›Formen der Selbstthematisierung führen uns zum Kern der Funktionsweise einer Gesellschaft‹ (Unfried 2006: 359).
Die Anlässe und die mehr oder weniger institutionalisierten Kontexte individueller Selbstthematisierungen sind zahlreich und vielfältig. Beim Arzt- oder Bewerbungsgespräch, vor Gericht, bei der Psychotherapie, beim Tratschen oder in den sogenannten Sozialen Medien machen Individuen sich selbst zum Thema. Warum, unter welchen Umständen und auf welche Weise, so muss angesichts dieser Vielfalt gefragt werden, wird der Einzelne für sich selbst zum Gegenstand der Betrachtung? Und wie kommt es, dass soziales Handeln heute in der Regel autobiographisch begründet und erklärt wird? Historisch wie auch im Kulturvergleich betrachtet ist das keineswegs selbstverständlich. Denn erst seit der Renaissance lässt sich eine massive Ausbreitung verschiedener Formen der Selbstthematisierung in Europa beobachten, wobei verschiedene Entwicklungslinien zusammenlaufen (van Dülmen 1977): Die zunehmende Literalisierung bietet größeren Teilen der Bevölkerung mediale Möglichkeiten der Selbstthematisierung wie Brief und Tagebuch (von Krusenstjern 1994). Literatur und Philosophie betrachten den Menschen als Bildner und Erfinder seiner selbst, religiöse Praktiken wie die christliche Beichte nehmen ›innere‹ Motive und Absichten in den Blick (Hahn 1982). Die Reformation (Soeffner 1988) und ihre Ausläufer (Schlette 2005) bringen eine Individualisierung von Verantwortung und einen das gesamte Leben umfassenden biographischen Blick mit sich, und auch die Aufklärung entwickelt spezifische Verfahren der Gewissenserforschung und -kontrolle (Kittsteiner 1991: 254 ff.). Die modernen Sozialordnungen führen schließlich zu immer verschiedeneren, immer weniger vorhersehbaren Lebensverläufen, die soziale Differenzierung von Funktions- und Wertsphären verlangt den Individuen immer weitreichendere Reflexionsleistungen ab (Brose/Hildenbrand 1988; Schroer 2006).
Von sich selbst erzählen Individuen, die auch anders leben könnten (Thomä 2007). Ein Thematisierungs- und Problematisierungsbedarf des Selbst als Objekt der Reflexion entsteht, sobald und umso mehr soziale Position, Lebensverlauf und Lebensentscheidungen als kontingent betrachtet werden. In dem Maße wie soziale Position und Lebensverlauf nicht länger als durch unverfügbare Sozialordnungen oder transzendentale Mächte festgelegt gelten, sondern prinzipiell verfügbar werden, verlangt dies nach Rechtfertigungen (Schroer 2006: 46). Die daraus folgende legitimatorische Selbstthematisierung setzt ein entscheidungsfähiges und mündiges Selbst voraus, dessen Handlungen, Unterlassungen und Motive nicht ohne weiteres auf andere Entitäten rückführbar sind. Es gerät dadurch in den Brennpunkt von Gewissensbissen und kritischen Beurteilungen seiner ihm und nur ihm zurechenbaren Wirkungen in der Welt.
Diese modernisierungstheoretische Lesart verweist auf den kulturellen und historischen Index der Selbstthematisierung – und wirft entsprechende Fragen auf. Inwieweit sind gegenwärtige Formen der Selbstthematisierung durch religiöse und traditionelle Formen geprägt oder müssen vielmehr in ganz anderen Zusammenhängen verortet werden (Fuchs et al. 2020)? Welche Rolle spiel(t)en juridische, medizinische und therapeutische Institutionen und Formate, wie sie die Foucault’sche Genealogie betont? Waren und sind autokommunikative Schrift- und Bildpraxen für die ›Entdeckung‹ eines je singulären Selbst unabdingbar? Inwieweit und in welcher Hinsicht werden Selbst- und Sozialverhältnisse reflexiv (Giddens 1991; Archer 2012), welche Technologien des Selbst kommen dabei zum Einsatz (Foucault 1993; Rose 1999) und in welchem Verhältnis steht Subjektivität zu den verschiedenen Formen der Selbstthematisierung?
Der Workshop widmet sich den Voraussetzungen und der Kulturbedeutung von Selbstthematisierungen in modernen Gesellschaften und will dabei historische und kultursoziologische Perspektiven im Lichte jüngerer Entwicklungen zusammenbringen. Gewünscht sind somit sowohl Beiträge zur historischen Genese als auch zur gegenwärtigen Gestalt von Selbstthematisierung, die entweder eine theoretische Perspektive entwickeln oder spezifische Fälle beleuchten. Folgende thematischen Schwerpunkte sind von besonderem Interesse:
(1) Wer von sich selbst reden will, braucht dafür anschlussfähige Anhalts- und Orientierungspunkte. Hier ist danach zu fragen, welche spezifischen Beobachtungsmuster und Relevanzsysteme zur Anwendung kommen und welche Fremd- und Selbstbeobachtungsregeln dabei jeweils gelten. Das ist zugleich eine Frage nach den jeweils gültigen Autoritäten und den normativen Ordnungen der Selbstthematisierung innerhalb ihrer historisch-kulturellen Kontexte.
(2) Was motiviert die verschiedenen Formen der Zuschaustellung des Privaten? Was sind überhaupt bekenntnisfähige Themen und in welchem Verhältnis stehen dabei Selbstentblößung und Selbstverhüllung? Zu denken ist dabei nicht nur an die verschiedenen Formen der Darstellung des privaten Lebens in Weblogs oder Sozialen Medien, sondern auch an kollektiv-aktivistische Formen der Bekenntnisse wie Alice Schwarzers Aktion ›Wir haben abgetrieben‹ oder bei #MeToo.
(3) Das Sprechen über sich ist eine Art, mit Verfehlungen umzugehen. Dabei kann ›falsches Sprechen über das eigene Leben‹ leicht als ›verwerfliche Tat‹ gelten (Misik 2006; Unfried2006). Welche Formen des ›richtigen‹ oder ›falschen‹ Sprechens über sich selbst lassen sich kartieren? Hier interessiert unter anderem das Verhältnis von Fremd- und Selbstbezichtigung sowie die Mittel und Wege der moralischen Be- oder Entlastung beziehungsweise Be- oder Entschuldigung.
Wir freuen uns auf die Einreichung von Abstracts von max. 250 Wörtern mitsamt einer Kurzvita bis zum 30. September 2024 an haeckermann(at)em.uni-frankfurt.de und steven.sello(at)uni-erfurt.de.
Über die Annahme der Abstracts informieren wir bis zum 31. Oktober 2024.