Call for Papers

Religionsethnografie. Perspektiven und Praktiken

Deadline: 30. Juni 2024

Der ethnografische Forschungsstil avancierte zu einem wichtigen Zugang der mit Religion und Religiosität befassten Wissenschaften. In einem Umfeld, in dem sich die empirische Erforschung des Sozialen und Kulturellen zunehmend der ›ethnographischen Herausforderung‹ (Hirsch- auer/Amann 1997) gestellt hat, gewannen auch in der Religionsforschung ethnografisch informierte Untersuchungsanordnungen an Bedeutung. Sei es in der Empirischen Kulturwissenschaft, der Soziologie, der Religionswissenschaft, der Religionspädagogik oder der Praktischen Theologie – religiöse und spirituelle Praktiken werden aktuell auch ›in der eigenen Gesellschaft‹ (Knoblauch 2003) unter Rückgriff auf ethnografische Erkenntnisstrategien untersucht, wobei der jeweilige Stand der Forschung, methodische Expertisen und die Selbstverständlichkeit religionsethnografischer Zugänge variieren.

Häufig bleiben diese Studien den eigenen Fächerkulturen verpflichtet und beziehen sich lediglich auf methodisch-methodologischer Ebene auf einen übergreifenden Diskurs ethnografischer Forschung. Was es bedeutet, die spirituellen Aspekte kultureller Praktiken einer ›ethnographic representation‹ (Atkinson et al. 2001) zuzuführen und die Gesellschaften der Gegenwart auf ihre religiösen Gegenstände, Funktionen oder Formen (Wohlrab-Sahr 2018) im Modus teilnehmender Beobachtung und mit ihr verkoppelten Verfahren zu befragen, kurzum Religionsethnografie zu betreiben, wird nur bedingt in einem fächerübergreifenden Gesprächszusammenhang diskutiert.

Mit der Tagung Religionsethnografie. Perspektiven und Praktiken möchten wir Religionsfor- schende aus unterschiedlichen Disziplinen, die ethnografisch arbeiten, zusammenbringen, um vor dem Hintergrund ihrer konkreten Forschungspraxis und Fachdiskurse grundlegende Fragen der Religionsethnografie zu identifizieren und gemeinsam zu diskutieren, aktuelle Perspektiven religionsethnografischer Forschung interdisziplinär zu reflektieren und neue, innovative Wege einer Ethnografie des Religiösen und Spirituellen zu sondieren.

Wir gehen von einem weiten Verständnis von Religion aus, das nicht in institutionell verfassten Religionsgemeinschaften aufgeht, sondern Formen gelebter Religion ebenso umfasst wie neue religiöse Bewegungen oder alternative spirituelle Kulturen, das Praktiken in verschiedenen Konfessionskulturen adressiert und insbesondere auch die Randzonen dessen, was jeweils als ›Religion‹/›Spiritualität‹ thematisiert wird, einbezieht. Ist es gerade diese begrifflich nicht von vorneherein feststellbare Diversität und Dynamik des religiösen Feldes, die ethnografische Zugänge erforderlich machen, erhoffen wir uns, den Diskussionsraum der Tagung programmatisch offen zu halten für Forschungserfahrungen mit unterschiedlichen Projekten und diversen Theoriebezügen. Um das Projekt einer ethnografischen Erschließung der Religion in der Gesellschaft voranzubringen, scheint es uns weiterführend, verschiedene Forschungskontexte und unterschiedliche Fächerkulturen miteinander ins Gespräch zu bringen.

Eingeladen sind daher alle, die sich ethnografisch mit Religion befassen, ganz unabhängig von der eigenen Fachzugehörigkeit. Auch freuen wir uns, wenn sowohl ethnografisch erfahrene Forscher:innen als auch Wissenschaftler:innen, die sich gerade erst in Zugängen der Religionsethnografie probieren, am Call teilnehmen.

Folgende Themenbereiche erscheinen uns von Bedeutung:

  1. Überraschungen organisieren

    Ethnografische Erkenntnisstrategien werden als Verfahren stark gemacht, die es ermöglichen, vermeintlich Selbstverständliches zu befremden und in ein ›Objekt einer ebenso empirischen wie theoretischen Neugier‹ zu verwandeln (Hirschauer/Amman 1997). Wie lassen sich im Feld der Religion ›Überraschungen organisieren‹ (Breidenstein et al. 2015)? Durch welche ›flexible[n] Forschungsstrategie[n]‹ (Lüders 2000) lassen sich erkenntnisproduktive Unter- suchungsdesigns entwickeln? Welche methodischen Neuerungen werden aktuell erprobt und mit welchen alternativen Schreibverfahren und Repräsentationsformen wird experimentiert?

