Call for Papers

Kirche.Macht.Missbrauch. Soziologische Zugänge

Deadline: 30. November 2023

Viel ist inzwischen über Missbrauchspraktiken in Kontexten institutionalisierter Religion bekannt. Wir kennen Details zum Ausmaß, zur Dauer, zum Ablauf und zu den institutionellen Settings des sexuellen Missbrauchs an Minderjährigen durch Geistliche und andere Funktionsträger:innen religiöser Organisationen. Wir wissen, wie die Täter (und die wenigen Täterinnen) vorgegangen sind beziehungsweise auch noch vorgehen. Ans Licht kamen auch die Mechanismen, mit denen es ihnen durch die Hilfe von anderen Amtsträger:innen gelang, über Jahre oder gar Jahrzehnte hinweg unbehelligt Minderjährige zu missbrauchen. Im Fokus der öffentlichen Debatten sind gegenwärtig vor allem die Fälle sexuellen Missbrauchs an Minderjährigen, das Problem erschöpft sich darin aber nicht, vielmehr äußert es sich auch in emotionalen und spirituellen Missbrauchspraktiken. Zudem findet Missbrauch nicht nur in der römisch- katholischen Kirche, sondern auch in zahlreichen anderen religiösen Organisationen, Institutionen und Settings statt. Die öffentlich skandalisierten Fälle sexuellen Missbrauchs repräsentieren nur die Spitze eines Eisbergs, Missbrauch findet insgesamt sehr viel häufiger und in allen Bereichen des religiösen Lebens statt.

Wissen über Missbrauchspraktiken gewinnen wir vor allem aus Gerichtsverfahren, journalistischen investigativen Recherchen und Aufarbeitungsberichten. Die Diskussion wird beherrscht von Beiträgen aus Geschichtswissenschaften, Psychologie und Theologie, oftmals steht auch eine juristische Perspektive im Vordergrund. Dennoch steht eine umfassende sozialwissenschaftliche Erklärung des Missbrauchskomplexes in der organisierten Religion bisher aus. Psychologisierende und individuumsbezogene Erklärungsversuche, die allein auf Eigenschaften, Merkmale oder (psychische) Besonderheiten der Täter:innen abzielen, können das komplexe soziale Phänomen des Missbrauchs jedoch nicht vollumfänglich erfassen– auch wenn sie nicht ignoriert werden dürfen. Und auch Versuche, wie sie teilweise aus dem Feld selber kommen, indem kulturelle Phänomene, historische Gegebenheiten (wie ›die 68er‹) oder falsche moralische Vorstellungen verantwortlich gemacht werden, können aus sozialwissenschaftlicher Perspektive keinesfalls befriedigen: Erklärungen und Ansätze, die die Ursache sexuellen Missbrauchs an Minderjäh- rigen in Einzeltäter:innen oder in normativ falsche Kulturvorstellungen externalisieren oder als allgemeine gesellschaftliche Wertvorstellung hinsichtlich Sexualität in die Umwelt von Kirche und Religion verlegen, blenden wesentliche soziale Strukturbedingungen und Merkmale von Missbrauch aus.

Für unser Sonderheft der Zeitschrift für Religion, Gesellschaft und Politik wollen wir von einer dezidiert soziologischen These ausgehen: Da Missbrauchspraktiken massenhaft stattfinden, sich in vielen Regionen der Welt ereignen, in nahezu allen Formen institutionalisierter und organisierter Religion vorkommen und ähnliche Dimensionen und Muster aufweisen, lassen sich Missbrauchspraktiken als wiederkehrende, systematische, wenn nicht systemische Strukturmomente von Kirchlichkeit und organisierter Religion auffassen. Missbrauch ist kein zufälliger Betriebsunfall der Religion, sondern religiöse Strukturen, kirchliche Systeme und Kultur(en) enthalten selbst Bedingungen und/oder Kräfte, die Missbrauch ermöglichen und Missbrauchspraktiken (re-)produzieren.

Im Rahmen dieser Perspektivumkehr rufen wir zur Einsendung von Beitragsvorschlägen auf, die unter Rückgriff auf verschiedene theoretische und/oder empirische Untersuchungen unterschiedliche Missbrauchspraktiken in ihren praxeologischen, kulturellen, institutionellen und funktionalen Zusammenhängen thematisieren und in die strukturelle Logik der Religion einbetten. Da zwar die Aufarbeitung des Missbrauchskomplexes einige Erkenntnisse erbracht hat, die sozialwissenschaftliche Bearbeitung des Phänomens jedoch noch am Anfang steht, werben wir für Beiträge mit einem breiten sozialwissenschaftlichen Perspektivenpluralismus, sodass das Phänomen des Missbrauchs in folgenden Aspekten und Fragestellungen bearbeitet werden kann:

  • Religionssoziologische und theologische Perspektiven: Inwiefern tragen religionsspezifische oder auch christlich-theologische Strukturen oder Dogmatiken zum Missbrauch bei? Verhindern Glaubenssätze, Ethiken oder kulturelle Traditionen die Aufdeckung des Missbrauchs und tragen sie damit eher zu dessen Aufrechterhaltung bei? Welche Rolle spielen bspw. Vorstellungen von Keuschheit und Reinheit von Geistlichen oder Lai:innen, also etwa das Zölibat in der römisch- katholischen Kirche als religiöse Strukturen? In welcher Weise leisten die in vielen, insbesondere konservativen und traditionell geprägten christlichen Kirchen nach wie vor stark bedeutsamen vormodernen sozialen Organisationsprinzipien unterschiedlichen Formen von Missbrauch Vorschub? Inwieweit behindert eine ›klerikale Kultur‹ eine offene Thematisierung und Bearbeitung von Missbrauch?

