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SOZIOLOGIE Jahrgang 49 - Heft 4 - 2020

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Identität und Interdisziplinarität

Hans-Peter Müller
Klassiker der Klassiker? Max Weber im 21. Jahrhundert                 

Max Weber gilt heute als der ›Klassiker der Klassiker‹, wie die 47-bän­dige Werks­aus­gabe lebhaft demonstriert. Freilich entrückt uns Weber immer mehr und das Gros der Arbeiten schreibt über Weber, statt mit ihm zu arbeiten. Die un­ge­bro­chene Aktualität seines Werkes lässt sich jedoch in fünf Strängen seines Den­kens festmachen: die Ge­ne­alogie von Kapitalismus und Moderne, die his­to­ri­sche Wirksamkeit von Ideen, Theorie- als Begriffsbildung, Gesellschaftsgeschichte, nicht -theorie sowie Gesellschaft und Lebensführung.

Today, Max Weber counts as the ›classic of the classics‹ which the 47 volumes of the en­tire edition vividly demonstrate. Yet, Weber moves more and more away from us and most of the available work is about Weber, not a sociology with Weber, i.e. in the Weberian spirit. Yet, the persistent actuality of his oeuvre can be detected in five strings of his thinking: the genealogy of capitalism and modernity, the historical impact of ideas, theory as concept formation, societal history, as well as society and the conduct of life.

Hier der Volltext zum Download.


Marius Meinhof
Postkoloniale Soziologie oder Soziologie des Kolonialismus?      

Dieser Aufsatz bespricht Holzingers Kritik der Diskussion über postkoloniale So­zio­logie, die 2018 zwischen Boatcă, Farzin und Go geführt wurde. Holzinger ar­gu­men­tiert, dass (1) eine Soziologie des Kolonialismus bereits vorliegt, aber (2) euro­zen­trische Tendenzen etwa in der Modernisierungstheorie kritisiert werden müssen. Ohne die Bedeutung der von Holzinger dargestellten Studien anzuzweifeln, werde ich zeigen, dass beide Punkte auf einem Missverständnis über die Argumente und An­liegen postkolonialer Soziologie basieren. (1) Postkoloniale Soziologie ist keine So­­ziologie des Kolonialismus, sondern sie versucht, eine neue Art von Soziologie zu ent­­wickeln, die nicht-westliche Theorieproduktion ernst nimmt und Moderne in einer Weise beschreibt, die Europa de-zentriert und dadurch die koloniale Fun­die­rung der Moderne ernst nimmt und ihr kritisch begegnet. (2) Postkolonialismus be­schränkt sich nicht auf Kritik an Modernisierungstheorie, sondern kritisiert die euro­zen­­trischen Fundamente des soziologischen Kanons und soziologischer Modi des Theo­retisierens. Dabei geht es nicht um soziologische Forschung über Kolo­nia­lis­mus, sondern um eine Dekolonisierung der Soziologie als Teil einer allgemeinen De­ko­lonisierung europäischen Denkens.

This article debates Holzinger’s critique on the discussion of postcolonial sociology by Boatcă, Farzin and Go. Holzinger argues that (1) a sociology of colonialism existed long before postcolonial sociology but that (2) Eurocentric tendencies in sociological modernization theory need to be addressed. While I acknowledge the im­portance of the studies presented by Holzinger, I point out two flaws in both ar­gu­ments. (1) Postcolonial sociology is not a sociology of colonialism, but a pro­gram­matic project to explore a new type of sociology which would include non-western social theory and theorize modernity in a way that de-centers Europe and acknowledge the colonial origins of modern society. (2) Postcolonial sociology does, consequently, not stop at a critique of eurocentrism in some sociological paradigms such as modernization theory, but rather challenges the Eurocentric foundation of the sociological canon and sociological modes of theorizing. This aims not at esta­bli­shing colonialism as a sociological object of research, but at decolonizing so­cio­lo­gy as parts of a larger movement to decolonize European thought.


Joris Steg
Was heißt eigentlich Krise?

Die Soziologie hat sich historisch als Krisenwissenschaft konstituiert und etabliert. Krisen stellen seit jeher ein zentrales Forschungsfeld der Soziologie dar. Krise ist eine soziologische Schlüsselkategorie, die Identität und Selbstverständnis der Dis­zi­plin nachhaltig geprägt hat. Mittlerweile wird der Krisenbegriff in Wissenschaft und All­tag nahezu inflationär verwendet, ohne dass eine allseits anerkannte De­fi­ni­tion oder ein allgemeingültiges Verständnis über Ursachen, Verläufe und Folgen von Kri­sen existieren. Auch in der Soziologie hat sich bislang keine einheitliche De­fini­tion von Krise herausbilden können. Der vorliegende Beitrag befasst sich mit der Fra­ge, was Krise eigentlich heißt, sowie mit der Bedeutung und dem Stellenwert des Be­griffs Krise innerhalb der Soziologie. Es wird dagegen argumentiert, Krisen als Nor­malität oder als Gesellschaft selbst aufzufassen, weil Krisen auf diese Weise baga­tel­li­siert werden. Stattdessen wird dafür plädiert, dass die Soziologie sich wieder auf ihre Rolle und Funktion als Krisenwissenschaft rückbesinnt und einen Krisen­be­griff verwendet, der sich aus­schließlich auf gesamtgesellschaftlich relevante Phänomene bezieht und da­rüber hinaus ausschließlich für kritische, potenziell bestands­ge­fähr­den­de Ab­wei­chun­gen von der Normalität gilt.

