Call for Papers

›Armut im Überschuss. Dynamiken der Pauperisierung und Spaltung im Gegenwartskapitalismus‹

Deadline: 15. Juli 2023

Ein Rekordhoch bei der Beschäftigung, allerorten Fachkräftemangel, stark gesunkene Arbeitslosenquoten und ein politisch unbeirrtes Festhalten am Wachstumsimperativ haben in der Bundesrepublik in der jüngeren Vergangenheit darüber hinweggetäuscht, dass Armut, Spaltung und Ausgrenzung nach wie vor existieren und sogar zunehmen. Das betrifft in unterschiedlichem Ausmaß die Länder des globalen Nordens insgesamt, in denen ein boomender Niedriglohnsektor, selektive Migrationsregime, wachsende Abstiegsrisiken für die Arbeiter*innen- und unteren Mittelklassen und eine wachsende Polarisierung zwischen ›lovely‹ und ›lousy jobs‹ die Arbeitsmärkte und die gesellschaftlichen Gruppen spalten (Goos & Manning 2007). Diese Spaltung und Fragmentierung der Arbeit schlägt sich auch in der Zunahme sozialräumlicher Ungleichheit nieder, etwa wenn boomenden Metropolregionen erhöhte Armutskonzentrationen in ländlichen Peripherien und innerstädtischen Armutsquartieren gegenüberstehen (vgl. Belina et al. 2022; Hürtgen 2021; Schmalz et al. 2021). Prozesse des Strukturwandels von Arbeit, Raum und Sozialstruktur lassen sich auch global anhand von Entwicklungen des jobless growth und einer Zunahme von ›surplus populations‹ im globalen Süden nachzeichnen (vgl. Li 2009; Sanyal 2007). Selbst in den frühindustriellen Migrationsgesellschaften des globalen Nordens verliert reguläre existenzsichernde Erwerbsarbeit für bestimmte Bevölkerungsteile zunehmend an Bedeutung und überkommen geglaubte Praktiken des ›side hustlings‹ und der Informalität breiten sich aus (vgl. Monteith et al. 2021; Breman/van der Linden 2014).

Aus der Perspektive kritischer Gesellschaftstheorien verwundert dies wenig. Im ›Allgemeinem Gesetz der kapitalistischen Akkumulation‹ führt Marx aus, warum die Produktion von gesellschaftlichem Reichtum unter kapitalistischen Verhältnissen notwendig die Produktion einer armutsgefährdeten relativen ›Überschussbevölkerung‹ (surplus population) mit sich bringt, die nicht oder nur marginal in kapitalistische Akkumulationszyklen integriert wird. Vom Weltsystemansatz über marxistische Geographien und postkoloniale Theorien bis zu Third World Feminisms, von Franz Fanon über Mike Davis bis Maria Mies und Veronika Bennholdt-Thomsen haben marxistische und andere kritische Gesellschaftstheoretiker*innen seit den 1960er Jahren vielfach Bezug auf den Zusammenhang von ungleicher kapitalistischer Entwicklung und der Produktion von überschüssig gemachten, von Armut und Marginalisierung betroffenen, gesellschaftlichen Gruppen genommen. Der Fokus ihrer Theorien lag auf globalen Ungleichheitsverhältnissen und deren Kontinuität zu Kolonialismus und Imperialismus, wobei der Blick vor allem auf den globalen Süden gerichtet war. In den letzten Jahren erlebt jedoch das Konzept der Surplus-Bevölkerung auch im globalen Norden neue Aufmerksamkeit, so im Kontext der Schwarzen marxistischen Theoriebildung zu ›racial capitalism‹ (vgl. Bhattacharyya 2018; Gilmore 2007; John-son/Kelley 2017), in heterodoxen marxistischen Analysen zu Automatisierung (Benanav 2021) oder in Debatten um die neue ›Unterschicht‹ und eine Rückkehr des so genannten ›Lumpenproletariats‹ (vgl. Wimmer 2021; Bescherer 2013).

