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SOZIOLOGIE Jahrgang 53 - Heft 3 - 2024

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Identität und Interdisziplinarität

Juan E. Corradi
The End of Sociology?

Der Autor analysiert den Status der Soziologie aus der persönlichen Perspektive von mehr als fünfzig Jahren Forschung und Lehre auf diesem Gebiet. Er beobachtet den re­lativen Niedergang der Disziplin in drei Dimensionen: Theorie, empirische Stu­dien und berufliche Beschäftigung. Er stellt eine Verlagerung von der Ob­jek­ti­vi­tät zur Lobbyarbeit fest, eine Entwicklung, die die Soziologie anfällig für politische An­grif­fe macht – vor allem durch rechte Politiker und Bewegungen in den USA und da­­rüber hinaus.

The author analyses the status of sociology from the personal perspective of more than fifty years researching and teaching in the field. He observes the relative decline of the discipline in three dimensions: theory, empirical studies, and pro­fes­sio­nal employment. He detects a shift from objectivity to advocacy, a development that makes it vulnerable to political attacks – mostly from right-wing politicians and movements in the US and beyond.
 

Georg Vobruba
Soziologische Spuren im Verschwörungsdenken

Soziologie und Verschwörungsdenken haben den Anspruch gemeinsam, die so­zia­len Verhältnisse zu erklären. Allerdings unternehmen sie das im Rahmen diametral ent­gegengesetzter Logiken. Die Soziologie bietet relationale Erklärungen an, im Ver­schwö­rungsweltbild dagegen wird alles auf die bösen Intentionen eines mächtiges Hand­lungszentrums zurückgeführt. Dies bringt dem Verschwörungs­den­ken Erklä­rungs­probleme, die es durch Lügenvorwürfe und das Behaupten von Ge­gen­wahr­hei­ten zu neutralisieren versucht. Dadurch freilich wird eine Dynamik in Gang ge­setzt, in der dem Verschwörungsdenken die Wirklichkeit Schritt für Schritt ver­loren geht. Diese Dynamik wird in dem Beitrag rekonstruiert, um der Frage nach Ähn­lich­kei­ten zwischen Verschwörungsdenken und Soziologie sowie deren Ur­sachen nach­zu­gehen. Ergebnis sind einerseits soziologisch informierte Einsichten in die Dyna­mik von Lügen und Wirklichkeitsverweigerung, andererseits Spuren so­zio­logischer Ar­gumentationen im Verschwörungsdenken, die zu soziologischer Selbst­refle­xion an­regen sollten.

Sociology and conspiracy thinking claim to explain society in common. However, they do so within the framework of diametrically opposed logics. Sociology offers re­la­tional explanations, whereas in the conspiracy worldview, everything is attributed to the evil intentions of a powerful center of action. This creates explanatory pro­blems for conspiracy thinking, which it attempts to neutralize by accusing the main­stream of lying and by asserting counter-truths. However, this sets in motion a dyna­mic in which conspiracy thinking gradually loses touch with reality. This dynamic is re­­con­structed in the article in order to pursue the question of similarities between con­spiracy thinking and sociology as well as their causes. The results are, on the one hand, sociologically informed insights into the dynamics of lies and the denial of re­ality and, on the other hand, traces of sociological argumentation in conspiracy thin­king, which should encourage sociological self-reflection.
Hier der Text zum Download

Anika Oettler, Clara Ruvituso, Fabio Santos
Dekolonisierung als Dekanonisierung?

Der Beitrag greift die jüngst auch in der Soziologie geführten Debatten zur Öff­nung und Dekolonisierung des Kanons und des Fachs auf und erweitert sie durch einen Blick auf die Geschichte der deutschsprachigen Soziologie und Latein­ame­ri­ka­forschung, inklusive ihrer Austauschbeziehungen mit lateinamerikanischen und ka­ribischen Intellektuellen: Exemplarisch dienen uns hierfür die gegen­wär­tige, spä­te und ausgewählte Rezeption Aníbal Quijanos sowie die (in Vergessenheit geratene) produktive Rezeption der Dependencia-Ansätze in den 1970er und 1980er Jahren in der spe­zi­fi­schen bundesdeutschen akademischen Landschaft. Mit dieser fach­ge­schicht­lichen Re­konstruktion und Re-Lektüre soziologischer Theorie argumentieren wir, dass die gegenwärtige Beschränkung der hiesigen Soziologie auf nord­west­euro­päi­sche und nord­amerikanische Kontexte historisch keine Konstante darstellt und des­halb mit Blick auf die Zukunft durchaus veränderbar ist.

