Ethische Leitlinien in der qualitativen Sozialforschung betonen, dass die Schutzbedürftigkeit von Forschungsteilnehmenden gewährleistet werden muss, indem der Schutz vor Schaden oder Beeinträchtigung, die Folgenlosigkeit der Partizipation sowie das Wohlbefinden der Informant*innen durch die Forschenden sichergestellt werden. Dies gilt insbesondere für die Forschung mit Menschen, denen u.a. aufgrund ihrer Biografie, ihren Erfahrungen von physischer, psychischer und sexualisierter Gewalt, ihren erlebten Traumata, ihren psychischen oder körperlichen Erkrankungen, ihrer besonderen Lebenssituation, ihrer existentiellen Notlage oder ihrer Fluchtgeschichte eine besondere Vulnerabilität zugeschrieben wird.
Kodifizierte Verfahren der qualitativen Sozialforschung wie teilnehmende Beobachtungen, narrative Interviews aber auch Gruppendiskussionen zielen auf eine Rekonstruktion der auf alltagsweltlichen Interpretationsleistungen beruhenden Sinnzuschreibungen der Menschen ab. Sie erfordern daher von Forschenden ein Eintauchen in das Feld, das Herstellen einer kommunikativen Nähe zu den Forschungsteilnehmenden sowie eine praktizierte Offenheit und Neugierde. Auf diese Weise können sich Forscher*innen vom Feld überraschen lassen. Methodisch kontrolliertes Fremdverstehen ist nur dann möglich, wenn den Forschungsteilnehmenden der kommunikative Raum eröffnet wird, sich in der eigenen Sprache und nach dem eigenen Relevanzsystem ausführlich zu äußern.
Dieses Vorgehen in der Forschung mit Menschen kann mitunter dazu führen, dass diese in Erhebungssituationen über Erlebnisse des Kontrollverlustes erzählen, dabei sehr emotional werden oder in Tränen ausbrechen. Sowohl für die Forschungsteilnehmenden als auch für die Forschenden selbst können dadurch belastende und herausfordernde Situationen entstehen, in denen eine Aufrechterhaltung der Rollen schwierig wird. Auch Forschende erfahren Situationen der Datenerhebung vor dem Hintergrund ihrer eigenen Biographie, die Einfluss auf das Geschehen und das (über die Situation hinaus reichende) Erleben haben können. In diesen Situationen begegnen sich Menschen, die ihre eigene Verletzlichkeit erleben, ob als Erzählperson oder als zuhörende Forschende. Während die Schutzbedürftigkeit der Forschungsteilnehmenden durch ethische Leitlinien festgeschrieben ist, bleibt unklar, wie die Schutzbedürftigkeit der Forschenden gesichert werden kann. Daher muss darüber diskutiert werden, wie sowohl die Forschungsteilnehmenden als auch die Forschenden vor, während und nach Erhebungssituationen besser geschützt werden können. Ein erster Schritt wäre, die eigene Verletzlichkeit der Forschenden zum Thema zu machen, um über Umgangsmöglichkeiten zu reflektieren.
Wir freuen uns über Beiträge, die sich im Sammelband u. a. mit folgenden Fragen auseinanderzusetzen:
- Was bedeutet Vulnerabilität im Forschungsprozess und wie steht sie zu verwandten Begriffen wie Betroffenheit?
- Wie hängen Vulnerabilität und ihre Erforschung zusammen? Wie tragen Forschende dazu bei, Individuen oder Gruppen Verletzlichkeit zuzuschreiben?
- Inwieweit ist die Zuschreibung, vulnerabel zu sein, für Forschungsteilnehmende und Forschende (nicht) gleichermaßen Konsens?
- Inwieweit sind Distanzanrufungen bedeutsam (Distanz zu Forschungsteilnehmenden, Distanz zu eigenen biografischen Erfahrungen von Vulnerabilität)? Wie lassen sich diese Prozesse theoretisch-konzeptionell erfassen (bspw. als Othering)?
- Inwieweit werden unterschiedliche Rollen (bspw. Rolle als Forschende, eigene biografische Identität) relevant? Wie beeinflussen diese das Forschungshandeln (bspw. hinsichtlich der Produktion von Fremdheit)?
- Welche Erfahrungen und Praktiken zu herausfordernden Interviewsituationen bestehen in der Forschungspraxis?
- Wie werden Forschende im Rahmen von Forschungsprojekten begleitet und unterstützt und inwiefern sind die Vorbereitung auf Erhebungssituationen mit bestimmten Zielgruppen, die Nachbereitung und die Unterstützung beim Umgang mit qualitativen Daten Teil des Forschungsprozesses?
- Welche Gefahren und Qualitätslücken bestehen derzeit für Forschende in qualitativen Forschungsprozessen?
- Inwiefern ist es Teil der Verantwortung und Qualität der Arbeit von Forschenden in qualitativen Forschungsprozessen, sich mit der eigenen Verletzlichkeit und dem Umgang damit auseinanderzusetzen?
Wir laden Forschende, Postdoktorand*innen, Promovierende, Lehrende und Studierende herzlich dazu ein, ihre Erfahrungen und Erkenntnisse zur Schutzbedürftigkeit von Forschenden in qualitativen Forschungsprozessen in Form eines Beitragsvorschlags bei uns einzureichen. Senden Sie Ihr aussagefähiges Abstract mit einem Umfang von maximal 300 Wörtern bitte bis 15. November 2025 mit Ihrem Name und Kontaktdaten, Ihrer Institution und Funktion und dem Titel und Inhalt des Beitrags an christin.schoermann(at)iu.org, n.sellner(at)katho-nrw.de und frank.sowa(at)th-nuernberg.de.
Im Anschluss werden die Beitragsvorschläge von den Herausgebenden geprüft und ausgewählt. Die konkrete Gestaltung des Sammelbandes und der Beiträge soll dann partizipativ im Rahmen eines Autor*innen-Workshops ausgehandelt werden, den wir auf der Grundlage der akzeptierten Abstracts gemeinsam diskutieren möchten.
Der Zeitplan ist wie folgt vorgesehen:
bis 15.11.2025 Abstracts einreichen
15.01.2026 Rückmeldung/Entscheidung durch die Herausgebenden
März/April 2026 Digitaler Workshop der Autor*innen
01.10.2026 Einreichung der Buchkapitel (max. 8.000 Wörter)
15.01.2027 Rückmeldung zu Manuskripten
01.03.2027 Abgabe Buchmanuskript an den Verlag