Sociology has historically been constituted and established as science of crisis. Crises have always been a central research field in sociology. Crisis is a key sociological ca­te­gory that had a lasting impact on the identity and self-conception of the dis­ci­pline. Meanwhile the concept of crisis is used almost in an inflationary way in science and everyday life, without a universally accepted definition or a generally admitted un­derstanding of the causes, courses and consequences of crises. So far, no con­sis­tent definition of crisis has emerged in sociology either. This article deals with the question of what crisis actually means and with the meaning and significance of the term crisis within sociology. It is argued that crises cannot be regarded as normal or as society itself, because this is how crises are trivialized. Instead, it is advocated that sociology should return to its role and function as science of crisis and use a concept of crisis that refers only to phenomena relevant to society as a whole, and that applies only to critical, potentially existential aberrations from normality.

Forschen, Lehren, Lernen

Daniel Großmann, Tobias Wolbring
Studentischer Workload. Zum Verhältnis von Konzeption und Praxis        

Mit der Bologna-Reform wurde die am Arbeitsaufwand orientierte Konzeption, Pla­nung und Verwaltung von Lehrveranstaltungen auf Basis von ECTS-Punkten ein­geführt, um eine bessere Vergleichbarkeit von Studienleistungen herzustellen und die Studierbarkeit zu sichern. Aber auch 20 Jahre nach Bologna sind zahlreiche konzeptionelle, theoretische und methodische Fragen und Probleme offen. In der Praxis stellt der Work­load im Gegensatz zur ursprünglichen Konzeption primär eine administrative Pla­nungsgröße dar, wobei jedoch scheinbar nur eine lose Kopplung zwischen ver­ge­benen ECTS-Punkten und dem dafür erforderlichen Workload be­steht. Ins­be­son­dere hat die Workload-Konzeption nicht, wie intendiert, zu einer stär­keren Orien­tierung an den Lernenden beigetragen. Im Gegenteil besteht die Ge­fahr, dass die Di­­ver­sität der Studierendenschaft durch den Fokus auf den durch­schnittlichen Work­­load, aber auch mangels geeigneter Datenquellen aus dem Blick gerät. Über die prak­­tischen Folgerungen hinaus bleibt eine stärkere forschungs­ba­sier­te Auseinan­der­set­zung mit den Determinanten des studentischen Workloads an­zu­regen, um die mit­unter erheblichen Workloadunterschiede vor dem Hintergrund der vielfältigen stu­den­tischen Lebenswelten besser verstehen zu können.

The Bologna reform introduced the workload-oriented design, planning and admi­nis­tration of courses, based on ECTS credits, in order to improve comparability of academic performance and study conditions. But even 20 years after Bologna, many conceptual, theoretical and methodological questions and problems remain unresolved. In contrast to the original idea, student workload has primarily become an administrative planning parameter in practice, however with a rather loose coupling of awarded ECTS points and required workload. Furthermore, the work­load concept has not, as intended, strengthened the learning orientation of university teaching. On the contrary, there is a risk that the diversity of the students will be lost out of sight due to the focus on the average workload, but also due to the lack of suitable data sources. Beyond these practical concerns, we want to encourage a stronger research-based examination of the determinants of student workload in order to better understand the sometimes considerable differences in workload against the background of the diverse student worlds.

DGS-Nachrichten

  • Gemeinsame Stellungnahme geistes-, kultur- und sozialwissenschaftlicher Fachgesellschaften zur Ankündigung der Bundesministerin für Bildung und Forschung, die Wissenschaftskommunikation in Deutschland zu stärken
  • Positionierung der Deutschen Gesellschaft für Publizistik und Kommunikationswissenschaft und der Deutschen Gesellschaft für Soziologie zum Grundsatzpapier des Bundesministeriums für Bildung und Forschung zur Wissenschaftskommunikation    
  • Stellungnahme der DGS zum Umgang mit studentischen Lehrveranstaltungsevaluationen          
  • Ein kurzes Gespräch mit Hubert Knoblauch und Stefanie Pawlak, die den 40. DGS-Kongresses 2020 organisieren                
  • Veränderungen in der Mitgliedschaft    

Nachrichten aus der Soziologie

  • Mechthild Bereswill, Christine Burmeister, Anke Neuber, Holger Schmidt: In memoriam Axel Groenemeyer  
  • Habilitationen    
  • Call for Papers  
    • Research Across Boundaries
    • 8. sozialwissenschaftliche Promotionswerkstatt Rhein-Ruhr   
    • Nichts als die Wahrheit?
  • Tagungen
    • Im Osten was Neues? 
    • Political and Administrative Elites in Europe   
    • E la nave va?  
    • Far Right Education Politics and Policy  
    • Digital Humanities and Gender History

Jahresinhaltsverzeichnis 2020