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Ilka Quindeau: Spuren des Anderen. Antisemitismus aus psychoanalytischer Perspektive

Mit ambitionierten Forschungsprogrammen suchten die Kritische Theorie und die Psychoanalyse zur Erklärung des Antisemitismus beizutragen. Doch bleibt die Frage offen, ob sich Antisemitismus psychologisch wirklich am Charakter, an der Persönlichkeitsstruktur der Einzelnen festmachen lässt, wie
es die Theorie des autoritären Charakters insinuiert. In den diesjährigen Adorno-Vorlesungen entwirft die
Psychoanalytikerin Ilka Quindeau ein Verständnis von Antisemitismus als ideologischem Narrativ, das auf
psychische Konfliktkonstellationen reagiert und die Alterität und Ambivalenzen des Anderen negiert. Anhand der psychoanalytischen Methode der Dekonstruktion entwickelt sie ihre Analyse exemplarisch am
Gruppenexperiment des Instituts für Sozialforschung aus den 1950er Jahren sowie der Antisemitismusdebatte im Rahmen der documenta 15.

In der ersten Vorlesung mit dem Titel ›Wozu Antisemitismus? ‹ wendet Ilka Quindeau die klassische Formulierung, was Antisemitismus ist, in die Frage nach seinen psychischen Funktionen. Vor dem Hintergrund des spannungsreichen Verhältnisses zwischen Kritischer Theorie und Psychoanalyse wird ein alteritätstheoretischer psychoanalytischer Ansatz vorgestellt, welcher der Problematik der Ich-psychologischen Wende in der sozialpsychologischen Forschung zu Antisemitismus Rechnung trägt. Von zentraler Bedeutung ist dabei die Dimension des Unbewussten als grundlegender Alterität im Kern des Eigenen.

Seit Adornos berühmter Interpretation des Gruppenexperiments gilt das Schuldabwehr-Theorem als feste Gewissheit im Diskurs über die nationalsozialistische Vergangenheit. In ihrer zweiten Vorlesung ›Schuld und Abwehr – Wunsch oder Wirklichkeit?‹ nimmt Ilka Quindeau indes den Zweifel einer kritisch psychoanalytischen Lesart des Materials auf, ob von Schuldabwehr gesprochen werden kann. Denn Schuld und Abwehr setzen ein entsprechendes moralisches Bezugssystem der Akteur:innen voraus. Eine exemplarische Analyse der Affekt- und Konfliktstruktur, die sich in dem empirischen Material findet, soll
Aufschluss über diese Frage geben.

Die dritte Vorlesung ›Der Vorwurf des Antisemitismus ‹ nimmt die documenta 15 zum Anlass, um die komplexe Dynamik des Antisemitismusvorwurfs in gegenwärtigen Debatten zu untersuchen. Was wird verhandelt, wenn man Andere des Antisemitismus bezichtigt? Was wird unsichtbar? Und wozu dient der
Vorwurf? Ilka Quindeau rekonstruiert die Debatte kritisch anhand des Konzepts der Ambiguitätsintoleranz
als psychischer Voraussetzung des Antisemitismus. Während der Antisemitismusvorwurf an dieser Intoleranz partizipieren kann, zielt die Kritik des Antisemitismus dagegen auf die Akzeptanz von Ambiguität.

Ilka Quindeau, Prof. Dr., ist Psychoanalytikerin und arbeitet seit 2020 als Fellow am Zentrum für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin. Sie ist zudem Professorin für Klinische Psychologie und Psychoanalyse an der Frankfurt University of Applied Sciences.

Seit 2002 veranstaltet das Institut für Sozialforschung in Zusammenarbeit mit dem Suhrkamp Verlag jährlich Vorlesungen, die an drei Abenden an Theodor W. Adorno erinnern. Dabei geht es ganz ausdrücklich nicht um eine Ausdeutung seines Werks, sondern darum, die lebendigen Spuren seines interdisziplinären Wirkens in der Philosophie, der Literatur-, Kunst- und Sozialwissenschaft sichtbar zu machen.

Organisation

Institut für Sozialforschung in Zusammenarbeit mit dem Suhrkamp Verlag

Ort

Goethe-Universität Frankfurt am Main, Campus Bockenheim, Hörsaal IV

Beginn

05.07.23 18:30

Ende

07.07.23 20:30

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