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SOZIOLOGIE Jahrgang 52 - Heft 1 - 2023

 

Aus dem Inhalt

  • Klaus Kraemer: Was kann die Soziologie im Schockzustand einer Krise leisten?
  • Jörg Strübing: Für das Leben lernen
  • Friedhelm Neidhardt: ›Zugutachterei‹ - Bedingungen korruptiver Nachsicht
  • Jörg Potthast: Unter Beobachtung an der Relationierung arbeiten

Soziologie in der Öffentlichkeit

Klaus Kraemer
Was kann die Soziologie im Schockzustand einer Krise leisten? 

In diesem Beitrag wird am Beispiel der SARS-CoV-2-Pandemie die Frage diskutiert, was die Soziologie als sozialwissenschaftliche Disziplin im Schockmoment einer Krise eigentlich leisten kann. In Abgrenzung zu Heinz Bude (Soziologie, Heft 3, 2022) wird argumentiert, dass die Aufgabe der Soziologie nicht darin bestehen sollte, Zustimmung in der Bevölkerung zu staatlichen Maßnahmen zu organisieren, son­dern eine sozialwissenschaftliche Beobachterrolle einzunehmen, um die blinden Flecke staatlicher Akteure und Expertenstäbe gerade auch unter Krisenbedingungen sicht­bar zu machen. Statt in den Modus einer Krisenrhetorik der einfachen Worte zu verfallen, wird dafür plädiert, sich auf die methodologischen und methodischen Kernkompetenzen des Faches zu besinnen und interdisziplinären Austausch nicht mit undisziplinierter Extradisziplinarität zu verwechseln.
This article uses the example of the SARS-CoV-2 pandemic to discuss the question of what sociology can actually do in the moment of shock of a crisis. In contrast to Heinz Bude (Soziologie, no. 3, 2022), it is argued that the task of sociology should not be to organise public approval for state measures, but to take on a sociological ob­server role in order to make the blind spots of state actors and expert groups vi­sible, especially under crisis conditions. Instead of falling into the mode of a crisis rhe­toric of simple words, it is advocated that one should remember the metho­do­lo­gi­cal and methodical core competences of the discipline and not confuse inter­dis­ci­pli­nary exchange with undisciplined extradisciplinarity.

Forschen, Lehren, Lernen

Jörg Strübing
Für das Leben lernen 

Der Beitrag kritisiert den Umstand, dass soziologische Kompetenzen in der Schule kaum vermittelt werden und die universitäre Lehramtsausbildung praktisch ohne Einbezug der Soziologie stattfindet. Dies wird problematisiert, weil jungen Men­schen damit jenes gesellschaftliche Orientierungswissen vorenthalten wird, das die So­ziologie systematisch bereitstellt, und das in Zeiten zunehmend krisenhafter ge­sellschaftlicher Entwicklungen besonders notwendig ist. Es wird aber auch aus Sicht des Faches problematisiert, dass die mangelnde Sichtbarkeit der Soziologie in der Schule mit zu den aktuell beobachtbaren sinkenden Studierendenzahlen in den So­zio­logie-Studiengängen beiträgt. Es werden Maßnahmen vorgestellt, die der DGS-Aus­schuss ›Soziologie in Schule und Lehre‹ ergriffen hat, um im Fach und bei politisch Verantwortlichen das Problembewusstsein zu schärfen.
The article criticizes the fact that sociological competencies are hardly taught at school and that university teacher training is carried out virtually without the inclusion of sociology. This is problematized because young people are thus deprived of essential skills of social orientation, which sociology systematically provides, and this in times of increasingly crisis-ridden social developments. Looking at the issue from the perspective of sociology as an academic discipline, it is also problematized that the lack of visibility of sociology in schools contributes to the currently observable decline in the number of students in sociology courses. Measures are presented which the DGS committee ›Sociology in Schools and Teaching‹ has taken to raise awareness of the problem both within the group of sociologists at universities and among those with political responsibility in the realm of school and education.

