Die Landwirtschaft steht aktuell – wie auch schon zu Beginn des 19. und zur Mitte des 20. Jahrhunderts – vor grundsätzlichen Umbrüchen. Zwar wurde durch die wissensbasierte Intensivierung der Landwirtschaft eine historisch bis dahin ungekannt selbstverständliche Ernährungssicherung ermöglicht sowie die Herstellung kostengünstiger agrarischer Erzeugnisse bei geringer Bindung von Arbeitskräften (vgl. etwa Ahrens 2022, Bundesamt 2021). Doch dies geht einher mit der Überschreitung ökologischer Grenzen, von Bodendegradation über Biodiversitätsverlust bis hin zur Schadstoffbelastung von Boden, Gewässern und Nahrungsmitteln (Heißenhuber/Heber et al. 2015). Ebenso stehen landwirtschaftliche Betriebe je nach Betriebsgröße und betrieblicher Ausrichtung angesichts wachsender Arbeitsbelastungen, immer größerer Investitionsrisiken und anderen Unsicherheitsfaktoren (Meuwissen/Feindt et al. 2019) unter enormem Druck. Dies bleibt zudem nicht ohne Folgen für die Entwicklung ländlicher Räume und berührt letztlich ebenso Fragen der Ernährungssicherheit.
Seit der Veröffentlichung des Gutachtens ›Landwende im Anthropozän‹ des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung für Globale Umweltveränderungen (WBGU 2020) wird daher die Forderung, dass sich der Umgang mit ›Land‹ ändern müsse, aus den Klima- und Umweltwissenschaften in besonderer Einmütigkeit und Eindringlichkeit an Politik und Wirtschaft adressiert. Ebenso bestehen Änderungsvorschläge zur Nutztierhaltung, um vor allem die negativen Effekte einer zu intensiven Tierhaltung einzudämmen (BMEL 2015). Eine eigens eingerichtete ›Zukunftskommission Landwirtschaft‹ beschäftigte sich daher in Deutsch- land mit der Frage, wie ein solcher Wandel für die Landwirtschaft aussehen kann und entwarf dazu verschiedene Szenarien (Zukunftskommission 2021). Eine Transformation der landwirt- schaftlichen Produktion und Produktionsbedingungen ist – wie vor diesem Hintergrund erkennbar – unabwendbar und findet in Teilbereichen bereits statt. Die Frage ist, inwieweit die Art und Richtung dieser Transformation gestaltet werden soll und kann.
Die Vielfalt sich aufdrängender Herausforderungen und Schwierigkeiten geht einher mit einer sich offenbarenden Brüchigkeit des herkömmlichen agrarischen Reflexionswissens – des Wissens also, mit Hilfe dessen das agrarische Feld sich selbst sowie seine Umwelt beschreibt und das bisher handlungsanleitend für die agrarische Praxis war. Die Brüchigkeit des agrarischen Reflexionswissens manifestiert sich darin, dass trotz der enormen Wissensintensität dieses Feldes angesichts der genannten Probleme und Gefährdungen – vielfältige ökologische Grenzen einerseits, betriebliche Herausforderungen andererseits – eine integrative Problemdiagnose und Transformationsperspektive nach wie vor unterthematisiert bleibt. Hinzu kommt, dass ökologische und betrieblich relevante Schäden unintendierte Folgen der Anwendung agrarwissenschaftlichen Wissens sind, welches aber Landwirt:innen bisher von Expert:innen und Berater:innen nahegelegt wurde. Fehlende Nachhaltigkeit und Resilienz bis hin zu massiver Gefährdung der agrarischen Erzeugung durch Bodenerosion oder massiven Schäden in als Monokulturen bewirtschafteten agrarischen Kulturen und Forsten sind dafür nur die offensichtlichsten Beispiele. Die Differenz von Risiko und Gefahr (Luhmann 1993) gewinnt damit eine neue, geradenach zynische Dimension, indem die Verursachung von Schäden zwar auf eigene (riskante) Entscheidungen (der Landwirte) zurückgeht, diese jedoch durch Dritte (wissenschaftsbasierte Beratung) in eine (gefährdende) Richtung motiviert wurden. Gleichzeitig bleiben trotz dieser offensichtlichen Brüchigkeit agrarischen Reflexionswissens landwirtschaftliche Praxis und ihre agrarpolitische Regulierung auf wissenschaftliches Wissen angewiesen, was zweifellos ebenso zu Verhärtungen im Diskurs um die Zukunft der Landwirtschaft beiträgt. Das agrarische Feld steht daher vor der Herausforderung, die eigene Wissensbasis zu reflektieren und perspektivisch zu erweitern.
