Von der Erschöpfung zur Erneuerung utopischer Energien?

Jürgen Habermas sprach in den frühen 1980er Jahren von einer „Erschöpfung der utopischen Energien“, die mit der „Krise des Sozialstaates“ einherginge. Seither wurden viele sozialstaatliche Errungenschaften demontiert. Die von konservativen Regierungen unter Reagan, Thatcher und Kohl begonnenen neoliberalen „Strukturanpassungen“ wurden in unterschiedlicher Akzentuierung indes auch unter Clinton, Blair und Schröder fortgeführt. Statt zum Ausbau der Demokratie kam es auch unter sozialdemokratischer Regierungsführung zum Abbau öffentlicher Leistungen, zur Vertiefung sozialer Ungleichheiten und sich verbreitender Prekarisierung. Die enormen Produktivitätsgewinne aus Automation, Digitalisierung und Globalisierung wurden weitestgehend von Unternehmen einkassiert. Oligopolistische Großkonzerne wie Amazon, Facebook, Google und Microsoft durften sich sogar über Jahre hinweg ernsthafter Besteuerung entziehen. Zwar hängt die jüngste Welle von Wahlerfolgen rechtsgerichteter Demagogen mit autoritär-populistischen Programmen von einer Vielzahl je nach Land in der Gewichtung variierender Faktoren ab, ermöglicht worden ist sie aber insbesondere von einem eklatanten Mangel an demokratischen Visionen.

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Zu wenig Soziologie?

Eigentlich wollte ich hier etwas ganz anderes schreiben. Es sollte erst das Thema „Komplexität“, dann „Terror“ und dann (selbstverständlich) „Fuzzy-Logik“ behandelt werden. Dann aber habe ich mich zweimal geärgert: Das erste Mal nach einer Veranstaltung im Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen nach einem Vortrag von Herfried Münkler. Schöner Vortrag! Danach gesellte sich an den Schnittchenstehtisch ein mir bis heute unbekannter Mensch zu uns und fragte zunächst, ob mein von mir sehr geschätzter Gesprächspartner (Prof. Dr. El-Mafaalani) und ich auch Promovenden am KWI seien. Darüber müsste man sich nicht gleich ärgern, sondern könnte das unserem jugendlichen Antlitz zuschreiben und als Kompliment verstehen. Ich fürchte nur, so war es nicht gemeint. Denn wir hatten uns zuvor bereits als Soziologen „geoutet“ – und wenn die dann auch noch lange Haare haben…. Da haben wohl alle Vorurteile direkt getriggert. So ging es direkt dann auch (sinngemäß) weiter mit der Frage, wieso die Soziologie denn der Gesellschaft nichts mehr zu sagen habe und eigentlich sei deren Wissenschaftlichkeit ja in Frage zu stellen, wenn dieser gesellschaftliche Output nicht vorhanden sei. Nun ja, Rückzug, das Gespräch mit Aladin El-Mafaalani über die eigenen Forschungen zu Terrorismus und die Salafistenszene wurde vor der Tür fortgesetzt.

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Historiker und Theorie

Es gibt noch einen Unterschied zwischen Soziologen und Historikern, jedenfalls bei denen, die sich in einem Interesse für Theorie treffen. Erstere denken von der Theorie her, Letztere von der Empirie. Meine Stichprobe, gebe ich zu, ist klein. Auf der einen Seite ein Oldenburger (Sport-)Soziologe und dessen intellektuelles Netzwerk, auf der anderen Seite ich und meines. Wir beide diskutieren gut miteinander. Er praktiziert ein permanentes „re-reading“ von Theorien, hat Details parat, beobachtet präzise Verschiebungen in der Theoriearbeit einzelner Autoren und präsentiert empirische Befunde in der Sprache dieser Theorien. Wenn es in einer Theorie ein Loch gibt, stopft er es mit Elementen einer anderen; in langen Durchläufen unterschiedlichster Texte werden immer neue Architekturen errichtet, die dann — über die intellektuelle Anregung hinaus — ganz materielle Effekte zeitigen können, etwa ein erfolgreich beantragtes Graduiertenkolleg. „Historiker und Theorie“ weiterlesen

Warum kommunikativer Konstruktivismus?

Im letzten Blogbeitrag habe ich einige Missverständnisse des sozialen Konstruktivismus angesprochen. Dabei habe auch darauf hingewiesen, dass es daneben einige berechtigte Kritiken an diesem sozialtheoretischen Ansatz gibt. Diese Kritik ist der Grund für die Versuche zur Fortentwicklung dieses Ansatzes in Richtung auf das, was als „kommunikativer Konstruktivismus“ bezeichnet wird. Damit ist eine mittlerweile durchaus ansehnliche Bewegung gemeint, die unter anderem von Jo Reichertz (2010) mit seinem prägnanten Konzept der Kommunikationsmacht und, in einer „diskursiven“ Fassung, auch von Reiner Keller getragen wird (Keller, Knoblauch und Reichertz 2013). Ich möchte diesenen Ansatz hier etwas skizzieren, indem ich auch auf weitere Kritik des sozialen Konstruktivismus eingehe.

Wie kam es zum kommunikativen Konstruktivismus?

Das Wort kommunikativer Konstruktivismus hatte ich erstmals in meiner Habilitation verwendet, die im Frühjahr 1994 abgeschlossen wurde[i]; im Herbst desselben Jahres erschien auch ein Band zum 65-jährigen Geburtstag von Thomas Luckmann, den Sprondel (1994) den Untertitel  „Die Objektivität kommunikative Ordnungen und ihre kommunikative Konstruktion“ gab.

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