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Identität und Interdisziplinarität
Hans-Peter Müller
Klassiker der Klassiker? Max Weber im 21. Jahrhundert
Max Weber gilt heute als der ›Klassiker der Klassiker‹, wie die 47-bändige Werksausgabe lebhaft demonstriert. Freilich entrückt uns Weber immer mehr und das Gros der Arbeiten schreibt über Weber, statt mit ihm zu arbeiten. Die ungebrochene Aktualität seines Werkes lässt sich jedoch in fünf Strängen seines Denkens festmachen: die Genealogie von Kapitalismus und Moderne, die historische Wirksamkeit von Ideen, Theorie- als Begriffsbildung, Gesellschaftsgeschichte, nicht -theorie sowie Gesellschaft und Lebensführung.
Today, Max Weber counts as the ›classic of the classics‹ which the 47 volumes of the entire edition vividly demonstrate. Yet, Weber moves more and more away from us and most of the available work is about Weber, not a sociology with Weber, i.e. in the Weberian spirit. Yet, the persistent actuality of his oeuvre can be detected in five strings of his thinking: the genealogy of capitalism and modernity, the historical impact of ideas, theory as concept formation, societal history, as well as society and the conduct of life.
Hier der Volltext zum Download.
Marius Meinhof
Postkoloniale Soziologie oder Soziologie des Kolonialismus?
Dieser Aufsatz bespricht Holzingers Kritik der Diskussion über postkoloniale Soziologie, die 2018 zwischen Boatcă, Farzin und Go geführt wurde. Holzinger argumentiert, dass (1) eine Soziologie des Kolonialismus bereits vorliegt, aber (2) eurozentrische Tendenzen etwa in der Modernisierungstheorie kritisiert werden müssen. Ohne die Bedeutung der von Holzinger dargestellten Studien anzuzweifeln, werde ich zeigen, dass beide Punkte auf einem Missverständnis über die Argumente und Anliegen postkolonialer Soziologie basieren. (1) Postkoloniale Soziologie ist keine Soziologie des Kolonialismus, sondern sie versucht, eine neue Art von Soziologie zu entwickeln, die nicht-westliche Theorieproduktion ernst nimmt und Moderne in einer Weise beschreibt, die Europa de-zentriert und dadurch die koloniale Fundierung der Moderne ernst nimmt und ihr kritisch begegnet. (2) Postkolonialismus beschränkt sich nicht auf Kritik an Modernisierungstheorie, sondern kritisiert die eurozentrischen Fundamente des soziologischen Kanons und soziologischer Modi des Theoretisierens. Dabei geht es nicht um soziologische Forschung über Kolonialismus, sondern um eine Dekolonisierung der Soziologie als Teil einer allgemeinen Dekolonisierung europäischen Denkens.
This article debates Holzinger’s critique on the discussion of postcolonial sociology by Boatcă, Farzin and Go. Holzinger argues that (1) a sociology of colonialism existed long before postcolonial sociology but that (2) Eurocentric tendencies in sociological modernization theory need to be addressed. While I acknowledge the importance of the studies presented by Holzinger, I point out two flaws in both arguments. (1) Postcolonial sociology is not a sociology of colonialism, but a programmatic project to explore a new type of sociology which would include non-western social theory and theorize modernity in a way that de-centers Europe and acknowledge the colonial origins of modern society. (2) Postcolonial sociology does, consequently, not stop at a critique of eurocentrism in some sociological paradigms such as modernization theory, but rather challenges the Eurocentric foundation of the sociological canon and sociological modes of theorizing. This aims not at establishing colonialism as a sociological object of research, but at decolonizing sociology as parts of a larger movement to decolonize European thought.
Joris Steg
Was heißt eigentlich Krise?
Die Soziologie hat sich historisch als Krisenwissenschaft konstituiert und etabliert. Krisen stellen seit jeher ein zentrales Forschungsfeld der Soziologie dar. Krise ist eine soziologische Schlüsselkategorie, die Identität und Selbstverständnis der Disziplin nachhaltig geprägt hat. Mittlerweile wird der Krisenbegriff in Wissenschaft und Alltag nahezu inflationär verwendet, ohne dass eine allseits anerkannte Definition oder ein allgemeingültiges Verständnis über Ursachen, Verläufe und Folgen von Krisen existieren. Auch in der Soziologie hat sich bislang keine einheitliche Definition von Krise herausbilden können. Der vorliegende Beitrag befasst sich mit der Frage, was Krise eigentlich heißt, sowie mit der Bedeutung und dem Stellenwert des Begriffs Krise innerhalb der Soziologie. Es wird dagegen argumentiert, Krisen als Normalität oder als Gesellschaft selbst aufzufassen, weil Krisen auf diese Weise bagatellisiert werden. Stattdessen wird dafür plädiert, dass die Soziologie sich wieder auf ihre Rolle und Funktion als Krisenwissenschaft rückbesinnt und einen Krisenbegriff verwendet, der sich ausschließlich auf gesamtgesellschaftlich relevante Phänomene bezieht und darüber hinaus ausschließlich für kritische, potenziell bestandsgefährdende Abweichungen von der Normalität gilt.