  • Institutionalistische, organisationssoziologische Perspektiven: Ein besonderer Fokus für eine soziologische Untersuchung von Missbrauchspraktiken liegt auf der Organisationsform von Religion. In diesem Rahmen ist zu fragen, inwieweit kirchliche Organisation, Hierarchie, Lehre und Kultur Missbrauchspraktiken und deren Behandlung begünstigen. Kann Missbrauch gar auf institutionelle und strukturelle Besonderheiten zurückgeführt werden? Wirkt Missbrauch wiederum auf institutionelle Settings, Hierarchien und Praktiken zurück? Inwieweit tragen Struktur und Organisation der Kirche durch Versetzung und Vertuschung zur Reproduktion und zu Wiederholungen des Missbrauchs bei?

  • Perspektiven auf Machtfragen: Inwiefern (re-)produziert sexueller Missbrauch weitreichendere Relationen von Macht und Herrschaft, beispielsweise zwischen Täter:innen und Opfern, zwischen Amtsträger:innen und Lai:innen, aber auch zwischen Vertreter:innen unterschiedlicher Hierarchieebenen? Tragen Machtdifferenziale zur Kontinuität von Missbrauchspraktiken bei, indem Kirchen und deren Amtsträger:innen so viel Macht und Ansehen besitzen (oder vielleicht auch nur bis in die 1990er besaßen), dass nicht gegen sie agiert werden konnte, sodass sogar die Opferfamilien schwiegen und strafrechtlich kaum gegen Geistliche vorgegangen wurde?

  • Komparativ-historische Perspektiven: In welcher Form unterscheidet sich sexueller Missbrauch von anderen Arten des Missbrauchs, wie einem moralischen, emotionalen oder spirituellem Missbrauch? Unterscheiden sich Missbrauchspraktiken systematisch zwischen Konfessionen und Typen von religiösen Organisationen? Gibt es Unterschiede in der Art und Weise des Missbrauchs in transnationaler, regionaler und lokaler Hinsicht und unter einer postkolonialen Perspektive? Lassen sich historische Kontinuitäten zur Erklärung von Ausmaß und Ausprägung des Missbrauchs feststellen?

  • Perspektiven auf Geschlecht, Sexualität und Gewalt: Welche Rolle spielen (spezifisch religiöse) Konstruktionen und Wahrnehmungen von Geschlechtlichkeit und vor allem Maskulinität bei Missbrauchspraktiken? Tragen bestimmte Vorstellungen von Sexualität zum Verstehen des Missbrauchspraktiken bei? Gibt es Unterschiede hinsichtlich der Legitimität von Sexualität? Inwieweit gibt es Definitions- und Interpretationskämpfe um das Phänomen selbst, sodass die Deutung von Missbrauch als sexuelle Gewalt von Akteuren bestärkt oder in Zweifel gezogen wird? Wie kann eine gewalt- und körpersoziologische Perspektive, die das Erleiden der Gewalt durch die Opfer thematisiert, zur wissenschaftlichen Erklärung von missbräuchlichen Interaktionsstrukturen und deren Folgen beitragen?

  • Methodische und methodologische Perspektiven: Welche methodischen Probleme stellen sich, wenn es um die Erforschung von Opfer- und Täter:innenperspektiven geht? Wie kann den Herausforderungen begegnet werden, dass der Zugang (durch die Kirchen) zum Feld reglementiert wird, dass bestimmte Quellen nicht (mehr) verfügbar sind oder dass man sich auf Archive verlassen muss, deren Pflege der Täter:innenorganisation obliegt? Welche Potenziale und Grenzen bieten bestimmte Methoden und bzw. ihre Kombination?

  • Differenzierungstheoretische Perspektiven: Auf welche Weisen wirken andere Teilbereich der Gesellschaft wie Politik und Recht begünstigend, aufklärend, verhindernd etc. auf Missbrauch in religiösen Organisationen ein? Welche Rollen spielen (soziale) Medien und die darin stattfindende Skandalisierung für die Aufdeckung und Einordnung des sexuellen Missbrauchs? Wie werden unterschiedliche Formen des Missbrauchs in kirchlichen Organisationen und in der Öffentlichkeit thematisiert, kritisiert, skandalisiert oder auch bagatellisiert?

Das Sonderheft ›Missbrauch und Religion. Soziologische Zugänge‹ erscheint 2025 in der Zeitschrift für Religion, Gesellschaft und Politik. Wir erbeten aussagekräftige Abstracts deutscher oder englischer Sprache im von Umfang von etwa einer Seite bis zum 30. November 2023 an folgende Adressen: kelle(at)hsu-hh.deandreas.schmitz(at)ovgu.de, und andre.armbruster(at)uni-due.de. Nach Durchsicht der Abstracts fordern wir zur Einreichung vollständiger Manuskripte im Umfang von 60.000 bis 80.000 Zeichen bis zum 30. Juni 2024 auf. Die eingereichten Beiträge durchlaufen ein double blind peer review-Verfahren, wobei alle Ergebnisse der Begutachtung – von minor über major revisions bis hin zur Ablehnung des Manuskripts – möglich sind. Eine Aufforderung zur Einreichung stellt keine Publikationszusage dar. Wir freuen uns auf Ihre Beiträge!