Call for Papers

Erzählungen (in) der Kriminologie

Deadline: 25. Februar 2024 (verlängert)

Narrationen sind – egal, ob durch sie eine spezifische Sicht der Dinge oder eine Ereignisablauf dargelegt, Entscheidungen erwirkt, sich entschuldigt oder beschwert werden soll – in verschiedensten alltagsweltlichen sowie wissenschaftlichen Zusammenhängen allgegenwärtig. Sie bilden damit auch einen grundlegenden Teil des gesellschaftlichen Umgangs mit Kriminalität. Wenn etwas als ›kriminell‹ interpretiert und darauf reagiert wird, werden Geschichten erzählt und damit sinnstiftende und – zumindest dem Anspruch nach – möglichst überzeugende Darstellungen von Ereignisverläufen etabliert. Erzählungen stellen dabei keine ›wahrheitsgetreuen‹ Abbildungen sozialer Wirklichkeit dar, wenngleich sie (auch) eine außersprachliche Realität referenzieren. Vielmehr nehmen sie eine konstitutive Rolle in der (sprachlichen) Etablierung einer Kriminalitätswirklichkeit ein. Ob es sich dabei um polizeiliche Vernehmungen, um Auseinandersetzungen vor Gericht oder um die (sozial-)pädagogische Bearbeitung handelt: Stets werden je spezifische Abläufe des Ereignisses geschildert, Verantwortlichkeiten be- und zugeschrieben, Rechtfertigungen gesucht und alternative Interpretationen bewertet. Auch die wissenschaftliche Beschäftigung mit Phänomenen der Kriminalität und der Bestrafung lässt sich als eine spezifische Form der Produktion von Wirklichkeitserzählungen begreifen: Kriminologische Wissensproduktion vollzieht sich stets unter konkreten und je spezifischen Kontextbedingungen, die sich auf die hervorgebrachte (Wissenschafts-)Erzählung auswirken. Die Erforschung von Kriminalität lässt sich mithin als narratives Geschehen und als machtabhängige Konstitution von Wirklichkeit verstehen. Möglich und notwendig werden dadurch selbstreflexive Annäherungen der Forschung. Es ist darüber Auskunft zu geben, wie sie ihren Forschungsgegenstand ko- konstituiert, um sich begründet und transparent gegenüber alternativen Zugängen auszuweisen (vgl. Schmidt 2023). Während derartige (selbst-)reflexive Erkenntniswege in anderen Disziplinen bereits (zumindest partiell) eingeschlagen werden (Anthropologie u.a.: Maggio 2014; Soziologie u.a.: Woolgar 1988 wie auch Kriminologie u.a.: Lumsden/Winter 2014) –, stellt dies in der deutschsprachigen Kriminologie bislang eine Leerstelle dar. Zwar hat sich kürzlich der Sammelbegriff der narrative criminology für den Versuch etabliert, Narrationen als theoretisches Konzept ernst(er) zu nehmen und empirisch weiterzuentwickeln (u.a. Presser/Sandberg 2015). Diese Entwicklung findet in der deutschsprachigen kriminologischen Diskussion bisher jedoch nur ein schwaches Echo (Dollinger/Schmidt 2020). Dies bildet den Hintergrund für die Tagung, die an gegenwärtige internationale Diskussionen anzuknüpfen und diese in einem interdisziplinären Zuschnitt theoretisch und methodologisch zu erweitern beabsichtigt.

Wiewohl im Sinne einer interdisziplinären Kriminologie ein bewusst breiter thematischer wie disziplinärer Zugang gewählt wird, sollen die Vorträge zu drei zentralen Themenkreisen gebündelt werden:

