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Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) zu Beschäftigungsverhältnissen in der Wissenschaft

Mai 2020

Gesellschaftliche Dynamiken machen vor der Wissenschaft nicht halt. In den letzten Jahrzehnten haben staatliche (De-)Regulierungen, Aktivierungspolitiken und neue Formen von ›governance‹ sowie eine zunehmende Ökonomisierung die Bildung im Allgemeinen und die Hochschulen, Universitäten und Forschungseinrichtungen im Besonderen geprägt. Im Sinne eines ›akademischen Kapitalismus‹ (Münch) verschärft sich der Wettbewerb um Forschungsgelder und Stellen bei gleichzeitiger Unterfinanzierung der Hochschulen fortwährend. Eine wesentliche Folge ist die Prekarisierung von Arbeits- und Beschäftigungsverhältnissen in der akademischen Forschung und Lehre. In jüngerer Vergangenheit wird diese Situation vermehrt öffentlich debattiert und kritisiert. Auch die Deutsche Gesellschaft für Soziologie (DGS) sieht diese Entwicklungen mit Sorge und fordert ein Umdenken in der Bildungs- und Wissenschaftspolitik sowie strukturelle Veränderungen im deutschen Wissenschaftssystem. Entsprechende Reformen dürfen nicht bei der äußerst zurückhaltenden jüngsten Neuregelung des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes im Jahr 2016 stehen bleiben. Am stärksten treffen die genannten Entwicklungen den akademischen Mittelbau – die bei Weitem größte Beschäftigtengruppe an wissenschaftlichen Einrichtungen. Für ihn sind die Beschäftigungsperspektiven in der Wissenschaft schwer zu planen.

Die überwiegende Mehrheit der an Hochschulen arbeitender Wissenschaftler*innen sieht sich mit (meist unfreiwilliger) Teilzeitbeschäftigung, Befristung, Kettenverträgen und nicht sozialversicherungspflichtigen Stipendien konfrontiert. Ein Blick in die Personalstatistik der Hochschulen belegt die verschärfte Konkurrenzsituation des Mittelbaus in der deutschen Wissenschaft eindrücklich: Von 2008 bis 2018 hat sich die Gruppe der wissenschaftlichen und künstlerischen Mitarbeiter*innen an deutschen Universitäten um 49.316 (von 127.594 auf 176.910) Personen vergrößert. Von dieser Entwicklung ist auch die Soziologie betroffen (von 1.231 auf 1.735). Der weit überwiegende Teil der Mitarbeiter*innen wird über Drittmittel finanziert, mehr als die Hälfte der im Rahmen des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes abgeschlossenen Verträge hat eine Laufzeit von weniger als einem Jahr. Dagegen wurde die Zahl der Professor*innen (ohne Juniorprofessor*innen) in der gleichen Zeit nur um 2.806 (von 20.349 auf 23.155) erhöht. Parallel wurden unbefristete Stellen abseits der Professur immer weiter abgebaut. Im internationalen Vergleich weist Deutschland einen äußerst geringen Anteil an festen Stellen im Wissenschaftssystem auf, konkret derzeit ca. 15 % im Mittelbau. Vom wissenschaftlichen und künstlerischen Personal unter 45 Jahren sind gar 93 % befristet beschäftigt.

Obwohl also eine erfreuliche Ausweitung der Stellen an den Hochschulen zu verzeichnen ist, hat die seit jeher hohe berufliche Unsicherheit in den letzten Jahren noch einmal zugenommen. Die Zuspitzung des Wettbewerbs um die Professur als der dominanten langfristigen Karriereoption ist angesichts der Internationalisierung und Pluralisierung im Feld der Wissenschaft nicht nur völlig unsach- und unzeitgemäß, sie nimmt zudem inzwischen dysfunktionale und destruktive Formen an, die letztlich immer mehr sehr gut ausgebildete, talentierte und engagierte Wissenschaftler*innen ausschließen. Dies betrifft auch mögliche alternative Karriereoptionen in außeruniversitären Forschungseinrichtungen und an Fachhochschulen. Diese Entwicklungen sind allerdings gestalt- und steuerbar. Lange Zeit ließ sich die Aufgabenverteilung zwischen Bund und Ländern als Erklärungsansatz für manche Blockade heranziehen. Seit der Lockerung des Kooperationsverbots im November 2014 ist der Weg für ein stärkeres Engagement des Bundes frei. Mit dem im vergangenen Jahr abgeschlossenen ›Zukunftsvertrag Studium und Lehre stärken‹ gibt es eine konkrete finanzielle Grundlage für eine Verbesserung von Arbeitsbedingungen in der Wissenschaft. Bei der Umsetzung der getroffenen Vereinbarungen in Ländern und Universitäten muss maßgeblich sein, dass Daueraufgaben durch Dauerstellen abgedeckt werden.