The article takes up the recent debates in Soziologie on the opening and deco­lo­ni­zation of the canon and the discipline, expanding on them by taking a close look at the history of German sociology and Latin American Studies, including its rela­tions of exchange with Latin American and Caribbean intellectuals: Our exemplary ca­se studies are the current, belated, and selective reception of Aníbal Quijano as well as the (forgotten) productive reception of dependencia approaches in the 1970s and 1980s in the specific German academic landscape. With this historical re­con­struc­tion and re-reading of sociological theory, we argue that the current focus of Ger­man sociology on Northwestern European and North American contexts is not a histo­rical constant and can therefore be changed in the future.
 

Forschen, Lehren, Lernen

Mathias Wagner
Benötigt qualitative Forschung eine schriftliche Absicherung der Ethik?

In der qualitativen Sozialforschung wird heute die schriftliche Zustimmung der In­ter­view­part­nerinnen und -partner zu Interviews gefordert. Bis vor wenigen Jahren reich­te dagegen noch die Selbstverpflichtung der Wissenschaftlerinnen und Wissen­schaft­ler zur Ano­­­nymisierung der Daten und zum Persönlichkeitsschutz der Akteure aus. Es wird die Frage aufgeworfen, ob mit der Veränderung zur schriftlichen Form tendenziell be­­stimmte soziale Gruppen die Teilnahme an Forschungen aus Miss­trauen ver­wei­gern. Trifft das zu, so wird der Zugang zu vulnerablen sozialen Schichten oder zu Per­sonen mit Misstrauen gegenüber der etablierten Gesellschaft un­möglich. Zudem wider­spricht die schriftliche Zustimmung zu einem Interview der Alltagslogik von Ver­trauen in der Kommunikation. Gerade in ethnografischen For­schungen ge­wäh­ren Akteure aufgrund von nicht formalen Kriterien Einblick in ihren Alltag.

In qualitative social research today, the written consent of interviewees is required for interviews. Until a few years ago, however, the self-commitment of the resear­chers to anonymize the data and to protect the privacy of the participants was suf­ficient. The question is raised as to whether the change to the written form means that certain social groups tend to refuse to participate in research out of mistrust. If this is the case, access to vulnerable social groups or people with a mistrust of estab­lished society becomes impossible. In addition, written consent to an interview con­tradicts the everyday logic of trust in communication. In ethnographic research in par­ticular, actors provide insight into their everyday lives on the basis of non-formal cri­teria.

DGS-Nachrichten

  • Transitionen. Themenpapier zum 42. Kongress der DGS 2025 auf dem Campus Duisburg der Universität Duisburg-Essen
  • Stellungnahme der DGS zu Mediendarstellungen von Akademiker:innen im Rahmen politischer Proteste zum Israel-Gaza-Konflikt
  • Aus dem DGS-Vorstand
  • Veränderungen in der Mitgliedschaft

Berichte aus den Sektionen

  • Arbeitskreis Normativitäten
  • Sektion Frauen- und Geschlechterforschung
  • Sektion Methoden der qualitativen Sozialforschung

Nachrichten aus der Soziologie

  • Der Rat für Sozial- und Wirtschaftsdaten: Ziele – Bedeutung – Tätigkeitsfelder
    Corinna Kleinert, Hubert Knoblauch
  • Klaus-Mehnert-Preis
  • Habilitationen
  • Call for Papers
    • Die Vielfalt des Rechts
    • Verbraucher:innen in der Energiewende
    • Der Wandel des Pilgerns im heutigen Europa
  • Tagungen
    • Vulnerable Gesellschaften: Risiken und Reaktionen
    • Norbert Elias in der Praxis
    • Interdisziplinäre Antisemitismusforschung
    • ›Wer schützt hier eigentlich wen?‹
    • Babyboomer. Sozialräumliche Perspektiven auf die Vielen