Friedhelm Neidhardt
Zugutachterei

Die Analyse von Gutachterei greift zu kurz, wenn sie sich allein auf die Beziehungen zwi­schen Prüfling und Prüfer versteift; man muss eruieren, wer wie in deren Ver­hältnis zusätzlich mitspielt. Hier beginnt die Soziologie. Auswahl und Finanzierung von Gutachtern beeinflussen mehr als alles andere ihre Unabhängigkeit. Ungute Folgen las­sen sich prinzipiell durch den öffentlichen Verkauf der Prüfungs­er­geb­nisse be­zie­hungs­weise durch staatliche Finanzierung vermeiden. Befinden Prüflinge selbst so­wohl über die Wahl ihrer Gutachter als auch über deren Finanzierung, sind von vorn­herein Abhängigkeiten im Prüfprozess vorhanden. Die Wahrscheinlichkeit von Ge­fälligkeitsgutachten (›Zugutachterei‹) ist bei dieser Kapitalisierung von Be­gut­ach­tun­gen geschäftsbedingt. Verstärkungen dieser Wahrscheinlichkeit ergeben sich un­ter anderem bei einer Vermengung von Begutachtung und Beratung, bei Ein­schrän­kun­gen gutachterlicher Erhebungs- und Darstellungskompetenzen, sowie bei Vor­lie­gen staatlich geschützter ›Haftungsprivilegien‹. All dies ist heute vor allem im Wirt­schaftsbereich verbreitet. Aber auch der Staat ist als Kontrolleur nicht immer ver­lässlich. Ausdruck dafür ist unter anderem eine hierzulande ideologisch gewollte Unter­finan­zie­run­gen staatlicher Kontrollen sowie deren Finanzierung.
The analysis of review and assessment processes does not go far enough if it focuses solely on the relationship between the controllers and those who are assessed. It is necessary to find out who else plays a role in their relationship and how. This is where sociology comes in. More than anything else, the selection and funding of the reviewers influence their independence. Unfavorable consequences can be avoided if assessors finance themselves by selling the results of their assessments or by re­cei­ving state fun­ding. If those who are assessed decide themselves both on the selection of reviewers and on their financing, then there exists a dependency between the two actors from the outset. Under this condition, the probability of favorable assess­ments is very high. The likelihood of positive assessments is further increased if assessment and consulting are mixed-up, if the assessors are restricted in the collec­tion of data and in publishing their findings, and if there exist state-pro­tec­ted liability privileges. All this is common today, especially in the business sector. However, even the state is not always reliable as a controller. This is evident in Ger­many where state in­stitutions are un­der­funded as a matter of political will and their pri­vatization is favored.
Hier der Text zum Download.

Jörg Potthast
Unter Beobachtung an der Relationierung arbeiten 

Der vorliegende Beitrag diskutiert die Relevanz von Rezensionen in einem Kontext, der sich im Zuge der Metrifizierung stark verändert hat. Er stellt heraus, dass Rezensionen ein übergreifendes Format der ›Prüfung‹ bereitstellen. Darüber wird eine wissenschaftspolitische Schieflage deutlich, aus der der Beitrag, auch im Ein­druck gegenwärtiger Proteste, ein offenes Forschungsdesiderat ableitet: Die Frage nach biografischer Inklusion in die organisierte Wissenschaft, oftmals (und oft er­sicht­lich im Namen von Partikularinteressen) ignoriert oder bloß forciert, bedarf einer Rekonzeptualisierung, die der komplexen Ökonomie der dafür angestrengten Prü­fungen gerecht wird.
The present contribution reconsiders the relevance of reviews within a context that has gone through metrification and massive transformation. It argues that book re­views offer a format for ›testing‹ skills which embrace diverse segments of employ­ment. In terms of science policy, this argument discloses a bias which is then re­for­mu­lated as a research desideratum: The question of biographic inclusion into scien­ti­fic organizations, often (and often obviously in self-interest) ignored or merely in­vo­ked, is waiting to be reconceptualized in a way that does justice to the complex eco­nomy nested in the practice of testing.

