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Identität und Interdisziplinarität
Stefan Müller, Jürgen Ritsert
Dialektik jenseits von These, Antithese und Synthese
Auf die Frage: ›Was ist Dialektik‹? lautet die Standardauskunft: ›Die Trias von Thesis, Antithesis und Synthesis.‹ Sie verkörpert das Prinzip der Dialektik gerade nicht und spielt bei Hegel nicht annähernd die Rolle, die ihm nachgesagt wird! Vielmehr kann das Prinzip der modernen Dialektik der Freiheitsantinomie (3. Antinomie) von Kant entnommen werden. Es weist die logische Grundstruktur der strikten Antinomie aus. Diese ist auch in dem aufgehoben, was Theodor W. Adorno ausdrücklich unter dem Prinzip der Dialektik versteht. Es ermöglicht ihm, Themen der Soziologie genauer zu analysieren, denen ein dualistischer, dichotomischer oder strikt disjunktiver Stil der Darstellung unangemessen ist.
The standard answer to the question ›What is dialectic?‹ is ›The triad of thesis, antithesis and synthesis.‹ However, this response does not embody the principle of dialectic and does not play nearly as strong a role in Hegel›s work as is typically assumed. Rather, the principle of modern dialectic derives from Kant‹s antinomy of freedom (the 3rd antinomy), which typifies the basic logical structure of a strict antinomy. This structure is also exhibited in what Theodor W. Adorno calls the principle of dialectic. It allows him to closely analyse subjects of sociology that go beyond dualistic, dichotomous, or strictly disjunctive perspectives.
Forschen, Lehren, Lernen
Isabelle Bartram, Tino Plümecke, Peter Wehling
Soziogenomik: Ein neuer Versuch, die Soziologie zu biologisieren
Unter Bezeichnungen wie ›Soziogenomik‹ oder ›Sozialwissenschafts-Genetik‹ hat sich in den letzten Jahren eine neue Forschungsperspektive herausgebildet, mit der erneut behauptet wird, die Einbeziehung genetischer Daten und Analysen sei unverzichtbar für die Sozialwissenschaften, um zu exakten Erkenntnissen über die Ursachen sozialer Unterschiede und Ungleichheiten zu gelangen. Gestützt auf neue technowissenschaftliche Möglichkeiten der Genomanalyse und Auswertung riesiger Datenmengen wird beansprucht, eine vererbliche Komponente in nahezu allen menschlichen Eigenschaften und sozialen Merkmalen wie etwa Bildungserfolg, Alkoholkonsum oder Religiosität aufspüren zu können. Gleichzeitig beteuern Vertreter*innen der Soziogenomik, ihre Forschung sei gerade nicht auf Stigmatisierung und Diskriminierung ausgerichtet, sondern ziele auf Gerechtigkeit und Unterstützung für die ›genetisch Benachteiligten‹. Die Soziogenomik stößt in den Sozialwissenschaften offenbar auf eine gewisse Resonanz; ein Indiz hierfür ist, dass vor Kurzem die Erhebung und Auswertung von Genom-Daten in das Sozio-oekonomische Panel (SOEP) integriert wurde. Unser Beitrag gibt einen kritischen Überblick über die Entstehung der Soziogenomik, ihre konzeptionellen und methodischen Grundlagen sowie ihre problematischen gesellschaftlichen Implikationen und möchte damit einen Anstoß für die notwendige soziologische Auseinandersetzung mit den Hypothesen und Ergebnissen dieser Art von Forschung geben.
In recent years, a new research perspective has emerged under terms such as ›sociogenomics‹ or ›social science genetics‹ which once again claims that the inclusion of genetic data and analyses is essential for social sciences to gain accurate insights into the causes of social differences and inequalities. Based on new techno-scientific developments in the fields of genomics and big data, proponents of sociogenomics purport an ability to detect a hereditary component for almost all human characteristics and social traits, such as educational attainment, alcohol consumption, or religious activity. At the same time, they assert that their research is not aimed at stigmatization and discrimination but aims to promote justice and social support for the ›genetically disadvantaged‹. Sociogenomics is finding some resonance in the social sciences, which is indicated, for example, by the recent integration of genomic data collection and analysis into the German Socio-Economic Panel (SOEP). Our article provides a critical overview of the emergence of sociogenomics, its conceptual and methodological frameworks, as well as its ambivalences, contradictions, and problematic social implications. We, therefore, aim to initiate a much-needed sociological examination of the hypotheses and outcomes of this kind of research.
