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Werturteilsproblem – Ideologie – Einheit der Gesellschaftswissenschaften

Hans Albert zum 100. Geburtstag von Andrea Maurer

Hans Albert feierte am 8. Februar 2021 seinen 100. Geburtstag. Er zählt zu den Sozialwissenschaftlern, die den Nationalsozialismus und den II. Welt­krieg als junge Schüler und Studenten miterlebten und deren wissenschaftli­che Laufbahn geprägt war vom Wiederaufbau der Gesellschaft, Wirtschaft und der Sozialwissenschaften bzw. Universitäten. Hans Alberts Beitrag dazu ist vor allem in der methodologischen Fundierung der Sozialwissenschaften mit Bezug auf Karl Popper und den daraus folgenden Prinzipien zu sehen, die heute als ›Kritischer Rationalismus‹ zusammengefasst werden.

Sozialwissenschaften im 20. Jahrhundert: der Werturteilsstreit

Hans Albert hatte sich nach dem Krieg an der Universität Köln eingeschrie­ben und sich laut eigener Aussage im Selbststudium Max Weber und Karl Popper angeeignet, die im Studium nicht direkt behandelt wurden. Schon in seiner Diplomarbeit hat er sich mit Werturteilen in der Nationalökonomie auseinandergesetzt (Albert 2003). Für ihn wurde Karl Popper und dessen erkenntnistheoretisches Programm zum wichtigsten Werkzeug, um sich mit der Bildung und Wirkung von Ideologien kritisch auseinanderzusetzen, wie es ihm in Anbetracht der Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus uner­lässlich schien. Das ist sein Lebensthema (1968; 1996; 2010). ›Das Traktat über kritische Vernunft‹ (1968) und die Aufsatzsammlung ›Marktsoziologie und Entscheidungslogik‹ (1998) legen seine Position im dafür wichtigen ›Werturteils- oder auch Positivismusstreit‹[1] dar und bilden die Grundlage der erfahrungswissenschaftlich orientierten Sozialwissenschaften bis heute. Deren Kernaufgabe besteht nach Hans Albert, im Auffinden, präzisen For­mulieren und empirischen Prüfen allgemeiner Aussagen über Zusammen­hänge in der Welt. Die soziale Welt wird dabei als objektiv und von der menschlichen Erkenntnis unabhängig strukturiert angesehen. Das Kernpro­gramm des ›Kritischen Rationalismus‹ basiert weiterhin auf der Annahme einer grundsätzlichen menschlichen Erkenntnisfähigkeit und der damit ge­gebenen Möglichkeit kausale Zusammenhänge zu erkennen, stellt aber auch die Möglichkeit menschlichen Irrens und die Offenheit der Zukunft in Rechnung, woraus folgt, dass keine absolute Erkenntnis möglich sei und demnach auch keine begründeten Letzt- oder Werturteile möglich sind. Da­raus folgt zum einen die Absage an die Verwendung normativer Urteile in wissenschaftlichen Aussagen als auch die Ablehnung von Ideologien und Religionskritik. Hans Albert hat den nicht zuletzt von Max Weber übernom­menen komplexen Streit um Werturteile in drei sehr hilfreiche Fragen über­setzt: 1. Können die Sozialwissenschaften Wertungen, Entscheidungen oder Normen zum Gegenstand machen? 2. Können die Sozialwissenschaften auf normativen Aussagen beruhen? Und 3. können die Sozialwissenschaften Be­wertungen oder Werturteile zum Inhalt ihrer Aussagen machen? Die ersten beiden Fragen beantwortet Hans Albert mit einem entschiedenen Ja. Die dritte Frage beantwortet er hingegen mit einem entschiedenen Nein. Die Sozialwissenschaften können zwar die Normen und die Werte einer Gruppe empirisch untersuchen (1. Frage) und sie können sich auch selbst für ihre Arbeit Standards und Normen wie die Wahrheitssuche geben (2. Frage), sie können aber keine wissenschaftlich-logische Begründung für Werte vorle­gen, weil dies in einen hermeneutischen Regress mündet: Münchhausen Tri­lemma (3. Frage).

