Moderne Gesellschaften sind Hochenergiegesellschaften. Ihr gesellschaftlicher Metabolismus ist abhängig von einer enormen, kontinuierlichen und steigenden Energiezufuhr, die zu einem Großteil durch fossile Energieträger (vor allem Kohle, Erdöl und Erdgas) gedeckt wird. Seit der Industrialisierung wurden fossile Energiequellen nicht nur zum zentralen Treibstoff einer sich globalisierenden Ökonomie, sondern auch zu einer der geopolitisch wichtigsten Ressourcen, die mit dem Aufstieg und Niedergang von Weltmächten, der militärischen Potenz von Staaten, einer großen Macht weniger transnationaler Konzerne sowie globalen Abhängigkeiten und dramatischen Folgen für Mensch und Natur in den produzierenden Ländern verbunden waren. Dass der Fossilismus vor dem Hintergrund des Klimawandels und nach wie vor weltweit steigender Treibhausgasemissionen ein Auslaufmodell darstellt und es im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung eines alternativen Systems der Energieproduktion bedarf, hat sich in Bezug auf politische Zielsetzungen inzwischen weitgehend durchgesetzt.
In Europa, und speziell in Deutschland, sind Fragen der Energieproduktion und -nutzung vor dem Hintergrund des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine, gestiegener Energiepreise, Apelle der Politik an Bürger*innen zum Energiesparen, medial verstärkte Debatten um›ideologiegetriebene Heizverbote‹und mögliche Stromausfälle, Sprengungen von Gas-Pipelines, aber auch einer aktiven, auf zivilen Ungehorsam setzenden Klimabewegung ins Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt. Für einen umfassenden Umstieg auf Erneuerbare Energien steht zwar eine ganze Reihe an technischen Systemen zur Verfügung oder befindet sich in der Entwicklung (von der Nutzung von Sonne, Wind, Wasser über Biomasse und Erdwärme bis hin zu den Möglichkeiten der Nutzung von Wasserstoff), aber der Umstieg auf eine klimafreundliche Art der Energieproduktion kommt nur langsam voran, Rückschritte nicht ausgeschlossen.
Der Fokus auf technische Lösungen lässt weiterhin oftmals die vielfältigen sozialen Dimensionen der Energie-und Wärmewende außer Acht. Eine umfassende Energiewende ist Teil einer gesellschaftlichen Transformation, die einerseits mitnehmend und inklusiv gestaltet ist, andererseits auch Lebensstilveränderungen mit sich führen muss, die zu einer Reduktion des Energiebedarfs führen können. Die Umsetzung der Energiewende produziert in unterschiedlichen Nationalstaaten, sozialen Milieus und Organisationen sehr unterschiedliche Ansichten über die Umweltverträglichkeit spezifischer Energieträger und stark variierende Pfade der Transformation von Energiesystemen. Fragen der Energieproduktion- und Nutzung sind hierbei einerseits mit zahlreichen Praxisfeldern verknüpft (Wohnen, Mobilität, Industrie, Hygiene, Konsum, Digitalisierung, Arbeit, Technik, u.v.m.). Andererseits ist die Nutzung von Energie nach wir vor mit tiefreichenden gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsfragen verbunden und Kristallisationspunkt sozialer Polarisierungen und Konflikte. Darüber hinaus zeigen gerade die gegenwärtigen Krisen der Energiesysteme, wie etwa im Zuge der Boykottierung russischer Energielieferungen, wie fragil komplexe Systeme auf Krisen reagieren und verweisen auf die Notwendigkeit, sich gesellschaftlich auf zunehmende Disruptionen einzustellen.
Vor dem Hintergrund dieser aktuellen Entwicklungen und Problemlagen fragt der aktuelle Call for Papers der Zeitschrift›Soziologie und Nachhaltigkeit‹nach den sozialen Dimensionen der Energie- und Wärmewende.
- lässt sich Energienutzung aus soziologischer Perspektive fassen? Welche Relevanz hat sie für gesellschaftliche Praktiken und Systeme? Wie ist der Energiebedarf moderner Gesellschaftlichen entstanden, wie reproduziert er sich und mit welchen sozialen auf ökologischen Kosten ist er verbunden?
- variieren Vor- und Einstellungen zu spezifischen Energienutzungsformen und wie lassen sich diese Varianzen soziologisch erklären? Wie betrachten unterschiedliche Bevölkerung- und Berufsgruppen (etwa Handwerker*innen, Energieberater*innen, Unternehmer*innen, Arbeiter*innen, ärmere und reichere Schichten) die gegenwärtige Energiepolitik? Was sind wesentliche Erfolgsbedingungen für die Akzeptanz grundlegender Wandlungsprozesse von Energiesystemen und welche Faktoren erklären ein Festhalten an fossilen Energieträgern?
- Pfade der Transformation von Energiesystemen lassen sich aktuell beschreiben? Welche Rolle spielen hierbei Mechanismen einer Top-Down- und Bottom-Up-Policy, welche privatwirtschaftliche und kollektive Eigentumsformen? Welche Staaten können als Vorbilder für eine sozial-ökologische Transformation gelten? Mit welchen Machtverschiebungen geht ein Umstieg auf ein klimafreundliches Energiesystem einher? Wer sind die Gewinner und Verlierer? Wie wird es möglich, dass jene Staaten deren Wirtschaft wesentlich auf der Ausbeutung und dem Export von Öl, Gas und Kohle beruht (etwa Russland, Saudi-Arabien, die USA, Venezuela u.a.), fossile Energieträger nicht weiter fördern?
- viel Energie beanspruchen die Lebensstile verschiedener sozialer Klassen? Wie reagieren sie auf politische Forderungen nach Sparsamkeit und energetischen Innovationen? Wie tragen gegenwärtige›Energiekrisen‹und Fragilitäten in Energiesystemen zu einer veränderten Wahrnehmung individueller und sozialer Verantwortung bei der Energienutzung bei? Welche Potentiale der individuellen und kollektiven Anpassung finden sich insbesondere im Bereich von Suffizienz und sozialer Innovation (Stichwort kollaborativer Konsum)?
- sind im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung Möglichkeiten und Rahmenbedingungen nachhaltiger Formen der Energienutzung? Welche Möglichkeiten einer sozial-verträglichen Energie- und Wärmewende setzen sich aus welchen Gründen in der Politik durch und welche werden marginalisiert? Welche Konfliktlinien und Bündnisse bestimmen den Diskurs und auf welchen Ebenen (von Haushalten, über Organisationen bis hin zu politischen Parteien und sozialen Bewegungen) kommt sie auf welche Weise zum Vorschein?
Interessierte Autor*innen aus Wissenschaft und Praxis sind aufgefordert, bis zum 15.08.2023 Abstracts von etwa 1000 Wörtern (inkl. Literatur) einzureichen. Dabei sind sowohl theoretische als auch empirische Beiträge erwünscht. Neben der Einreichung von Abstracts für Journalbeiträge in der SuN sind auch Vorschläge für Forschungsnotizen, Rezensionen und andere, kürzere Formate für den 2023 startenden Begleit-Blog der SuN erwünscht. Alle Beitragsvorschläge können unter sun.redaktion(at)uni-muenster.de eingereicht werden.