Angesichts dieser Relevanz ist auffällig, dass sich sozial- und kulturwissenschaftliche Forschung jenseits der Ökonomie im Agrarbereich mit kaum gegebener universitärer Institutionalisierung mit den Herausforderungen im agrarischen Feld beschäftigen. Eine seit den 1950er Jahren dominierende Fokussierung auf technische und selektive ökonomische Fragestellungen ist dabei auch das Ergebnis wissenschaftshistorischer Entwicklungspfade. So hat die Soziologie im deutschsprachigen Raum in den 1950er Jahren die Modernisierung der Landwirtschaft als Agrarsoziologie zwar mehr oder weniger kritisch begleitet, jedoch ohne eigene langfristige institutionelle Etablierung an den Universitäten (Inhetveen 2003; Hirte 2019). Soziologisch wurde daher zunehmend vorrangig zu Umwelt- und Ernährungsaspekten sowie zu ländlichen Räumen geforscht (Barlösius 1995, Beetz/Brauer et al. 2005, Rückert-John/Laschewski 2016, Maschke/Mießner et al. 2021). Hinzu kommt, dass im Bereich der Wirtschafts- und Gesellschaftswissenschaften des Landbaus eine Agrarpolitik nominal zwar nach wie vor besteht, sich jedoch epistemologisch zunehmend einem agrarökonomischen Fokus annäherte, ohne bestehende alternative theoretische Perspektiven – von der Institutionen- bis zur Systemtheorie – auf das Agrarische reflektierend zu beziehen (Hirte 2019). Für die Agrargeschichte gilt ähnlich wie für die Agrarsoziologie eine mittlerweile fehlende universitäre Präsenz (siehe hier insb. die Initiative für den Erhalt der Agrargeschichte, Agrargeschichte 2021). Die Kulturwissenschaft und die Anthropozänforschung schließlich beziehen sich zwar mit dem Konzept Gaia auf einen eigentlich agrarischen Topos (z. B. Latour 2017), ohne dass damit jedoch die Herausbildung einer agrarischen Kulturforschung verbunden bzw. angestrebt war bzw. ist.
Im Erkennen diese Zusammenhänge und der damit verbundenen drängender werdenden Probleme entstehen jedoch in jüngster Zeit auch in verschiedenen universitären Kontexten Ansätze in den deutschsprachigen Sozial- und Kulturwissenschaften, die das agrarische Feld verstärkt mit interdisziplinärer Perspektive in den Blick nehmen: So rückt z. B. das Agrarische in der Soziologie über eine Auseinandersetzung mit Veränderungen agrarischer Arbeit (Brunsen/Fessler et al. 2023), agrarischer Materialität (Henkel 2017), verschiedenen Landwirtschaftsstilen (Ahrens 2022) oder den vielfältigen Konnotation von ›Land‹ (Gruber/Scheler et al. 2024) in den Blick. In der Politikwissenschaft entstehen Perspektiven auf das agrarische Feld, die sich epistemologisch dezidiert in der Politikwissenschaft verorten lassen (Feindt/Proestou et al. 2020; Feindt/Schwindenhammer et al. 2021). Auch in den Kommunikationswissenschaften sind die neuen Herausforderungen aufgenommen worden, da die wahrgenommene Marginalisierung oder gar Abwertung des Landwirtschaftlichen agrarische Kommunikation verändert (Kussin/Berstermann 2022; Dauermann/Karatassios et al. 2023; Kussin 2024). Unter Verortung in der Technik- und Umweltgeschichte erfolgt eine Auseinandersetzung mit der Entwicklung landwirtschaftlichen Wissens (Uekötter 2010). Ebenso entsteht ein Interesse am Agrarischen aus den Kulturwissenschaften heraus (Heistinger/Kosnik et al. 2020, Wittmann 2021, Grossart 2018).