Neben dem Postulat der Werturteilsfreiheit bedeutet das auch ein Plä­doyer für präzise Begriffe, Thesen und Theorien (ökonomische Theoriear­beit), um Wissen immer wieder kritisch prüfen zu können (Falsifikations­prinzip). Bis heute finden diese Grundregeln des Kritischen Rationalismus in der sozialwissenschaftlichen Arbeit Verwendung: 1. Aufstellen von ab­strakten, präzisen Modellen, 2. Aufsuchen allgemeiner Kausalzusammen­hänge, 3. Verwendung möglichst realistischer Annahmen und präziser Be­griffe und Theorien, 4. Prüfung und Systematisierung von Theorien und 5. Unmöglichkeit letzter normative Aussagen in der wissenschaftlichen Arbeit (Albert 1956; 1957; 1965).

Die ›Idee rationaler Praxis‹ oder Sozialtechnologie

Mit den frühen Vertretern der europäischen Aufklärung verbindet daher ›Kritische Rationalisten‹ wie Hans Albert das Anliegen, möglichst wahre, umfassende und präzise Erklärungen der sozialen Realität vorzulegen und damit über die Welt aufzuklären und wissenschaftlich geprüfte Vorschläge zur Gestaltung von Gesellschaft, Wirtschaft, Politik, Recht usw. auf Basis von Wissen vorzulegen. Das hat den etwas schillernden Begriff der ›Sozial­technologie‹ hervorgebracht, der aber durchaus für ein bis heute wichtiges Verständnis der Aufgabe von Sozial- und Gesellschaftswissenschaften steht: Wissenschaft als eine rationale Praxis zu betreiben, deren Aufgabe es ist Wis­sen zur Verfügung zu stellen, das immer als vorläufig zu gelten hat und sich nicht aus politischen Wunschvorstellungen speist, sondern eben immer wie­der hinterfragt und mächtige Entscheidungsträger in Gesellschaft, Kultur, Politik, Wirtschaft kritisiert (vgl. Albert 1968; 1976; 1978); angesichts der Bewältigung von Corona heute eine klare Aussage.

Hans Albert steht für das Streben nach Wissen und das kritisch-rationale von Wissen gestützte Abwägen von Problemlösungen.

Das Verhältnis der sozialwissenschaftlichen Teildisziplinen

Hans Alberts Eintreten für die Einheit der Sozialwissenschaften basiert auf der Annahme eines integrierenden methodologischen Fundaments. Dafür steht die Arbeit an Erklärungen, welche zwar allgemeine Aussagen nutzen, aber gegenüber den Naturwissenschaften die Bedeutung der subjektiven Welterschließung und damit vor allem auch von kognitivem Wissen berücksichtigt. Daraus speist sich auch Alberts, leider zu wenig wahrgenom­mene, Kritik am Modellplatonismus der ökonomischen Theorie (1964; 1995) und sein Vorschlag hoch abstrakte Handlungstheorien, wie etwa die Theorie rationalen Handelns, als Spezialform oder aber als situationsbezo­gene Handlungsmaxime zu verwenden (Albert 1995). Davon ausgehend hat Hans Albert schon früh darauf hingewiesen, dass mit dem Modell des Wett­bewerbsmarktes nicht zur zu einfache Handlungsannahmen verbunden sind, sondern vielmehr noch soziale Beziehungs- und Interaktionsformen ausgeblendet werden, die aber Gegenstand einer Marktsoziologie wären. Daher hat Hans Albert schon früh in den 1950er Jahren für eine Marktso­ziologie geworben, die Institutionen und Situationsdeutungen für die Erklä­rung und Analyse der Wirtschaft berücksichtigt; das ist genau das, was Wirt­schaftssoziologie, Verhaltensökonomie, Soziökonomie und politische Öko­nomie heute auszeichnet und die dafür auch tatsächlich mit dem Nobelpreis geehrt werden.