Kriminalität und Bestrafung als narratives Geschehen – aktuelle Forschungen

  • Erzählungen werden im Kontext von Kriminalität und Strafe von unterschiedlichen Akteur:innen u.a. dazu genutzt, ihr Gegenüber von dem wahrgenommenen Problemgehalt einer Handlung, eines Ereignisses oder gesellschaftlichen Zustands zu überzeugen, je spezifische Bedeutungsjustierungen vorzunehmen, Kontingenz zu minimieren – etwa durch die Infragestellung alternativer Darstellungen – und auf diese Weise ein (einziges) Bild der Kriminalitätswirklichkeit zu etablieren. Dies vollzieht sich sowohl in den ›großen‹ Diskursarenen öffentlichkeitswirksamer Thematisierung (Medien, Politik, Wissenschaft etc.) als auch durch die fortwährende Nutzung im ›kleinen‹ Arbeitsalltag diverser Akteur:innen (Justiz, Polizei, Soziale Arbeit etc.). Zugleich bleiben diese Darstellungen nicht unwidersprochen. Vielmehr ist das gesamte Geschehen um Kriminalität und ihre institutionelle Bearbeitung konstitutiv durch Konflikthaftigkeit geprägt (Althoff/Dollinger/Schmidt 2020). Es sollen aktuelle empirische Forschungen diskutiert werden, die Kriminalität und Bestrafung sowie den gesellschaftlichen Umgang damit als narratives Geschehen adressieren.

Geschichten erforschen – Method(ologi)en narrativ kriminologischer Forschung

  • Narrationen sind nicht nur Untersuchungsgegenstand sozialwissenschaftlicher Erkenntnis, sondern auch eine zentrale Datenquelle. Narrationen werden dabei stets in einem spezifischen Kontext produziert und von Forschung ko-konstruiert. Der konstitutive Eigenanteil kriminologischer Forschung an der Produktion ihres Datenmaterial bedarf eingehender Reflexionen. Diese Erkenntnis wird in der (insb. deutschsprachigen) kriminologischen Forschung aber weitgehend ausgeblendet. Folgt man allerdings der Maßgabe, Narrationen als Narrationen (vgl. Hyvärinen 2008: 447) zu analysieren, übersetzt sich dies in erster Linie in einem regelhaften Einbezug der interaktional-kommunikativen Hervorbringung von Erzählungen. Das Datenmaterial ist mithin (auch) danach zu untersuchen, wie und warum Ereignisse erzählt werden: Was bewirkt das Erzählen einer spezifischen Narration einer spezifischen Person zum spezifischen Zeitpunkt wie auch in einem spezifischen (Forschungs-)Kontext? Welche weitergehenden Erkenntnisgewinne lassen sich durch einen derartigen Forschungszuschnitt erwarten? Es sollen method(olog)ische Ansätze sowie Untersuchungen diskutiert werden, mit und in denen narrationstheoretische Überlegungen empirisch eingelöst werden (können).

Erzählende Kriminologie – Kriminologie erzählen

  • (Nicht nur) Theoriearbeit und die disziplinäre Historiographie sind narrativ verfasste Tätigkeiten. Ein solches Selbstverständnis einer Kriminologie als storyteller wird zwar vereinzelt aufgeworfen, bleibt aber meist analytisch folgenlos. Im Sinne einer reflexiven Wissenschaft wäre jedoch in Rechnung zu stellen, dass sowohl erhobene Daten als auch auf sie bezogene Theoretisierungen stets aus den komplexen und zumeist wenig ›geordneten‹ Zusammenhängen ihrer Entstehung gelöst, in mannigfaltigen Schritten in Sprache transformiert, verdichtet und in disziplinär wie gesellschaftlich anschlussfähigen Deutungshorizonten neu arrangiert werden. Angesichts dessen bedarf es einer eingehenden Auseinandersetzung mit grundlegenden Fragen, etwa danach, welche Form von Theoriegeschichten die Kriminologie (wie) produziert. Was für Gesellschaftsvorstellungen und Weltanschauungen sind in diesen eingelassen, welche axiomatischen Arretierungen werden vorgenommen? Welche Deutungsstrukturen werden damit narrativ zur Geltung gebracht und welche alternativen Lesarten ausgeblendet? In disziplinhistorischer Perspektive kommt überdies die Frage auf, welche (Selbst-)Erzählungen von der Kriminologie historiographisch erzeugt werden: Wie erzählt die Kriminologie bzw. die unterschiedlichen Kriminologie-en (ätiologische und kritische Kriminologie) sich selbst?

Abstracts in deutscher oder englischer Sprache (max. 2400 Zeichen inkl. Leerzeichen) zu den dargestellten Themenbereichen und Anknüpfungspunkten werden bis zum 25.02.2024 erbeten an: Holger Schmidt (Holger.Schmidt(at)uni-siegen.de)