erklären, was der Fall ist, was sich gerade ereignet und gibt damit das Ziel der Soziologie und der Sozialforschung preis. Eine solche Forschung leistet gerade nicht das, was Soziologie verlangt, nämlich die Aufklärung von sozialem Geschehen mit dem Ziel, Entwicklungen in der Gesellschaft und Zusammenhänge zu verstehen und zu erklären, auf dass auch eine gesellschaftliche Entscheidung darüber möglich wird, ob man den Entwicklungen ihren Lauf lässt oder ob man sie einhegt oder ihnen eine andere Richtung gibt.