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SOZIOLOGIE Jahrgang 53 - Heft 1 - 2024

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Identität und Interdisziplinarität


Stefan Müller, Jürgen Ritsert
Dialektik jenseits von These, Antithese und Synthese

Auf die Frage: ›Was ist Dialektik‹? lautet die Standardauskunft: ›Die Trias von Thesis, Antithesis und Synthesis.‹ Sie verkörpert das Prinzip der Dialektik gerade nicht und spielt bei Hegel nicht annähernd die Rolle, die ihm nachgesagt wird! Viel­mehr kann das Prinzip der modernen Dialektik der Freiheitsantinomie (3. Anti­no­mie) von Kant entnommen werden. Es weist die logische Grundstruktur der strikten Anti­nomie aus. Diese ist auch in dem aufgehoben, was Theodor W. Adorno aus­drück­lich unter dem Prinzip der Dialektik versteht. Es ermöglicht ihm, Themen der So­ziologie genauer zu analysieren, denen ein dualistischer, dichotomischer oder strikt disjunktiver Stil der Darstellung unangemessen ist.

The standard answer to the question ›What is dialectic?‹ is ›The triad of thesis, an­ti­thesis and synthesis.‹ However, this response does not embody the principle of dialectic and does not play nearly as strong a role in Hegel›s work as is typically as­sumed. Rather, the principle of modern dialectic derives from Kant‹s antinomy of free­dom (the 3rd antinomy), which typifies the basic logical structure of a strict antinomy. This structure is also exhibited in what Theodor W. Adorno calls the principle of dialectic. It allows him to closely analyse subjects of sociology that go beyond dualistic, dichotomous, or strictly disjunctive perspectives.

 

Forschen, Lehren, Lernen


Isabelle Bartram, Tino Plümecke, Peter Wehling
Soziogenomik: Ein neuer Versuch, die Soziologie zu biologisieren

Unter Bezeichnungen wie ›Soziogenomik‹ oder ›Sozialwissenschafts-Genetik‹ hat sich in den letzten Jahren eine neue Forschungsperspektive herausgebildet, mit der er­neut behauptet wird, die Einbeziehung genetischer Daten und Analysen sei un­ver­zicht­bar für die Sozialwissenschaften, um zu exakten Erkenntnissen über die Ur­sa­chen sozialer Unterschiede und Ungleichheiten zu gelangen. Gestützt auf neue tech­no­wissenschaftliche Möglichkeiten der Genomanalyse und Auswertung riesiger Da­ten­mengen wird beansprucht, eine vererbliche Komponente in nahezu allen mensch­­­lichen Eigenschaften und sozialen Merkmalen wie etwa Bildungserfolg, Alko­­hol­konsum oder Religiosität aufspüren zu können. Gleichzeitig beteuern Ver­tre­ter*innen der Soziogenomik, ihre Forschung sei gerade nicht auf Stigmatisierung und Diskriminierung ausgerichtet, sondern ziele auf Gerechtigkeit und Unter­stüt­zung für die ›genetisch Benachteiligten‹. Die Soziogenomik stößt in den Sozial­wis­sen­­schaften offenbar auf eine gewisse Resonanz; ein Indiz hierfür ist, dass vor Kur­zem die Erhebung und Auswertung von Genom-Daten in das Sozio-oeko­no­mische Panel (SOEP) integriert wurde. Unser Beitrag gibt einen kritischen Überblick über die Entstehung der Soziogenomik, ihre konzeptionellen und methodischen Grund­lagen sowie ihre problematischen gesellschaftlichen Implikationen und möch­te da­mit einen Anstoß für die notwendige soziologische Auseinandersetzung mit den Hy­po­­thesen und Ergebnissen dieser Art von Forschung geben.

In recent years, a new research perspective has emerged under terms such as ›socio­ge­nomics‹ or ›social science genetics‹ which once again claims that the inclusion of genetic data and analyses is essential for social sciences to gain accurate insights into the causes of social differences and inequalities. Based on new techno-scientific developments in the fields of genomics and big data, proponents of sociogenomics purport an ability to detect a hereditary component for almost all human charac­te­ris­tics and social traits, such as educational attainment, alcohol consumption, or reli­gious activity. At the same time, they assert that their research is not aimed at stig­ma­tization and discrimination but aims to promote justice and social support for the ›genetically disadvantaged‹. Sociogenomics is finding some resonance in the social sciences, which is indicated, for example, by the recent integration of genomic data collection and analysis into the German Socio-Economic Panel (SOEP). Our article provides a critical overview of the emergence of sociogenomics, its conceptual and metho­dological frameworks, as well as its ambivalences, contradictions, and pro­blematic social implications. We, therefore, aim to initiate a much-needed so­cio­lo­gi­cal examination of the hypotheses and outcomes of this kind of research.
 