Unser Workshop knüpft an neuere Diskussionen zu Überschussbevölkerung bzw. Surplus-Proletariat im Zusammenhang mit Prozessen der Armut, sozialräumlichen Ungleichheit, sozialen Spaltung und Fragmentierung von Arbeit an. Aus interdisziplinärer und kritischer Perspektive soll der Erklärungsgehalt dieser und benachbarter Begriffe mit Blick auf unterschiedliche Entwicklungen, Phänomene und gesellschaftliche Gruppen in den Ländern des globalen Nordens systematischer ausgelotet werden. Ein Fokus soll unter anderem auf Formen der Pauperisierung – d.h. der polit-ökonomisch induzierten Verarmung – von überschüssig gemachten Gruppen liegen, denen in verschiedenen Kontexten nachgegangen werden kann (u.a. im Zusammenhang mit Langzeiterwerbslosigkeit, Rassismus, Flucht/Migration, Sexarbeit, Niedriglohnarbeit, Armut als Folge von Behinderung, Krankheit und psychischen Leiden).

Wir freuen uns über Beiträge aus verschiedenen Disziplinen und Forschungsfeldern (Sozial- und Politikwissenschaften, Philosophie, Geographie, Anthropologie, Geschlechterforschung, Feministische Ökonomie, Postcolonial Studies, Rassismus- und Migrationsforschung etc.), die eine oder mehrere der folgenden Fragen adressieren:

  • In welchem Zusammenhang stehen Pauperisierung/›surplusification‹ und (restruktuierte) kapitalistische Akkumulation (etwa im Kontext von Prozessen der Automatisierung/Digitalisierung, partiellen Deindustrialisierung und Deagrarisierung) im globalen Norden?
  • Wie verhalten sich Klassenverhältnisse, rassifizierte Ordnungen, Geschlechterverhältnisse und andere gesellschaftliche Differenzen (sexuelle Identität, Behinderung, Alter, u.a.) in der Re-/Produktion eines Überschuss-Proletariats zueinander?
  • Erlauben Konzepte wie ›Surplus-Bevölkerung‹ oder Pauperisierung klassenanalytisch Verbindungslinien zwischen unterschiedlichen marginalisierten Gruppen zu ziehen, die bislang getrennt voneinander in Erscheinung treten (z.B. geflüchtete Migrant*innen und das verarmte Landproletariat in Europas Peripherien)?
  • Wie werden die Herrschafts- und Klassenverhältnisse, die Menschen als Surplus hervorbringen, reproduziert? Welche Rolle spielen hierfür staatliche Gewalt, soziale Kontrolle, karzerale Systeme und Nekropolitik?
  • Wie werden Surplus-Bevölkerungen räumlich durch Peripherisierungsprozesse und ungleiche Entwicklung hervorgebracht?
  • Welche (kollektiven) Widerstands- und Überlebensstrategien entwickeln pauperisierte Gruppen? Welche Perspektiven und Hürden für ihre Organisierung und Repräsentation durch (etablierte oder neu zu generierende) Formen der sozialen, institutionellen und politischen Macht existieren hier?
  • Welche Herausforderungen und möglicherweise Modifikationsbedarfe bergen Prozesse der Spaltung, Entkopplung und Pauperisierung im globalen Norden für kritische Gesellschaftstheorien und ihre Kernbegriffe (wie Ausbeutung, Akkumulation, etc.)?

Bei Interesse an einem Beitrag, senden Sie bitte ein maximal 1-seitiges Abstract mit Titel und Kontaktdaten bis zum 15. Juli 2023 per E-Mail an die Organisator*innen der Tagung*:

Tine Haubner
Institut für Soziologie
Carl-Zeiss-Straße 3
07743 Jena
Tine.Haubner(at)uni-jena.de

Laura Boemke
Institut für Soziologie
Carl-Zeiss-Straße 3
07743 Jena
Laura.Boemke(at)uni-jena.de

Mike Laufenberg
Institut für Soziologie
Carl-Zeiss-Straße 3
07743 Jena
Mike.Laufenberg(at)uni-jena.de