Die DGS schließt sich der Forderung der Hochschulrektorenkonferenz nach einer Ausweitung der Grundfinanzierung und mehr unbefristeten Stellen sowie den Empfehlungen des Wissenschaftsrats zu einer Neuordnung der Karrierewege in der Wissenschaft durch die Einführung von Tenure-Track-Professuren (mit entsprechender Ausstattung), einen Zuwachs an Professuren insgesamt und die Etablierung des Karriereziels einer unbefristeten Beschäftigung als Wissenschaftler/in an.

Es ist aber nicht nur die Wissenschaftspolitik gefordert. Auch die Hochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen können viel tun, wie z.B. die Durchlässigkeit zwischen den verschiedenen Hochschulsystemen sowie hinsichtlich der Forschungseinrichtungen außerhalb der Hochschulen zu erhöhen. Der aus dem Templiner Manifest hervorgegangene Herrschinger Kodex der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) zeigt, wie eine Selbstverpflichtung der Hochschulen für bessere Beschäftigungs- und Qualifizierungsbedingungen aussehen kann. Hochschulen sollten ihre gewachsene Autonomie zur Verbesserung der internen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen einsetzen. Vor diesem Hintergrund lehnt die DGS die Herabsetzung der Arbeit des wissenschaftlichen Mittelbaus zu bloßer (Selbst?-)Qualifikation und die Forderung nach einer ›Entwicklung‹ von Befristungsmöglichkeiten, die jüngst unter dem Titel der ›Bayreuther Erklärung‹ von der Kanzler*innenvereinigung veröffentlicht wurde, ab. Der wissenschaftliche Mittelbau wird unter anderem für die Erledigung von Lehraufgaben, aber auch für die Gremienarbeit dringend benötigt. Die DGS setzt sich in diesem Zusammenhang für den Erhalt der Gruppenuniversität ein.

Nicht zuletzt sind auch alle Wissenschaftler*innen dazu aufgefordert, ihr berufliches Handeln zu reflektieren und ihre Handlungsspielräume im Sinne der Beschäftigten zu nutzen. Der notwendige Strukturwandel läuft ohne einen begleitenden arbeitskulturellen Wandel ins Leere. Hierzu gehört auch die aktive, selbst-reflexive Auseinandersetzung mit Formen und Effekten des beruflichen Ausschlusses im deutschen akademischen Feld: Wenn sich die Beschäftigungssituation wie beschrieben massiv prekarisiert, sind manche Gruppen besonders betroffen, etwa junge Wissenschaftler*innen aus nicht akademischen Milieus oder Menschen mit Migrationshintergrund. Auch Frauen sind nach wie vor von prekären Arbeitsbedingungen an Universitäten und Hochschulen in besonderem Maße betroffen.

Die DGS ist der Auffassung, dass die autonome und innovative wissenschaftliche Wissensproduktion von destruktiver Ökonomisierung, vermeintlich marktförmigen Wettbewerbsmodellen und einer strukturell bedingten Prekarisierung des Personals bedroht ist. Kooperation und Planbarkeit sind grundlegende Bedingungen wissenschaftlichen Arbeitens und fördern die Qualität von Forschung und Lehre. Die DGS setzt sich deshalb zukünftig weiterhin nachdrücklich für die Verbesserung der Beschäftigungssituation von Soziolog*innen an deutschen Hochschulen, Universitäten und Forschungseinrichtungen ein. Sie fordert ihre Mitglieder dazu auf, bestehende Handlungsspielräume zur konkreten Verbesserung der Beschäftigungssituation von Promovierenden, Postdocs, Privatdozent*innen und Lehrbeauftragten zu nutzen. Dazu gehört, für Doktorand*innen mindestens 65%-Stellen vorzusehen und für Postdocs 100%-Stellen, auf Arbeitsverträge unter drei Jahren zu verzichten und Übergangszeiten (z.B. zwischen Abgabe der Qualifikationsarbeit und mündlicher Prüfung) sozial verträglich zu gestalten. Darüber hinaus unterstützt sie die Schaffung von Dauerstellen für Daueraufgaben und fordert die Hochschulleitungen dazu auf, die Mittel des Zukunftsvertrags in diesem Sinne einzusetzen. Gute Wissenschaft ist nicht zuletzt das Resultat guter Arbeitsbedingungen.

Quellen