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›Ästhetik als epistemisches Kriterium in den Geistes- und Sozialwissenschaften‹

Spätestens seit der Kritik klassischer Vorstellungen (Kuhn 1973) über epistemische Werte (Kuhn 1973; Rooney 1992; Longino 1995) in den Wissenschaften wird speziell die seit der Gründungszeit der Sozialwissenschaften aufgeworfene Annahme, dass diese wertneutral sein müssten und könnten (Weber 1988), umfassend in Frage gestellt (Adorno 1978; Albert 1984). Demnach müsse die Wertgebundenheit geistes- und sozialwissenschaftlicher Forschung, ihre Situierung innerhalb bestimmter sozio-politischer Kontexte und einer sozio-historischen Genese in einer begleitenden wissenschaftstheoretischen- und - soziologischen Reflexion berücksichtigt werden.

In Folge der gesteigerten Aufmerksamkeit für die Entstehungs- und Umweltbedingungen sozialwissenschaftlicher Theoriebildung hat sich das Forschungsfeld inzwischen weiter ausdifferenziert. Nicht nur die normative Aufladung von Forschungsperspektiven, sondern auch ihre affektive Dimension tritt in das Relief wissenschaftssoziologischer Betrachtungen. So hat die Soziologin Elena Beregow (2021) unter anderem im Anschluss an Ludwik Flecks Arbeiten zu Denkstilen und Denkkollektiven in einem Beitrag über ›Theorieatmosphären‹ gezeigt, dass es neben der Wert- auch eine Zeit- und Ortsgebundenheit sozialwissenschaftlicher Theoriebildung gibt. Solche atmosphärischen Einflüsse auf die Auswahl und Bildung von Theorien haben auch historisch eine große Relevanz, wie der Kulturhistoriker Philipp Felsch in seinem Buch ›Der lange Sommer der Theorie‹ (2016) gezeigt hat. Die Zeit- und Ortsgebundenheit theoretischer Orientierungen ruft dazu auf, eine Sphäre vermeintlich reiner wissenschaftlich-rationaler Evidenzkriterien von Forschungsprogrammen kritisch zu hinterfragen. Es lässt sich anhand der Geschichte wissenschaftstheoretischer und -soziologischer Reflexionen der geistes- und Sozialwissenschaften eine immer stärker ausgebildete Sensibilität für subtile Einflussgrößen in der Theoriebildung beobachten. Bei der Betrachtung der Entstehung und Entwicklung wissenschaftlicher Tatsachen (Fleck 1980) wirft ein Blick in die Naturwissenschaften die Frage auf, ob nicht auch Ästhetik eine solche subtile Einflussgröße sein könnte. Die Physikerin Sabine Hossenfelder (2018) hat in dieser Frage für die Physik einen Anstoß gegeben. In ihrer Betrachtung identifiziert und problematisiert sie eine auffällige Nähe zwischen Schönheits- und Wahrheitsvorstellungen in maßgebenden Arbeiten der Physikgeschichte.

Wir möchten der Frage nach der Bedeutung ästhetischer Einflüsse in der geistes- und sozialwissenschaftlichen Theoriebildung nachgehen. Dabei geht es uns zunächst nicht um eine direkte Problematisierung, sondern um die Identifikation einer Forschungslücke in der wissenschaftstheoretischen und -soziologischen Reflexion. Die Geschichte geistes- und sozialwissenschaftlicher Theoriebildung kann durch die Berücksichtigung historischer, sozio-kultureller und ihrer Wechselwirkung mit ästhetischen Einflussfaktoren unter einem neuen Gesichtspunkt betrachtet werden. Unsere Forschungsfrage für den Workshop lautet daher: Welchen Stellenwert nimmt Ästhetik als epistemisches Kriterium in der Entwicklung, Durchsetzung und Auswahl von Theorien in den Geistes- und Sozialwissenschaften ein?

Mit dieser Frage geht es uns nicht darum, nur die ersten Betrachtungen der Physikgeschichte unter ästhetischen Gesichtspunkten auf die Geistes- und Sozialwissenschaften zu übertragen, sondern der grundlegenden Intuition der Wissenschaftsästhetik zu folgen. Hier taucht die Position auf, dass Ästhetik kein marginaler Aspekt, sondern geradezu konstitutiv für die Entwicklung von Theorien ist (Fischer 1997; Wille 2004). Inwiefern dies für die Geistes- und Sozialwissenschaften zutrifft, ist das leitende Erkenntnisinteresse unseres Workshops. Wir möchten dieser Frage nachgehen, indem wir anhand paradigmatischer und theoriegeschichtlicher wie auch kontemporärer Beispiele Indikatoren herausarbeiten, anhand derer sich Ästhetik als epistemisches Kriterium bestimmen und identifizieren lässt. Um dieses Ziel zu erreichen, bietet es sich an, den Workshop in einem explorativen Arbeitsformat zu gestalten. Die Kombination aus systematischer und historischer Perspektive verspricht erste Erkenntnisse auf dem Weg zu einem ganzheitlichen Begriff einer Theorieästhetik der Geistes- und Sozialwissenschaften zu eröffnen. Wir konnten als Expert*innen Elena Beregow von der Universität der Bundeswehr in München und Philipp Felsch von der Humboldt-Universität in Berlin gewinnen, die komplementäre Zugänge zum Workshopthema bieten. Neben ihrem Input kommt es uns auf möglichst diverse Zugänge zum Thema an. Daher bitten wir alle Teilnehmer*innen, jeweils ein einschlägiges mediales Beispiel (z. B. einen Text- oder Interviewausschnitt, Vorlesungsmitschnitt, Radio- oder Fernsehbeitrag, Podcast, Blogbeitrag, Erfahrungsbericht, eine biographische Episode etc.) aus ihrem eigenen Fachkontext mitzubringen, sodass wir anhand konkreter Beispiele eine erste Typologie erarbeiten können. Die Beiträge sollen dabei vor allem an der oben genannten Leitfrage des Workshops orientiert sein. Der Workshop wird durch einen Abendvortrag und ein gemeinsames Abendessen gerahmt.

Der Workshop richtet sich vordergründig an Promovierende und fortgeschrittene Masterstudierende. Alle Interessierten schicken ihren Teilnahmewunsch bitte mit Begründung und Angabe eines Beispiels aus einer einschlägigen Disziplin (max. 500 Wörter) bis zum 7. Januar 2024 per E-Mail als PDF-Datei an die Organisatoren Carsten Ohlrogge (carsten.ohlrogge(at)uni-muenster.de) und Tobias Bauer (tobias.bauer(at)stud.uni-frankfurt.de). Reise- und Übernachtungskosten können leider nicht übernommen werden.

Organisation

Carsten Ohlrogge (Universität Münster), Tobias Bauer (Goethe-Universität Frankfurt)

Ort

Zentrum für Wissenschaftstheorie Münster

Beginn

29.02.24

Ende

01.03.24

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