Ende 2023 verzeichnet Österreich einen rasanten Anstieg an antisemitischen Vorfällen. Die Israelitische Kultusgemeinde Wien (IKG) hat in den Tagen unmittelbar nach dem Hamas-Massaker vom 7. Oktober in Israel insgesamt 76 antisemitische Vorfälle in Österreich gemeldet, was eine Steigerung von 300 Prozent zum Vergleichszeitraum darstellt. Allerdings hatte die Antisemitismus-Meldestelle des IKG bereits 2021 eine Verdopplung von Tathandlungen gegenüber dem Vorjahr konstatiert. Dieser alarmierenden Entwicklung wird von Seiten der österreichischen Bundesregierung mit einem nationalen Aktionsplan gegen Antisemitismus (NAS) entgegengetreten, wobei ein besonderer Fokus auf präventive und reaktiv wirkende Maßnahmen in den Bereichen Bildung, Forschung, Sicherheit, Integration und Zivilgesellschaft gelegt wird. Neben politisch-motivierten Narrativen eines sogenannten ›importierten‹ Antisemitismus durch muslimische Immigrant:innen ist es evident, dass die Zustimmungswerte zu ›traditionellen‹ und ›neuen‹ antisemitischen Aussagen auch in der autochthonen österreichischen Gesellschaft immer noch stark ausgeprägt sind, wie bspw. die Vorabergebnisse einer gemeinsame Studie des Vereins zur wissenschaftlichen Aufarbeitung der Zeitgeschichte (Universität Wien), Fritz Bauer Instituts und der Universität Frankfurt/Main aufzeigen. Diese kanalisieren sich u. a. in Hetz- und Desinformationskommunikationen auf Sozialen Medien als Treiber antisemitischer Einstellungen, aber auch jüngst in anti-israelischen Demonstrationen in Österreich und darüber hinaus.
Geschichtsrelativierende Vergleiche der israelischen Siedlungspolitik mit dem Apartheidregime Südafrikas oder gar mit der Politik NS-Deutschlands haben zum Teil physische Folgen für jüdische Bürger:innen Europas, die bspw. offen auf Straßen und in Universitäten Opfer von antisemitischen Übergriffen werden. Rezente Untersuchungen, wie die Leipziger Autoritarismus-Studie 2022, veranschaulichen, dass antisemitische Einstellungen manifest bei ca. sieben Prozent und latent bei 17 bis knapp 22 Prozent der deutschen Bevölkerung ausgeprägt sind. In Österreich hat laut der IFES-Antisemitismus-Studie 2022 jede dritte Person latentantisemitische Einstellungen. Krisen, wie die COVID-19-Pandemie, haben zudem in Teilen der Bevölkerung antisemitische Verschwörungsnarrative verstärkt.
Die Sozialwissenschaftliche Rundschau möchte daher Autor:innen einladen, Beiträge hinsichtlich geographisch, zeitlich und thematisch vergleichender Antisemitismus-Forschung einzureichen, um (Dis-)Kontinuitäten sowie Einstellungs- und Ausprägungsdynamiken zu veranschaulichen und zu diskutieren. Folgende Themen sind u. a. möglich:
- Sozialwissenschaftliche Diskurse rund um die Erforschung von Antisemitismus
- Ursachen und Erklärungen von Antisemitismus
- Fokus auf und Vergleich von verschiedenen Formen wie Verschwörungs- , Holocaustbezogener-, Schuldabwehr-, primärer vs. sekundärer Antisemitismus
- Zusammenhang von Antizionismus und Antisemitismus
- Zusammenhang zwischen antidemokratischen Einstellungen, Neo-NS-Ideologie und anderen Formen Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit (GMF)
- Intersektionale Ansätze von Antisemitismus
- Antisemitismus in Nachrichten- und Unterhaltungsmedien
- Antisemitismus an Bildungseinrichtungen wie Universitäten
- Zivilgesellschaftliche und politische Maßnahmen sowie Interventionen gegen Antisemitismus
- Erörterung des komplexen Verhältnisses zwischen Kritik an der Politik Israels und möglichem (latenten – manifesten) Antisemitismus
- ›Blinde Flecken‹ und zukünftige Forschungsfragen
Wir laden interessierte Autor:innen ein, zunächst ihre Artikelkonzepte (Umfang max. 2 Seiten) zu diesen und anderen sozialwissenschaftlichen Forschungen zum Thema Antisemitismus bis 15. Juni 2024 an die Redaktion der Sozialwissenschaftlichen Rundschau (SWS-Rundschau) (redaktion(at)sws-rundschau.at) zu senden. Die Konzepte sollten allgemeinverständlich verfasst und nach folgenden Punkten strukturiert sein:
- Beschreibung der Relevanz des Themas
- Erläuterung der Ziele und Fragestellungen des Artikels
- Erläuterung von Methodik, Literatur- und Datengrundlage sowie des Untersuchungszeitraums
- Voraussichtliche Gliederung des Artikels.
Entscheidungen über die Einladung potenzieller Autor:innen zu Artikeln werden Ende Juni 2024 getroffen. Die Beiträge sollten einen Umfang von 30.000 bis 50.000 Zeichen (inkl. Literatur, Tabellen/Abbildungen, Fußnoten und Leerzeichen) aufweisen und nach unseren Zitierregeln gestaltet sein. Die Artikel werden in der Redaktion begutachtet. Redaktionsschluss ist der 15. September 2024. Das Heft erscheint im Dezember 2024.