Der Mentor, Kollege, Freund, Weggefährte, Tänzer, Gesprächspartner …

Hans Albert ist nicht nur ein besonderer Wissenschaftler – gern würde ich So­ziologe schreiben, bin mir aber nicht sicher, ob er nicht (wie schon vor ihm Max Weber und andere) zur Soziologie in ihrer organisierten und pro­fessionell ausgeübten Form längst ein distanziertes Verhältnis hat (siehe zum Beispiel Albert 1996). Er ist vielmehr noch Mentor, Kollege, Freund, Weg­gefährte, Tänzer, Gesprächspartner, Ehemann und Vater. Diejenigen, die mit ihm arbeiten und diskutieren konnten, aber auch diejenigen, die ihm nur auf Tagungen begegnet sind und ihn etwa von den Treffen in Alpbach oder Tutzing her kennen, wissen, dass er den Kritischen Rationalismus lebt, dass er in einem außerordentlichen Maße kritikfähig und -freudig ist  und dass er keinen Dünkel aufkommen lässt, sondern sich vielmehr gern mit den jungen Nachwuchsleuten unterhält. Mir schien diese Art – verbunden mit dem un­komplizierten Du – so unglaublich, dass ich mich erst nach vielen Treffen bei der Evangelischen Akademie in Tutzing traute, von ihm als Hans Albert zu denken; ihn direkt so anzusprechen, gelang mir freilich nie. Aber seinen offenen und kritischen Stil und die große Lebensfreude schätze und bewun­dere ich bis heute, ganz abgesehen von der Idee, Soziologie als Wissenschaft zu betreiben. Ihn mit Kolleginnen über das Parkett schweben zu sehen, be­gleitet von Freunden am Klavier, umgeben von kleinen Gruppen in Diskus­sionen vertieft, ist das Bild, das sich bei mir heute einstellt. Zu diesem Bild gehören auch seine Erzählungen von seiner wunderschönen Frau, Gretel Albert, den Söhnen Max, Kurt und Gert Albert und den vielen Freunden, die sich immer wieder im Hause Albert, in Heidelberg einfinden und hof­fentlich auch noch lange einfinden werden.

Vielen Dank und alles Gute zum 100. Geburtstag! Happy birthday to you Hans!

Andrea Maurer

Literatur

  • Adorno, T.W., Dahrendorf, R., Pilot, H., Albert, H., Habermas, J., Popper, K.R. 1975 [1969]: Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie. 4. Auflage, Darmstadt, Neuwied: Luchterhand.
  • Albert, H. 1956: Das Werturteilsproblem im Lichte der logischen Analyse. Zeit­schrift für die gesamt Staatswissenschaft, 112. Jg., Heft 3, 410–439.
  • Albert, H. 1957: Zum Normenproblem in den Sozialwissenschaften. Soziale Welt, 8. Jg., Heft 1, 5–9.
  • Albert, H. 1964: Probleme der Theoriebildung. Entwicklung, Struktur und An­wen­dung sozialwissenschaftlicher Theorien. In H. Albert (Hg.), Theorie und Reali­tät. Ausgewählte Aufsätze zur Wissenschaftslehre der Sozialwissenschaften, Tü­bingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck), 3–70.
  • Albert, H. 1965: Wertfreiheit als methodisches Prinzip. Zur Frage der Notwendig­keit einer normativen Sozialwissenschaft. In E. Topitsch (Hg.), Logik der Sozial­wissenschaften. Köln, Berlin: Kiepenheuer und Witsch. 181–210.
  • Albert, H. 1968: Traktat über kritische Vernunft. Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Sie­beck).
  • Albert, H. 1976: Aufklärung und Steuerung. Aufsätze zur Sozialphilosophie und zur Wissenschaftslehre der Sozialwissenschaften. Hamburg: Hoffmann und Campe.
  • Albert, H. 1978: Traktat über rationale Praxis. Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck).
  • Albert, H. 1995: Die Idee rationaler Praxis und die ökonomische Tradition. Walter Adolf Jöhr Vorlesung 1995. St. Gallen: Forschungsgemeinschaft für National­ökonomie.
  • Albert, H. 1996: Mein Umweg in die Soziologie. In C. Fleck (Hg.), Wege zur Sozio­logie nach 1945. Opladen: Leske + Budrich, 16–37.
  • Albert, H. 1998. Marktsoziologie und Entscheidungslogik. Zur Kritik der reinen Ökonomik. Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck).
  • Albert, H. 2003: Weltauffassung, Wissenschaft und Praxis. Bemerkungen zur Wis­senschafts- und Wertlehre Max Webers. In G. Albert, A. Bienfait, S. Sigmund, C. Wendt (Hg.), Das Weber-Paradigma. Studien zur Weiterentwicklung von Max Webers Forschungsprogramm, Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck), 77–96.
  • Albert, H. 2010: In Kontroversen verstrickt. Vom Kulturpessimismus zum kriti­schen Rationalismus. 2. Auflage. Wien: Lit.

     [1] Die Debatte fand ihren vorläufigen Höhepunkt in den 1960er Jahren im sogenannten Positivismusstreit (Adorno et al. 1975). Dem gingen schon verschiedene Diskussionen voraus, in denen zunächst Karl Popper und später Hans Albert mit den aus dem Exil zurückgekehrten Horkheimer und Adorno aufeinandertrafen.

© Evelin Frerk / Giordano-Bruno-Stiftung [1]