Auch in der Agrarökonomie entwickeln sich zunehmend politik-, kultur- oder kommunikationswissenschaftlich orientierte Perspektiven, die nicht zuletzt auch auf Fragen gesellschaftlicher Akzeptanz für einzelne landwirtschaftliche Produktionsverfahren fokussieren und Mög- lichkeiten einer wirksameren Branchenkommunikation aufzeigen (Busch 2017; Erdmann 2018; Sonntag/Erdmann et al. 2021). Aus einer Auseinandersetzung mit technischer Akzeptanz, insbesondere im Kontext von Digitalisierung, entsteht zudem eine sozialwissenschaftli- che Auseinandersetzung mit Treibern und Hemmnissen (Béné/Prager et al. 2019; Brouwer/McDermott et al. 2020; Panell/Gandorfer et al. 2019). Zugleich verdeutlichen Diskussionen um den Status der Ergebnisse aus der Zukunftskommission Landwirtschaft, in welchem Maße eine bestimmte Form der Agrarökonomie für sich weiterhin eine konkurrenzfreie Diskurshoheit in der Agrarpolitik behauptet (Koch 2021). Die sozialwissenschaftlich integrative Seite damit verbundener Konflikte werden dabei aber, wie der Wissenschaftliche Beirat für Agrarpolitik schon 2015 dazu selbst feststellte, in den bisherigen agrarwissenschaftlichen und agrarpolitischen Diskussionen zu wenig beachtet (WBA 2015, 216).
Angesichts dessen sind die Sozial- und Kulturwissenschaften aufgefordert, ihre Perspektiven für die Entwicklung agrarischen Reflexionswissens zu nutzen, die geeignet sind,
- das Agrarische als sozial- und kulturwissenschaftlichen Gegenstand multiperspektivisch, interdisziplinär und integrativ zu erschließen,
- die bestehenden Herausforderungen in deren Genese und Wirkung umfassender zu verstehen und zu erklären sowie
- zu einem erweiterten agrarischen Reflexionswissen beizutragen, das geeignet ist, die gesellschaftliche Handlungsfähigkeit in der aktuellen agrarischen Transformation zu ergänzen
- und damit insgesamt der Frage nachzugehen, welche Leerstellen im bisherigen Bestand agrarischen Reflexionswissens konkret bestehen und welche Ergänzungen und Veränderungen erforderlich sind, um bei bestehender hoher Wissensabhängigkeit des Agrarsystems dessen Transformation angesichts institutioneller und ökologischer Treiber, struktureller Kopplungen mit vielfältigen gesellschaftlichen Bereichen aber auch betrieblicher sowie persönlicher Grenzen dieses langfristig nachhaltig zu gestalten.
Neben den oben genannten, aktuell bereits entstehenden sozial- und kulturwissenschaftlichen Perspektiven, bieten sich deren Theorie- und Methodenansätze für diese Herausforderungen an. Untersuchungen zum gesellschaftlichen Wandel, zum Verhältnis von Materialität und Sozialität, von Natur und Kultur, zu in Praktiken eingebundenen Strukturen und Handlungen, zu Wissenschaftstheorie und Wissenskulturen, zum Verhältnis von Wirtschaft und Gesellschaft, zur Verknüpfung von Macht und Wissen oder dem Wandel von Organisationen und Institutionen sind in ihrer Relevanz als agrarisches Reflexionswissen offensichtlich.
Das Anliegen dieses Workshops ist es daher, bestehende sozial- und kulturwissenschaftliche Forschung im deutschsprachigen Raum zur Landwirtschaft und hier insbesondere zur sozial- ökologischen Transformation zueinander zu führen und füreinander sichtbar zu machen. Im Zuge dessen soll auch diskutiert werden, ob sich ein gemeinsames Forschungsdesiderat ›Interdisziplinäre Erweiterung agrarischen Reflexionswissens‹ so weit spezifizieren lässt, dass die Beantragung eines Schwerpunktprogramms der DFG mit Aussicht auf Erfolg angestrebt werden kann.
Sowohl empirische Arbeiten als auch theoretisch-reflexive Ansätze oder Übersichtsarbeiten zur Transformation des Land- und Ernährungssystems sind willkommen.
Beitragsvorschläge für Vorträge (ca. 300 Wörter) senden Sie bitte bis zum 15. März 2024 an Holli Gruber (holle.gruber(at)uni-passau.de), Anna Henkel (anna.henkel(at)uni-passau.de), Matthias Kussin (m.kussin(at)hs-osnabrueck.de) und Laura Scheler (laura.scheler(at)uni-passau.de).