Bereits seit einigen Jahren diagnostizieren publizistische wie wissenschaftliche Kommentator:innen eine neue Welle gesellschaftlicher Gereiztheit (z.B. Pörksen 2018), die sich nicht selten in eruptiven Konfrontationen im Analogen wie im Digitalen entlädt. Ob Migration und nationale Identität, geopolitische Ausrichtungen, die gerechte Verteilung ökonomischer Ressourcen, die drängende ökologische Transformation oder Fragen der Anerkennung und strukturellen Diskriminierung von Minderheiten – der auslösende Gegenstand mag variieren, doch die Konfliktdynamiken scheinen einer gemeinsamen Logik zu folgen. Es entfaltet sich, mit Strick (2018: 125) gesprochen, ein ›diskursive[r] Klimawandel im Wortsinn - Verknappung und Extremisierung des Sagbaren, Intensivierung der Gefühlsräume, schnelle Wechsel von heißen (Wut) und kalten [...] Affekten‹.
Entsprechende Eskalationen werden häufig als Indiz einer Polarisierung gedeutet, die die Gesellschaft als Ganzes oder zumindest ihre Ränder in einen Zustand antagonistischer Spannung versetzt. Zwar widerlegen empirische Studien zumindest für den deutschen Kontext die Vorstellung einer Gesellschaft, die entlang klar umrissener politischer Lager und homogener Einstellungsprofile gespalten sei, jedoch lässt sich Polarisierung in spezifischen Themenfeldern durchaus beobachten (Mau et al. 2023). Hierbei gewinnt das Konzept der ›affektiven Polarisierung‹ an Relevanz, das einen systematischen Affektgegensatz beschreibt: positive Emotionen und Loyalitäten, die der eigenen sozialen Gruppe entgegengebracht werden, kontrastieren scharf mit negativen Gefühlen wie Verachtung, Misstrauen oder Ekel gegenüber der vermeintlich ›anderen‹ Gruppe (Rogowski/Sutherland 2016). Diese affektive Aufladung erzeugt eine Atmosphäre der Feindseligkeit, in der soziale Distanzierung mit der Erosion konstruktiver Kommunikationsnormen einhergeht (Yarchi et al. 2021).
Die Ursprünge dieser Diagnose sind im soziopolitischen Kontext der Vereinigten Staaten zu suchen, wo die These einer Polarisierung aufgrund der strukturellen Lagerbildung innerhalb des Zwei-Parteien-Systems eine besondere Plausibilität erlangt (Iyengar et al. 2019). Hier zeigt sich, wie ideologische Divergenzen von affektiven Konflikten überlagert und verstärkt werden, sodass politische Gegnerschaft zunehmend als identitätsstiftend empfunden wird. In der jüngeren Vergangenheit wurde diese Analyse jedoch – aus einer politikwissenschaftlichen Perspektive – auf die europäische Mehrparteiensysteme übertragen (Wagner 2021, 2023).
In der soziologischen Forschung bleibt die systematische Auseinandersetzung mit affektiver und emotionaler Polarisierung bislang noch ein vergleichsweise junges Terrain. Dennoch markieren aktuelle Entwicklungen – etwa das Erstarken sogenannter ›Polarisierungsunternehmer:innen‹ (Mau et al. 2023), die latente gesellschaftliche Konfliktlinien durch die strategische Positionierung ›triggernder‹ Inhalte gezielt emotionalisieren – einen Anlass zur vertieften Untersuchung dieser Phänomene aus emotions- und affektsoziologischer Perspektive. Das Panel ruft daher zu theoretisch und empirisch fundierten Beiträgen auf, die affektive Polarisierung in europäischen Gegenwartsgesellschaften – mit einem besonderen Fokus auf den deutschsprachigen Raum – unter die soziologische Lupe nehmen. Hierbei bieten sich vielfältige Perspektiven auf die sozialen Ursachen, normativen Gehalte, Wirkungen sowie die wissenschaftlichen oder politischen Be- und Verarbeitungsmöglichkeiten dieses Phänomens an.
- Ein erster Schwerpunkt liegt auf der (qualitativen) Analyse von Mikroszenen der affektiven Polarisierung: Welche situativen Bedingungen und ›affektiven Arrangements‹ (Slaby et al. 2017) prägen jene Momente, in denen die soziale Atmosphäre kippt? Wo verläuft die Schwelle, an der sich Emotionen von latenter Gereiztheit zu eruptiver Wut steigern, an der sich kommunikative Normen auflösen und dem (realen oder imaginierten) sozialen Gegenüber mit Hass und Verachtung begegnet wird? Welche performativen und körperlich-leiblichen Faktoren sind in diesen Szenen wirksam? Ziel ist es, die Mikroprozesse affektiver Polarisierung zu entschlüsseln und sie im Kontext einer breiteren soziokulturellen Dynamik zu verorten: Inwiefern sind sie symptomatisch für tiefere strukturelle Konfliktlagen und Diskursverschiebungen unserer Zeit?
- Zweitens laden wir Einreichungen ein, die sich mit den Infrastrukturen und Verarbeitungsinstanzen affektiver Polarisierung befassen. Ein besonderes Augenmerk liegt auf (sozialen) Medien, deren technisch-materielle Affordanzen die Polarisierung emotionaler Diskurse begünstigen. Welche Rolle spielen algorithmische Kuratierung, Echtzeitkommunikation und die Viralität von ›triggernden‹ Inhalten bei der Extremisierung des Sagbaren? Darüber hinaus regen wir Einreichungen an, die organisationale Settings der Bearbeitung affektiver Polarisierung in den Blick nehmen. Welche Mechanismen entwickeln politische, mediale oder gesellschaftliche Institutionen, um polarisierte Affektlandschaften zu regulieren? Zugleich stellt sich die Frage nach den Wirkungen solcher Verarbeitungsinstanzen: Gelingt es, affektive Polarisierung zu entschärfen oder tragen sie – möglicherweise unbeabsichtigt – zur Verfestigung von Konfliktlinien bei?
- Drittens laden wir Beiträge ein, die Makro-Tendenzen emotionaler Polarisierung analysieren. Welche Entwicklungen lassen sich erkennen, wenn man emotionale Spaltungen im Zusammenhang mit sozialen, politischen und ökonomischen Transformationen betrachtet? Besondere Aufmerksamkeit verdienen dabei die Auswirkungen von Krisen auf gesellschaftliche Affektlandschaften. Wie verändern kollektive Unsicherheiten und Erfahrungen von Kontrollverlust das emotionale Klima der Gesellschaft? Eng damit verknüpft ist die Frage nach Veränderungen in der Parteienlandschaft und den damit einhergehenden affektiven Neuausrichtungen. Das Erstarken rechtspopulistischer Parteien, Verschiebungen innerhalb des linken Parteienspektrums sowie der schleichende Abstieg der einstigen ›Volksparteien‹ stiften neue emotionale Zugehörigkeiten und Antagonismen, die zu analysieren sind.
Wir bitten um eine Zusendung von Beitragsvorschlägen in einem Abstract (maximal eine Seite) bis zum 03.03.2025 an Gabriel Malli: gabriel.malli(at)fh-joanneum.at und Antonia Schirgi: antonia.schirgi(at)uni-graz.at