Tobias Boll, Tobias Röhl, Daniela Schiek
Re-Orientierungen in der soziologischen Methodenausbildung

Jüngst sind in dieser Zeitschrift zwei Beiträge erschienen, die eine Reform der sozial­wis­senschaftlichen Methodenausbildung fordern. Wir möchten Heraus­for­de­run­gen für die Lehre empirischer Sozialforschung aus Sicht der qualitativen Sozial­for­schung in der Diskussion ergänzen und Bedarfe und Hürden für notwendige Re­for­men zeigen. Für die qualitative Methodenausbildung stellen sich andere Fragen, in den Beiträgen angesprochene Probleme beziehungsweise deren Ursachen werden vor dem Hin­ter­grund anderer sozialtheoretischer Bezüge und Forschungsansätze anders viru­lent. Vor allem sehen wir aus Perspektive der qualitativen Sozialforschung deut­lich andere Bedarfe für eine professionalisierte und den gesellschaftlichen Ent­wick­lun­gen wie auch eigenen Forschungserkenntnissen angemessenen Metho­den­aus­bil­dung. Ange­spro­chene Herausforderungen sind unter anderem die Grenzen der For­ma­li­sier­barkeit qualitativer Methodenlehre oder begrenzte curriculare Spiel­räume, die durch gegenwärtige Schwerpunktsetzungen der Methodenausbildung be­dingt sind. Da­ne­ben plädieren wir dafür, auch angesichts gesellschaftlicher Ent­wicklungen im Be­reich digitaler Technologien soziologische Kernkompetenzen, etwa der eige­nen, pro­fessionellen Generierung qualitativ hochwertiger Daten, weiter zu kul­ti­vieren und in der Methodenausbildung zu vermitteln.

Recently, two articles have been published in this journal calling for a reform of social science methods education. We want to contribute to this discussion by addres­sing challenges for the teaching of qualitative methods in particular and to identify needs and hurdles for necessary reforms. In the case of teaching qualitative me­thods, different questions arise, and the problems addressed in the two articles men­tioned (or their causes) become virulent in a different way when seen against the backdrop of different social theoretical references and research approaches. Abo­ve all, from the perspective of qualitative social research, we see clearly different needs for a professionalized methodological training that is appropriate to social deve­lopments as well as to our own research findings. Challenges addressed are, among others, limits to the formalization of qualitative methodology, but also limited curricular space, which is due to current emphases in methodology edu­ca­tion. In addition, we argue that even in view of social developments in the field of digital technologies, sociological core competencies, such as the professional pro­duction of high-quality data, should be further cultivated and taught in methods trai­ning.
 

Richard Groß
Probabilistische Wirklichkeitsmodelle und soziologische Intelligenz     

In diesem Beitrag erörtere ich anhand einer Analyse sogenannter Large Language Mo­dels sozialtheoretische Aspekte maschinellen Lernens. Insbesondere untersuche ich dabei den Wirklichkeitsbezug algorithmischer Modelle sowie Implikationen ihrer probabilistischen Operationsweise für ihre Sozialität. Auf dieser Basis charakterisiere ich maschinelles Lernen soziologisch als von einer Spannung zwischen seinen Ei­gen­schaften als stochastische Rechentechnik und kausaltechnischen Nutzungs­ab­sich­ten geprägtes Phänomen. Abschließend biete ich einen Vorschlag zur Charak­te­ri­sierung der Beziehung von Soziologie und maschinellem Lernen hinsichtlich ihrer Modi der Wirklichkeitsbeobachtung.

In this paper, I explore various aspects of a social theory of machine learning by means of an analysis of so-called Large Language Models. In particular, I investigate how algorithmic models relate to social reality and what their probabilistic mode of operation entails in terms of their sociality. Based on this account, I describe ma­chi­ne learning as a phenomenon characterized by a constitutive tension between its sto­chastic properties and its use as causal technology. Finally, I offer a charac­te­ri­za­tion of the relationship between sociology and machine learning in terms of their mo­des of observing reality.
Hier der Text zum Download.

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