Andreas Diekmann
Neuorientierung der Methoden-Ausbildung 

Vorlage für die Sitzung des Konzils der DGS am 29. Oktober 2022 in Bielefeld
Submission for the meeting of the Council of the DGS on 29 October 2022 in Bielefeld

DGS-Nachrichten

  • Satzung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) 
  • Ausführungsbestimmungen ›Stärkung der Sektionen‹ 
  • Ausführungsbestimmungen ›Nominierungsverfahren‹
  • Beschlüsse des Konzils vom 13. Mai 2022
  • Aus dem DGS-Vorstand 
  • Veränderungen in der Mitgliedschaft 
  • Preise der DGS für herausragende Abschlussarbeiten
    • Julian Heide: Polarisierung von den Rändern denken
      Dieses Vorhaben nimmt als Test­fall die Armutspopulation in den Blick und unter­sucht anhand dreier gesell­schaft­lich umstrittener Felder sozialer Ungleichheit, näm­lich sexueller Diversität, Mi­gra­tion und Sozialpolitik eine mögliche Polarisierung an den sozialstrukturellen Rän­dern. Mit Daten des Sozio-Ökonomischen Panels kann ge­zeigt werden, dass Menschen in Armut gegenüber Homosexuellen oder trans­gen­der Personen nicht skeptischer eingestellt sind als nicht-arme Perso­nen. Im zweiten Feld sozialer Ungleichheit leh­nen Men­schen mit Armutserfahrung Migrations­bewe­gun­gen eher ab und die Migra­tions­skepsis unter Personen in langanhaltender und intensiver Armut ist größer als bei Menschen mit diskontinuierlichen Armuts­ver­läufen. Im Feld der sozialen Sicherung be­vor­zu­gen Personen mit Armutserfahrung staatliche Sicherungsmaßnahmen gegenüber pri­vater Absicherung.
      This project takes the poverty population as a test case and examines a possible polarization on the basis of three socially controversial fields of social inequality, namely sexual diversity, migration and social policy. Using data from the German Socio-Economic Panel, it can be shown that people in poverty are no more skeptical of homosexuals or transgender people than non-poor people. With respect to the second field people with poverty experience are more likely to reject migration movements and migration skepticism among people in protracted and intense po­ver­ty is greater than among people with discontinuous poverty histories. In the field of social security, people with experience of poverty prefer state security measures to private security.
    • Patricia Thomas: Im Zweifel für die Freiheit?
      Der Beitrag nähert sich dem Diskurs um die Kunstautonomie in medialen Debatten am Beispiel zweier skandalisierter Ereignisse im Kunstfeld. Es werden diskursive Strategien, zentrale Konfliktlinien und Deutungsmuster vorgestellt, die mittels einer wissenssoziologischen Diskursanalyse herausgearbeitet wurden. Anhand der Rekon­s­truktion des Diskurses um die Kunstautonomie lassen sich herrschende Regeln und normative Vorstellungen über legitime und illegitime Formen der Kunstbetrachtung und -bewertung freilegen.
      The article approaches the discourse on the autonomy of art in medial debates using the example of two scandalized events in the art field. It presents discursive strate­gies, central lines of conflict and patterns of interpretation, which have been worked out by a sociology of knowledge approach to discourse. Thus, by reconstructing the dis­course around autonomy of art, prevailing rules and normative ideas about legi­ti­mate and illegitimate forms of viewing and evaluating art can be exposed.

Nachrichten aus der Soziologie

  • Bernhard Schäfers: In memoriam Ulfert Herlyn 
  • Betina Hollstein: In memoriam Yvonne Schütze 
  • ASI-Nachwuchspreis 2023
  • Habilitationen 
  • Call for Papers 
    Diversity and Difference – Studies in Subjectivation
  • Tagungen 
    Herausforderungen für eine neue Wohnungs­politik  
    Current Perspectives on Spatial Mobilities