Max Weber und die Gründung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie

Max Weber und die Gründung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie

von M. Rainer Lepsius

von M. Rainer Lepsius

Der Kongress für Soziologie 2010 erinnert an die hundertjährige Wie­der­kehr des ersten Deutschen Soziologentages in Frankfurt vom 19. bis 22. Oktober 1910. Aus diesem Anlass soll über die Rolle Max Webers bei der Gründung der DGS und für die Ausrichtung ihres ersten Kon­gresses im Folgenden berichtet werden. ­­­

Die Initiative für die Gründung lag bei Georg Simmel und Rudolf Gold­scheid, der schon 1907 in Wien eine Soziologische Gesellschaft ins Leben gerufen hatte. Georg Simmel hatte bereits im November 1908 angesehene Gelehrte angeschrieben und sie gebeten, einem Komitee beizutreten, das die Gründung einer deutschen Gesellschaft für Soziologie befördern sollte. Er schrieb u.a. an Georg Jellinek und Max Weber (Simmel 2005: 669), die dann auch die Einladung zur Gründung einer Deutschen Ge­sellschaft für Soziologie unterschrieben. Simmel hatte bereits 1894 einen programmatischen Artikel, Das Problem der Soziologie, veröffentlicht und war mit seiner Philosophie des Geldes (1900) und der großen Soziologie (1908) entschieden für eine Sozio­logie als methodisch eigenständige Disziplin hervorgetreten. Gert Schmidt hat die Entwicklung der Intentionen von Georg Simmel im Einzelnen dar­gestellt (vgl. Schmidt 2009). Rudolf Goldscheid hingegen verfolgte die Ab­sicht, die ›soziologische Perspektive‹ populär zu machen und sozial­wissen­schaftliche Interessen zu aktivieren.

Weber nahm an der Gründungsversammlung am 30. Januar 1909 nicht teil. Dort wurde er – gegen seinen Wunsch – zum Vorsitzenden des so­genannten Ausschusses gewählt und damit in die Leitungsgremien ko­op­tiert. Seitdem entfaltete er eine große Aktivität und wollte ganz offen­sicht­lich inhaltlichen Einfluss auf die neue Gesellschaft nehmen. 

Dies überrascht aus zwei Gründen. Zum einen lebte Max Weber seit seinem psychophysischen Zusammenbruch 1898/99 sehr zurückgezogen, hatte auch seinen Lehrstuhl aufgegeben (1903), sah sich den alltäglichen An­forderungen einer Professur nicht gewachsen, scheute öffentliche Auf­tritte und führte das Leben eines Privatgelehrten. Vor allem wollte er kei­nen Leitungsgremien angehören, denn ›die Erfahrung mit meiner unsiche­ren Gesundheit‹ lasse ihn ›nie garantieren, daß ich zur Stelle sein könne‹ (Weber 1994: 86).

Nach seiner langsamen Genesung war der erste Schritt zurück in die wissen­schaftliche Sichtbarkeit der Eintritt in die Herausgeberschaft des Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik zusammen mit Werner Sombart und Edgar Jaffé im Jahre 1904. Trotz seines labilen Gesundheitszustandes war er seit 1903 überaus produktiv. Erinnert sei nur an die großen metho­do­logischen Aufsätze und DieProtestantische Ethik und der "Geist" des Kapita­lismus. Im Jahre 1908 hatte er den großen Artikel über die Agrarverhältnisse im Altertum und seine Untersuchungen zur Psychophysik der industriellen Arbeit fertiggestellt. Nun wollte er offenbar in einem größeren öffentlichen Rah­men wirken. 1909 engagierte er sich parallel in zwei großen Projekten: an der Herausgabe eines Sammelwerkes über das Ge­samt­gebiet der National­ökonomie (später: Grundriß der Sozialökonomik) und an der Deutschen Ge­sell­schaft für Soziologie und der in ihrem Rahmen von ihm geplanten um­fassenden Untersuchung des Zeitungswesens. Das erste Projekt beschäf­tigte ihn mehr als zehn Jahre bis zu seinem Tod, insbesondere auch sein eigener Beitrag dazu unter dem Titel Wirtschaft und Gesellschaft. Das zweite Projekt brach er im Jahres 1911 ab, und damit endete auch sein Interesse an der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. 1909 jedenfalls wollte er wissen­schaftspolitisch Einfluss nehmen, das zeigen auch seine hochschul­politischen Interventionen auf dem 2. und 3. Deutschen Hochschul­lehrer­tag 1908 und 1909. 

