Es ist ein konstitutiver Bestandteil von Gewalt, dass durch sie Grenzen überschritten werden – seien es körperlich-leibliche, symbolisch-kulturelle, materiell-technische oder auch staatliche Grenzen. Ausübung und Thematisierung von Gewalt beziehen sich somit regelmäßig auf Szenarien der Grenzüberschreitung. Gewalt ist dabei jedoch nichts, was Menschen objektiv gegenübersteht. Sie basiert auf dem, was man über sie zu wissen glaubt – und wie jegliches Wissen ist auch das Wissen über Gewalt sozial vermittelt.
Deutungen von Gewalt werden unterschiedlich bewertet, erklärt, verklärt, legitimiert, verdammt. Eine Wissenssoziologie der Gewalt hat sich vor diesem Hintergrund damit zu befassen, wie Wissen über Gewalt entsteht, verfestigt, in Hierarchien eingebunden, vermittelt und sozial wirkmächtig wird. Die Vorstellungen davon, was als Gewalt zu verstehen ist, sind folglich variabel. Dass die Semantik der Gewalt im Kontext der Spätmoderne hochumstritten ist, scheint der Diskurskarriere des Begriffs zu entsprechen. Indes entfaltet die Pluralität der Gewaltverständnisse einen destabilisierenden Effekt: Was als Gewalt zu gelten hat – ob körperliche Übergriffe, Blickwechsel, Beleidigungen oder selbst der ungleiche Zugang zu Wissen –, kann nicht mehr vorbehaltlos vorausgesetzt werden.
Umgekehrt wird aber auch Wissen durch Gewalt hervorgebracht. Zum einen üben Gewaltakte (bzw. das, was man dafür hält) einen Einfluss darauf aus, welches Wissen wie tradiert wird. Die Durchsetzung von Deutungsmustern, Weltanschauungen und Gewissheiten ist seit jeher ein Gegenstand kriegerischer Konflikte. Überdies erzeugen gewaltsame Auseinandersetzungen Erfahrungen, an die sukzessive angeschlossen werden kann. Das Erleben von Gewalt finden in seinen Festschreibungen Einzug in den gesellschaftlichen Wissensvorrat. Jedoch scheinen sich bestimmte Dimensionen des Erleidens von Gewalt der intersubjektiven Vermittlung zu widersetzen. Zugleich gelten diese Erfahrungen nicht als Teil eines höchstprivaten Emotionshaushalts – sie sind, wiewohl individuell, gesellschaftlich relevant; zumindest wird ihnen diese Relevanz zugeschrieben.
Wenn Wissen und Gewalt sich wechselseitig beeinflussen, so stellt sich die Frage, was unter ›Gewaltwissen‹ zu verstehen ist. Dem kann auf zwei Ebenen nachgespürt werden. Erstens lässt sich betrachten, wie Wissen über Gewalt auf diskursiver Ebene erzeugt wird und Verbreitung findet. Während manche Taten ein hohes Maß an Aufmerksamkeit auf sich ziehen und bisweilen die Grenzen des Sag- und des Zeigbaren neu definieren, werden andere Vorkommnisse kaum diskutiert. Auch hier drängt sich die Frage nach den Produktionsstätten des Wissens von Gewalt und den Konsumpraktiken dieses Wissens auf.
Zweitens kann die Wechselwirkung von Wissen und Gewalt anhand der Situationen selbst recherchiert werden. Gewaltphänomene sind häufig von einer Durchkreuzung unterschiedlicher Bezugsfelder gekennzeichnet, etwa von Macht, Körper, Geschlecht, Technik, spezifischen Verhältnisbestimmungen usw. Ferner verfügen Täter:innen, Opfer und Dritte über ein kulturell tradiertes Vorwissen von Gewalt. Sie greifen auf implizite Skripte zurück, durch die sich entstehendes Geschehen rahmen lässt. Allerdings ist das Wissen über Gewalt nicht selten asymmetrisch verteilt: Die Beteiligten sind in unterschiedlichem Maße Träger:innen, Vermittler:innen und Produzent:innen von Gewaltwissen und werden davon auch unterschiedlich geprägt.
***
Im Kontext der Tagung sollen unterschiedliche Zugänge diskutiert werden, die sich dem Wechselspiel zwischen Wissen und Gewalt und den daraus resultierenden Szenarien der Grenzüberschreitung widmen. Eingeladen sind Vortragsvorschläge, die sich insbesondere aus einem soziologischen Blickwinkel mit der Produktion, Vermittlung und Wirkmacht von Gewaltwissen befassen. Es lässt sich beispielsweise überlegen, wie verschiedenartige wissens- und gewaltsoziologische Theoriepositionen in Verbindung gebracht werden können bzw. aus was die Aufgaben einer Wissenssoziologie der Gewalt bestehen. Auch methodologisch gefärbte Vorschläge zum Gewaltwissen sind willkommen.
Vorgesehen ist eine Präsenztagung an der Bauhaus-Universität Weimar. Die Teilnahme an der Veranstaltung ist kostenlos. Reise- und Unterbringungskosten können leider nicht getragen werden. Interessierte Zuhörer:innen, die nicht selbst vortragen, bitte wir um vorherige Anmeldung. Es ist eine Publikation der Vorträge der Tagung in Form eines Sammelbandes geplant. Den Keynote-Vortrag wird Prof. Dr. Jan Philipp Reemtsma (Hamburg) halten.
Abstracts im Umfang von etwa einer Seite (inkl. kurzer Angaben zur Person) können bis zum 28. Februar 2023 parallelan folgenden Adressen eingereicht werden:
thorsten.benkel(at)uni-passau.de und ekkehard.coenen(at)uni-weimar.de