Empirische und akteurszentrierte Forschungen zu rezenten Formen von Arbeit (im Sinne des weiten Arbeitsbegriffs) werfen die Frage auf, ob die herkömmlichen Analysekonzepte – fordistische vs. postfordistische Arbeit – noch passen, um eine weithin zu beobachtende Normalisierung entgrenzter, subjektivierter, prekärer oder auch deinstitutionalisierter Arbeit, eingebunden in vergleichsweise neue (Selbst-)Kontroll- und Disziplinarregimes, adäquat zu beschreiben. Angesichts der in vielen Milieus sich zeigenden Normalisierungseffekte postfordistischer Lebensführung will diese Tagung ausloten, wieweit sich unsere Verständnisse von Arbeit und Leben im Alltag noch in die Formate und Blickwinkel einfügen, mit denen die Arbeitsethnografie und Industriesoziologie in den letzten Jahrzehnten geforscht hat. Wir wollen auf Basis empirischer Forschungen im Feld der Arbeitsethnografie und verwandter Fachrichtungen der Frage nachgehen, inwiefern sich unser Arbeitsbegriff entsprechend verändern müsste. Wie könnte sich demzufolge ein›post-postfordistischesˮ Arbeitsparadigma beschreiben lassen?
Den diagnostischen Ausgangspunkt der Tagung, der Fragen für die zukünftige Forschung formulieren will, bildet die Hypothese eines „new normal‹ Dieses›new normal‹wird in den Sozial- und Kulturwissenschaften im angelsächsischen Raum bereits seit geraumer Zeit diskutiert. Demnach sind die Strukturmerkmale postfordistischen Arbeitens so normal geworden, dass sie im Alltagsbewusstsein und Arbeitsethos, im Arbeitshandeln und den (de-)regulierten Grundlagen immer weiterer Branchen und Berufe objektiviert und auch habituell relevant geworden sind. Aspekte dieses›neuen Normal‹von Arbeit betreffen Subjektivierung, Vernetzung, Projektförmigkeit, Hierarchienivellierung, Moralisierung, Performanz, Inszenierung, erhöhte Mobilität, liberale rechtliche Grundlagen und deregulierte Schutzregeln, Digitalisierung und Immaterialisierung, Entgrenzung, Kreativisierung und Ästhetisierung.
All diese Merkmale des Postfordismus sind inzwischen tief verankert in der Arbeitswelt und sollen auf dieser Tagung durch empirische Fallstudien adressiert werden. Dabei wird gewünscht, dass Diskussionsimpulse speziell auch für die Auseinandersetzung mit Konzepten der Arbeitsethnografie und des Arbeitsbegriffs in den einzelnen Vorträgen gelegt werden. Wie lassen sich also diese neuen Selbstverständlichkeiten/Normalitäten über die hinlänglich bekannten Begriffe, wie Entgrenzung, Subjektivierung, Vernetzung, Flexibilität etc. inunterschiedlichen Arbeitsfeldern neu denken? Dabei stellt sich die Frage nach Normalisierungs-, Anpassungs- und Gewöhnungseffekten nicht nur bei den tech-affinen Branchen der Wissensarbeit, wie z.B. die Software-, Fin-Tech-, Social Media- oder Kreativindustrie, sondern auch bei Berufsfeldern im Bereich der Bildung, des Handwerks, der ländlichen Ökonomien, der Gesundheit etc.. Zudem fokussiert die Tagung bewusst auf gegenwärtige Themenfelder, ist allerdings auch offen für historische Perspektivierungen.
Folgende Themenfelder werden auf dieser Tagung adressiert (nicht abschließend):
Arbeit und Subjekt
Dieser Themenbereich adressiert Fragen zum Verhältnis von›Subjekt und Arbeit‹und die Normalisierung von Selbstvermarktung, Selbstdisziplinierung, Selbstverantwortung, Selbstfindung, Performanz, Ästhetisierung etc. Welche neuen Erwerbsmodelle – Mikro-Unternehmer:innentum, digitale Arbeit, Formen der Vertrauensarbeit etc. – zeitigen Konzepte, die zwar den Logiken der›prekären‹›subjektivierten‹oder›entgrenzten‹Arbeit als unseren herkömmlichen Standardkategorien vielleicht noch entsprechen, aber aus der Subjektivierungs- und Entgrenzungsperspektive keinesfalls hinreichend beschrieben sind?
Arbeit, Organisation und Recht
Adressiert werden Fragen z.B. eines›new normal‹in Bezug auf Arbeitsgesetze, Rechtsempfinden, Arbeitsorganisation und Partizipation, wie z.B. (veränderte) Rollen von Gewerkschaften und Arbeitspolitik vor dem Hintergrund von Mitarbeiter:innenmitbestimmung, neuen Home Office Reglements und Plattformkapitalismus im digitalen Zeitalter? Welche
Forderungen der Regulierungen eines›new normal‹werden laut, um Standards›guter Arbeit‹ moderner Arbeitsschutzmaßnahmen oder gesundheitspolitische Fragen zu lösen? Oder in welchem Wechselverhältnis stehen die neuen (Erwerbs-)Arbeitsformen mit der beobachteten Deinstitutionalisierung, der Erosion der Mitarbeiter:innenvertretungen etc.?
Arbeit und Mobilität
Moral, Preakarität und Kreativität
Handelt es sich bei den›new workern‹um Schrittmacher:innen einer neuen Arbeitswelt? Ästhetisierungsprozesse, Kreativitätsimperative, Nachhaltigkeit und Sinnhaftigkeit sind leitbildgebend für die Vorstellungen und Praktiken vieler Wissensarbeiter:innen (wie auch Unternehmen und ihrer Kund:innen) geworden. Wie hat sich im Arbeitskontext die Verquickung von Moral, Vertrauen, Ästhetik und Emotionen etabliert? Hat sich die›new work‹z. B. auch zur Triebkraft für klima,-öko- und gesellschaftspolitische Fragen entwickelt? Wie spielen diese Aspekte in Arbeitspraktiken und Arbeitsprofile hinein? Und inwieweit müssen wir entsprechend unseren Arbeitsbegriff ›atypische Arbeit‹vs.›Normalarbeit‹ und Konzepte von Prekarität überdenken?
Entsprechend der großen Bandbreite an Fragestellungen freuen wir uns über vielfältige Einreichungen. Die Tagung richtet sich insbesondere an universitäre wie außeruniversitäre Kolleg:innen aus interdisziplinären Wissenschafts- und Praxisfeldern zu Arbeit, insbesondere auch aus dem Feld Museum. Willkommen sind sowohl empirisch gesättigte Einzelfallstudien, als auch theoretische Reflexionen zum Arbeitsbegriff.
Die Tagung findet nach jetzigem Planungsstand in Präsenz statt; einzelne Vorträge können notfalls auch digital zugeschaltet werden. Tagungssprachen sind deutsch und englisch. Vorgesehen sind Vorträge von ca. 20 Min. Wir bitten um die Einsendung von Abstracts im Umfang von maximal 400 Wörtern und einem Kurz-CV bis zum 20.11.2022 an newnormalofwork(at)ekwee.uni-muenchen.de.
Nachfragen können gerne auch per Email an Prof. Dr. Irene Götz (irene.goetz(at)lmu.de) oder Petra Schmidt M.A. (p.schmidt(at)ekwee.uni-muenchen.de) gerichtet werden.