Sein Engagement in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie ist auch des­wegen bemerkenswert, weil er überaus skeptisch gegenüber der Sozio­logie war. Er sah in ihr einen Tummelplatz von Dilettanten, noch keine Disziplin mit klarem methodischem Selbstverständnis. Seine Ein­stellung fasste er in seinem Brief vom 5. Juni 1918 an das österreichische Kultus­ministerium zusammen: ›Der Anregung eines Kollegen, vollends das Ordi­na­riat (auf das Weber berufen werden sollte, R.L.) in ein solches für Gesell­schaftslehre umzuwandeln, könnte ich nur durchaus ablehnend gegen­über­stehen. Dies Fach ist noch viel zu hybrid, um als Lehrfach eines Ordinarius und vollends als Prüfungsfach (was dann die Folge sein würde) konstituiert werden zu können, oder auch nur zu dürfen‹ (demnächst in Weber 2011). Erst 1919 bezeichnete er sich selbst ›primär als Sozio­logen‹ und wollte der überarbeiteten Fassung seines Beitrages zu Wirtschaft und Ge­sell­schaft im Grund­riß der Sozialökonomik den Titel Soziologie geben. Bei der Grün­dung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie sah er seine Aufgabe vor allem darin, strenge Kriterien aufzustellen, die dafür sorgen sollten, ›daß nicht "ge­quatscht" wird und nur Berufene reden‹ (Weber 1994: 114). Insbe­son­dere in dem Mitbegründer, Rudolf Goldscheid, sah er einen Gegen­pol, da dieser für populäre Vortragsveranstaltungen eintrat; Weber hielt ihn für einen ›Spektakel- und Reklamemacher‹.

Es war eine Zeit, in der viele neue Organisationen im Wissenschafts­bereich ins Leben traten, so der Deutsche Hochschullehrertag, auf dessen Ta­gungen 1908 und 1909 Weber vehement auftrat. 1909 wurde die Heidel­berger Akademie der Wissenschaften gegründet, deren Mitglied­schaft er zu­nächst ablehnte. In Brüssel wurde 1901 das Institut Sovay mit einem inter­nationalen Anspruch für die Sozialwissenschaften etabliert, auf die Wiener Soziologische Gesellschaft 1907 wurde schon hingewiesen. Die Car­ne­gie Foundation überlegte, 1909 in Deutschland eine Hochschule für Poli­tik zu fördern, in Zusammenarbeit mit Georg Jellinek in Heidelberg (Weber 1994: 179-182, 189-190). In diese Zeitströmung fällt auch Webers Engage­ment für die Deutsche Gesellschaft für Soziologie; es herrschte offenbar eine Auf­bruch­stimmung, der sich Weber nicht ent­ziehen wollte.

Jedenfalls besucht er die Vorstandssitzung der DGS am 7. März 1909 in Berlin und die außerordentliche Mitgliederversammlung am 14. Oktober 1909 in Leipzig. Das ganze Jahr stand er in engem Briefwechsel mit Hein­rich Herkner (1863-1932), der dem provisorischen Vorstand ange­hörte, und dem Geschäftsführer der Gesellschaft, Dr. Hermann Beck. Bemer­kens­werterweise hatte die DGS schon bei ihrer Gründung einen eigenen Geschäftsführer, etwas, was sie später jahrzehntelang nicht mehr hatte. (Erst vor wenigen Jahren wurde eine permanente Geschäftsstelle einge­rich­tet, davor erfolgte die Geschäftsführung nebenamtlich durch die jeweiligen Vor­­sitzenden.) Beck war in Berlin als Wissenschaftsmanager tätig, betreute neben der DGS noch andere wissenschaftliche und wissen­schaftspolitische Organisationen, gab verschiedene Zeitschriften her­­aus und gründete 1905 das Internationale Institut für Sozial-Bibliographie

Weber kümmerte sich intensiv um die Mitgliederwerbung. Er verschickte im Juni 1909 ein persönlich unterzeichnetes Rundschreiben mit der Ein­ladung zum Beitritt zu der in Berlin gegründeten Deutschen Gesellschaft für Soziologie. Darin skizzierte er die Ausrichtung und Aufgaben­stellung der neuen Ge­sell­schaft und hoffte, damit Interesse zu wecken. Der Erfolg war gering. Am 23. Juli schrieb er an Beck: ›Die Mitgliederzahl ist ja auf jeden Fall noch recht sehr dürftig und ich werde hier im Süden und Westen noch ein­mal energisch nachhelfen müßen‹ (Weber 1994: 197).

In diesem Rundschreiben kommen Webers Intentionen für die Aus­rich­tung der DGS klar zum Ausdruck. Erstens sollte das Prinzip der Wert­urteilsfreiheit herrschen. ›Die Gesellschaft soll dem ganzen Sinn ihrer Grün­dung nach einen rein objektiv wissenschaftlichen Charakter haben. Es folgt daraus, daß jede Art von politischer, sozialpolitischer, sozial­ethischer oder irgendwelcher sonstigen Propaganda für praktische Ziele oder Ideale innerhalb ihrer oder unter ihrem Namen ausgeschlossen sein muß. Sie darf sich nur in den Dienst der Erforschung von Tatsachen und ihrer Zusammenhänge stellen.‹ Was er für die Deutsche Gesellschaft für Sozio­logie forderte, hatte er auch auf der Generalversammlung des Vereins für Social­politik Ende September 1909 in Wien nachdrücklich vertreten. Es entsprach der Grundüberzeugung von Weber, das Seinsollende nicht mit dem Seienden zu verquicken. Denn ›Wir kennen keine wissenschaftlich erweis­baren Ideale‹ (Marianne Weber 1984: 423). Im Kampf gegen Wert­urteile in der Wissenschaft engagierte sich Weber lebenslänglich.

