Call for Papers

Der Staat in der Krise

Deadline: 31. Mai 2023

Der Krisenbegriff ist allgegenwärtig und omnipräsent, er wird geradezu inflationär verwendet. Es existiert wohl kaum ein anderer Begriff, der den medialen, politischen, wissenschaftlichen und öffentlichen Diskurs in vergleichbarer Weise prägt. Dass wir in einer krisenhaften Zeit des Umbruchs und der Veränderung leben, ist mittlerweile ein Allgemeinplatz. Derweil erfreut sich daher auch ein Zitat aus Shakespeares Hamlet aus dem Jahr 1602 großer Beliebtheit: ›Die Welt ist aus den Fugen‹.

Und in der Tat, ein kursorischer Überblick auf verschiedene Krisenphänomene der letzten beiden Jahrzehnte zeigt: Krise, Unordnung, Unsicherheit, Ungewissheit, Umbruch scheinen das Signum unserer Zeit zu sein. Auf die globale Banken-, Finanz- und Wirtschaftskrise 2007-2009, die ab 2010 nahtlos in die Staatsschulden- und Eurokrise überging, folgten die als Krise titulierten Flucht- und Migrationsbewegen im Jahr 2015. Mit der Wahl von Donald Trump zum US-amerikanischen Präsidenten und dem Brexit wurde sodann vielfach eine Krise der liberalen Demokratie, gekennzeichnet durch den globalen Aufstieg des Nationalismus, Rechtspopulismus und Autoritarismus, konstatiert. Spätestens mit dem Aufkommen der Fridays for Future-Bewegung rückte die sich intensivierende Klimakrise ins kollektive Bewusstsein. Im März 2020 brach schließlich die verheerende Corona-Krise, in der fundamentale Grundrechte außer Kraft gesetzt und für unmöglich gehaltene Einschränkungen des öffentlichen und privaten Lebens beschlossen wurden, aus. Corona wiederum war keineswegs der Schlusspunkt der Krisenkaskade, denn mit dem russischen Überfall auf die Ukraine kehrte im Februar 2022 der eigentlich für unvorstellbar gehaltene Krieg in seiner Form als imperialistischer Eroberungskrieg nach Europa zurück, mit Leid und Zerstörung, mit Tausenden Toten und brutalen Menschenrechtsverletzungen. In Folge des Krieges stellten sich zudem speziell in Deutschland und anderen EU-Staaten rasant steigende Inflationsraten und eine veritable Energie(preis)krise ein.

Moderne Gesellschaften scheinen mit vermehrten und sich beschleunigenden Krisen konfrontiert zu sein. Verschiedene Krisen, die gleichzeitig stattfinden, die nicht fein säuberlich voneinander getrennt sich ablösen, sondern sich überlagern, einander bedingen und sich in den Wirkungen gegenseitig verstärken. Der Wirtschaftshistoriker Adam Tooze hat dafür den Begriff der ›Polykrise‹ geprägt, eine Mehrheit von zeitgenössischen Beobachter:innen, Politiker:innen, Journalist:innen und auch Wissenschaftler:innen hingegen spricht lieber von der ›neuen Normalität‹ oder der ›Zeitenwende‹, um die von einer exzeptionellen Krisenkaskade geschüttelte Gegenwart zu charakterisieren.

Vor diesem zeitgeschichtlichen Hintergrund will sich der geplante Band auf theoretischer und empirischer Ebene mit dem Staat in der Krise befassen. Der Ausdruck Staat in der Krise verweist zuallererst auf Krisen des Staates, auf Staatskrisen. Die Bezeichnung Staat in der Krise verweist aber zugleich auch auf eine weitere Dimension, und zwar auf staatliches Handeln in Krisen. Denn Krisen sind Situationen, in denen unter Zeitdruck Entscheidungen getroffen werden müssen. Daher heißt es auch so oft, dass Krisenzeiten Zeiten der (staatlichen) Exekutive seien.