Tobias Boll, Tobias Röhl, Daniela Schiek
Re-Orientierungen in der soziologischen Methodenausbildung
Jüngst sind in dieser Zeitschrift zwei Beiträge erschienen, die eine Reform der sozialwissenschaftlichen Methodenausbildung fordern. Wir möchten Herausforderungen für die Lehre empirischer Sozialforschung aus Sicht der qualitativen Sozialforschung in der Diskussion ergänzen und Bedarfe und Hürden für notwendige Reformen zeigen. Für die qualitative Methodenausbildung stellen sich andere Fragen, in den Beiträgen angesprochene Probleme beziehungsweise deren Ursachen werden vor dem Hintergrund anderer sozialtheoretischer Bezüge und Forschungsansätze anders virulent. Vor allem sehen wir aus Perspektive der qualitativen Sozialforschung deutlich andere Bedarfe für eine professionalisierte und den gesellschaftlichen Entwicklungen wie auch eigenen Forschungserkenntnissen angemessenen Methodenausbildung. Angesprochene Herausforderungen sind unter anderem die Grenzen der Formalisierbarkeit qualitativer Methodenlehre oder begrenzte curriculare Spielräume, die durch gegenwärtige Schwerpunktsetzungen der Methodenausbildung bedingt sind. Daneben plädieren wir dafür, auch angesichts gesellschaftlicher Entwicklungen im Bereich digitaler Technologien soziologische Kernkompetenzen, etwa der eigenen, professionellen Generierung qualitativ hochwertiger Daten, weiter zu kultivieren und in der Methodenausbildung zu vermitteln.
Recently, two articles have been published in this journal calling for a reform of social science methods education. We want to contribute to this discussion by addressing challenges for the teaching of qualitative methods in particular and to identify needs and hurdles for necessary reforms. In the case of teaching qualitative methods, different questions arise, and the problems addressed in the two articles mentioned (or their causes) become virulent in a different way when seen against the backdrop of different social theoretical references and research approaches. Above all, from the perspective of qualitative social research, we see clearly different needs for a professionalized methodological training that is appropriate to social developments as well as to our own research findings. Challenges addressed are, among others, limits to the formalization of qualitative methodology, but also limited curricular space, which is due to current emphases in methodology education. In addition, we argue that even in view of social developments in the field of digital technologies, sociological core competencies, such as the professional production of high-quality data, should be further cultivated and taught in methods training.
Richard Groß
Probabilistische Wirklichkeitsmodelle und soziologische Intelligenz
In diesem Beitrag erörtere ich anhand einer Analyse sogenannter Large Language Models sozialtheoretische Aspekte maschinellen Lernens. Insbesondere untersuche ich dabei den Wirklichkeitsbezug algorithmischer Modelle sowie Implikationen ihrer probabilistischen Operationsweise für ihre Sozialität. Auf dieser Basis charakterisiere ich maschinelles Lernen soziologisch als von einer Spannung zwischen seinen Eigenschaften als stochastische Rechentechnik und kausaltechnischen Nutzungsabsichten geprägtes Phänomen. Abschließend biete ich einen Vorschlag zur Charakterisierung der Beziehung von Soziologie und maschinellem Lernen hinsichtlich ihrer Modi der Wirklichkeitsbeobachtung.
In this paper, I explore various aspects of a social theory of machine learning by means of an analysis of so-called Large Language Models. In particular, I investigate how algorithmic models relate to social reality and what their probabilistic mode of operation entails in terms of their sociality. Based on this account, I describe machine learning as a phenomenon characterized by a constitutive tension between its stochastic properties and its use as causal technology. Finally, I offer a characterization of the relationship between sociology and machine learning in terms of their modes of observing reality.
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