Sociology has historically been constituted and established as science of crisis. Crises have always been a central research field in sociology. Crisis is a key sociological category that had a lasting impact on the identity and self-conception of the discipline. Meanwhile the concept of crisis is used almost in an inflationary way in science and everyday life, without a universally accepted definition or a generally admitted understanding of the causes, courses and consequences of crises. So far, no consistent definition of crisis has emerged in sociology either. This article deals with the question of what crisis actually means and with the meaning and significance of the term crisis within sociology. It is argued that crises cannot be regarded as normal or as society itself, because this is how crises are trivialized. Instead, it is advocated that sociology should return to its role and function as science of crisis and use a concept of crisis that refers only to phenomena relevant to society as a whole, and that applies only to critical, potentially existential aberrations from normality.
Forschen, Lehren, Lernen
Daniel Großmann, Tobias Wolbring
Studentischer Workload. Zum Verhältnis von Konzeption und Praxis
Mit der Bologna-Reform wurde die am Arbeitsaufwand orientierte Konzeption, Planung und Verwaltung von Lehrveranstaltungen auf Basis von ECTS-Punkten eingeführt, um eine bessere Vergleichbarkeit von Studienleistungen herzustellen und die Studierbarkeit zu sichern. Aber auch 20 Jahre nach Bologna sind zahlreiche konzeptionelle, theoretische und methodische Fragen und Probleme offen. In der Praxis stellt der Workload im Gegensatz zur ursprünglichen Konzeption primär eine administrative Planungsgröße dar, wobei jedoch scheinbar nur eine lose Kopplung zwischen vergebenen ECTS-Punkten und dem dafür erforderlichen Workload besteht. Insbesondere hat die Workload-Konzeption nicht, wie intendiert, zu einer stärkeren Orientierung an den Lernenden beigetragen. Im Gegenteil besteht die Gefahr, dass die Diversität der Studierendenschaft durch den Fokus auf den durchschnittlichen Workload, aber auch mangels geeigneter Datenquellen aus dem Blick gerät. Über die praktischen Folgerungen hinaus bleibt eine stärkere forschungsbasierte Auseinandersetzung mit den Determinanten des studentischen Workloads anzuregen, um die mitunter erheblichen Workloadunterschiede vor dem Hintergrund der vielfältigen studentischen Lebenswelten besser verstehen zu können.
The Bologna reform introduced the workload-oriented design, planning and administration of courses, based on ECTS credits, in order to improve comparability of academic performance and study conditions. But even 20 years after Bologna, many conceptual, theoretical and methodological questions and problems remain unresolved. In contrast to the original idea, student workload has primarily become an administrative planning parameter in practice, however with a rather loose coupling of awarded ECTS points and required workload. Furthermore, the workload concept has not, as intended, strengthened the learning orientation of university teaching. On the contrary, there is a risk that the diversity of the students will be lost out of sight due to the focus on the average workload, but also due to the lack of suitable data sources. Beyond these practical concerns, we want to encourage a stronger research-based examination of the determinants of student workload in order to better understand the sometimes considerable differences in workload against the background of the diverse student worlds.
DGS-Nachrichten
- Gemeinsame Stellungnahme geistes-, kultur- und sozialwissenschaftlicher Fachgesellschaften zur Ankündigung der Bundesministerin für Bildung und Forschung, die Wissenschaftskommunikation in Deutschland zu stärken
- Positionierung der Deutschen Gesellschaft für Publizistik und Kommunikationswissenschaft und der Deutschen Gesellschaft für Soziologie zum Grundsatzpapier des Bundesministeriums für Bildung und Forschung zur Wissenschaftskommunikation
- Stellungnahme der DGS zum Umgang mit studentischen Lehrveranstaltungsevaluationen
- Ein kurzes Gespräch mit Hubert Knoblauch und Stefanie Pawlak, die den 40. DGS-Kongresses 2020 organisieren
- Veränderungen in der Mitgliedschaft
Nachrichten aus der Soziologie
- Mechthild Bereswill, Christine Burmeister, Anke Neuber, Holger Schmidt: In memoriam Axel Groenemeyer
- Habilitationen
- Call for Papers
- Research Across Boundaries
- 8. sozialwissenschaftliche Promotionswerkstatt Rhein-Ruhr
- Nichts als die Wahrheit?
- Tagungen
- Im Osten was Neues?
- Political and Administrative Elites in Europe
- E la nave va?
- Far Right Education Politics and Policy
- Digital Humanities and Gender History
Jahresinhaltsverzeichnis 2020