  2. Mitspielkompetenz entwickeln

    In der Religionsforschung wird die Pluralität der Fachkulturen nicht selten auf die binäre Formel von ›Außen-‹ und ›Innenperspektive‹ gebracht. Diese Beschreibung erweist sich im Horizont pluralisierter Religionskulturen als zu schematisch, da Forscher:innen diverse, alternierende Positionierungen im Feld einnehmen bzw. ihnen unterschiedliche Positionen durch die Akteur:innen im Feld zugewiesen werden. Welche Rolle spielt das subjektive Involvement der Forschenden und ihr Verhältnis zur Sache für die Erkenntnis des Felds? Welchen Grad an und welche Art von ›Mitspielkompetenz‹ (Reichertz 2018) erfordert die Erforschung aktueller Religionskulturen? Welche Bedeutung kommt dem Körper der Forscher:innen für die Untersuchung religiöser und spiritueller Praktiken zu?

  3. Materialitäten erforschen

    Ethnografische Verfahren haben sich im Zuge des material turn oder praxistheoretischen Akzentuierungen der Materialität des Sozialen als instruktiv erwiesen. Wie sieht eine nichtsubjektzentrierte Ethnografie aus? Wie lassen sich Forschungsteilnehmer:innen in Feldgesprächen und ›ethnographic interviews‹ (Spradley 2016) gekonnt und epistemisch gewinnbringend nach den schweigsamen Materialitäten ihrer Praxis befragen? (Hirschauer 2001) Welche Rolle spielen sublime Materialitäten wie Licht, Stimmlichkeit, soundscapes, Flüssigkeiten oder Olfaktorisches? Wie kann Religionsethnografie die komplexen relationalen Konstellationen von Mensch-Ding- bzw. Mensch-Tier-Umwelt-Beziehungen erfassen und konturieren? Welche Entitäten partizipieren überhaupt an religiösen Vollzügen?

  4. Digitalitäten untersuchen

    Im Kontext einer ›Kultur der Digitalität‹ (Stalder 2021) ist die Religionsethnografie auf die Diskussionszusammenhänge einer digital religion (Campbell 2012) und den Einsatz neuer Forschungstools verwiesen. Welche Potenziale entfaltet eine dezidiert ethnografische Erforschung digitaler Religionskulturen und vor welche Herausforderungen stellen diese ethnografisch orientierte Forschungsstrategien? Wie verändern die neuen technischen Möglichkeiten die Forschungspraxis, sowohl was die Datengewinnung als auch -auswertung anbelangt?

  5. Gegenstände historisieren

    Ethnografische Forschung zielt auf die Untersuchung gegenwärtiger Phänomene. Ihr Methodenrepertoire ist geeignet, die aktuelle Vollzugswirklichkeit des Religiösen zu untersuchen. Wie gestalten sich ethnografische Forschungsdesigns, die die Zeitlichkeit und insbesondere das Gewordensein ihres Forschungsgegenstandes fokussieren? Welche Perspektiven eröffnet die Religionsethnografie für die historische Erforschung der Religion – und umgekehrt?

  6. Open Slot

    Sie sind eingeladen, mit Ihrem Paper auch Fragen zu adressieren, die über die notierten The- menkomplexe hinausreichen und von denen Sie sich einen weiterführenden Ertrag zur Theorie und Praxis der Religionsethnografie versprechen (kollaborative Forschung, Multispezies- Ethnografie, decolonizing methodologies u.v.a.m.).

Wir freuen uns über Ihre Perspektiven auf diese und angrenzende Themenbereiche und bitten um Ihre Abstracts (ca. 300 Wörter) bis zum 30. Juni 2024 (manuel.stetter(at)uni-rostock.de und bischoff(at)volkskunde.uni-kiel.de). Beiträge sind in deutscher und englischer Sprache möglich. Geplant ist, die Beiträge und Diskussionen der Tagung im Anschluss zu publizieren.