Doch was genau ist eigentlich gemeint, wenn vom Staat in der Krise und einer Staatskrise die Rede ist? Der Krisenbegriff an sich ist bereits, obwohl er geradezu inflationär verwendet wird, nicht leicht zu definieren. In seiner ursprünglichen Bedeutung zielte der Terminus Krise auf eine unwiderrufliche Entscheidung und bezeichnete eine existenzielle, bestandsgefährdende Bedrohungslage. In einer allgemein gehaltenen Minimaldefinition kann Krise als sich zuspitzende Entscheidungssituation mit ungewissem Ausgang gefasst werden. Krisen werden mittlerweile zwar andauernd diagnostiziert, dabei wird Krise aber vielfach – auch in wissenschaftlichen Analysen – schlicht als dramatisierendes und pointierendes Signalwort genutzt. Eine weiterführende begrifflich-definitorische Arbeit und theoretische Grundlegung hingegen bleiben häufig aus.
Die Buchbeiträge können sich aus verschiedenen Disziplinen (Soziologie, Politikwissenschaft, Rechtswissenschaft, Verwaltungslehre, Geschichtswissenschaft, Wirtschaftswissenschaft etc.) zusammensetzen und sollen sich in theoretischer oder empirischer Perspektive mit historischen oder aktuellen Krisen des Staates und/oder mit staatlichem Handeln in Krisen befassen.

Folgende Fragen und Krisenphänomene können dabei u.a. in den Blick genommen werden:
Wann liegt überhaupt eine Krise vor und wann genau liegt eine veritable Staatskrise vor? Was macht eine Krise zu einer Krise des Staates? Sind Staatskrisen Ausnahmefälle oder verweist, gerade in heutigen Zeiten, der Ausdruck Staat in der Krise vielmehr auf den Normal- oder Dauerzustand? Wie lassen sich Staatskrisen theoretisch-konzeptionell erklären und empirisch belegen? Welche Form nehmen Krisen des Staates an?
Krisen des Staates können nämlich prinzipiell in vielen Erscheinungen auftreten. Neben genuin politischen Krisenphänomenen wie Legitimationskrisen, Regierungskrisen, Verfassungskrisen, Demokratiekrisen, Vertrauenskrisen oder Krisen des Sozialstaats sind stets auch ökonomische Krisenphänomene wie Finanzkrisen, Wirtschaftskrisen, Währungskrisen oder aktuell die Entwicklung von Inflation und Energiepreisen kritische und herausfordernde Zeiten für den Staat. Hinzu kommen humanitäre Katastrophen und Kriege sowie medizinische Katastrophen wie die Corona-Pandemie. Was zeichnet diese jeweiligen Krisenphänomene aus? Wie können sie theoretisch-konzeptionell erklärt und gefasst werden? Wo liegen Gemeinsamkeiten und Unterschiede? Was macht diese Krisen zu Krisen des Staates?

Darüber hinaus können die Buchbeitrage staatliches Handeln in Krisen thematisieren: Wie und warum handelt der Staat in spezifischen Krisen – etwa in der Corona-Krise, der Klimakrise, der Flüchtlings›krise‹, der Finanz- und Wirtschaftskrise oder in der aktuellen Kriegskonstellation – so, wie er es tut? Warum werden diese Entscheidungen zur Bearbeitung und Bewältigung einer Krise getroffen und keine anderen? Warum scheinen bestimmte Entscheidungen als Reaktion auf Krisen möglich, gar alternativlos zu sein, während diese Entscheidungen als präventive Maßnahmen als unmöglich galten bzw. vor der Krise undenkbar waren? Inwieweit können wir bzw. kann der Staat aus historischen Krisen lernen? Wie kann eine gelungene staatliche Krisenprävention aussehen?

Bitte richten Sie Ihre Vorschläge für einen Beitrag (max. 1 Seite) bis zum 31. Mai 2023 an die unten genannte Adresse. Einsendeschluss für die Manuskripte (max. 60.000 Zeichen inkl. Leerzeichen und Literaturverzeichnis) ist der 30.11.2023.

Kontakt

Dr. Joris Steg, Bergische Universität Wuppertal, E-Mail: steg(at)uni-wuppertal.de