Zweitens sollte die Gesellschaft kooperative Forschungen fördern und die dafür nötigen Mittel einwerben. Als geeignete Themen schlug Max Weber vor: die Erforschung des Zeitungswesens, der Vereine, des Zu­sam­men­hangs zwischen technischer Entwicklung und Kultur und schließ­lich die Fragen der physischen und psychischen Degeneration. Weber bot ein brei­tes Feld für empirische Forschungen an, um verschiedene Inter­essen an­zusprechen. Er wollte eine Gesellschaft, die Träger wissen­schaft­licher For­schungen sein und sich nicht in den Dienst der Propaganda ›prak­tischer Ziele oder Ideale‹ stellen sollte. 

Der Verein für Socialpolitik war das Modell. Er war Träger von großen empi­rischen Forschungen, zu denen Weber selbst bei der Untersuchung der Lage der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland 1892 und nochmals mit den Untersuchungen zur Psychophysik der industriellen Arbeit (1908) beigetragen hatte. Dies sollte auch die DGS leisten. Aber im Unterschied zum Verein für Socialpolitik sollte sie keine sozialpolitischen, praktischen Ziele und Idea­le verfolgen, wie dies im Verein für Socialpolitik der Fall war.

Auch sollte sich die Gesellschaft keinen ›standespolitischen‹ Zielen wid­men, also Propaganda für die Einrichtung soziologischer Lehrstühle und ähn­licher Positionen, die Einführung eines soziologischen Unterrichts im Bil­dungswesen machen. Sie sollte eine ›Forschungsgemeinschaft‹ wer­den.

Weber suchte eine Organisation für große arbeitsteilige Forschungen. Die Heidelberger Akademie der Wissenschaften sah er dafür als ungeeignet an. Nach ihrer Zusammensetzung und Arbeitsweise könne die Akademie für ›große Kollektivarbeiten, die Erhebung und in den ökonomischen Dis­zi­plinen speziell auch die rechnerische Ausarbeitung des selbst­erho­be­nen oder in den Massenpublikationen der offiziellen Statistik brachliegen­den Tat­sachenmaterials‹ keine Hilfe bieten. Das Übergewicht philo­lo­gi­scher und historischer Mitglieder und der mit ihnen ›alles über­wuchernde Histo­rismus‹ würden den Interessen ›der systematischen Staats- und gesell­schafts­wissenschaftlichen Disziplinen‹ nicht gerecht (Weber 1994: 217ff.). Er suchte etwas Neues und glaubte, dies in der DGS ent­wickeln zu können.

Weber beließ es nicht bei der Forderung, die Gesellschaft solle sozio­lo­gische Forschungen betreiben; er unterbreitete sofort ein konkretes und aus­gearbeitetes Projekt. Nach seinem Plan sollte das Zeitungswesen in einem doppelten Zugriff analysiert werden. Zum Ersten war das ›Zei­tungs­­geschäft‹ zu untersuchen: die Eigentumsverhältnisse, der Kapital­bedarf und die Kosten. Die ›Stoffbeschaffung‹ über Nachrichtendienste, Korrespondenten, Redakteure und amtliche Materialien sowie Handels­nach­richten sollten erfasst werden, und zwar im internationalen Vergleich, Zum Zweiten war die ›Zeitungsgesinnung‹ zu erforschen, in Abhängigkeit von den Besitzern, politischen Parteien, Kirchen und Interessengruppen, die ›Produktion öffentlicher Meinungen durch die Presse‹, und auch dies sollte im internationalen Vergleich erforscht werden. Einige Fragen – so meinte er – ließen sich durch die Versendung von Fragebögen behandeln, das meiste müsste durch ausgewählte Mitarbeiter erarbeitet werden. Weber nannte auch sofort zehn Namen von geeigneten potentiellen Mitarbeitern.

Daswar ein umfassendes Forschungsprogramm, das nur mit größeren Geldmitteln durchzuführen war. Weber kümmerte sich daher auch so­gleich um die Beschaffung der Finanzmittel. In seinem Geschäftsbericht auf dem Ersten Soziologentag sagte er: ›Eine Soziologie des Zeitungs­wesens (ist) ein ungeheures Thema, wie wir uns nicht verhehlen, ein The­ma, welches nicht nur sehr bedeutende materielle Mittel für die Vor­arbei­ten erfordern wird, sondern welches unmöglich sachgerecht zu behandeln ist, wenn nicht die führenden Kreise der Interessenten des Zei­tungs­wesens mit großem Vertrauen und Wohlwollen in unsere Sachlichkeit dieser An­ge­legenheit entgegenkommen.‹ (Verhandlungen 1911: 42)

Er wollte 25.000 Mark zusammenbringen über individuelle Spenden und Subskriptionen. Seine Erfolge waren aber sehr bescheiden. Am 29. Au­gust 1909 schrieb er an Ferdinand Tönnies (Weber 1994: 238f.): ›Ich habe erst ge­zeichnet erhalten: 5.000 Mark von verschiedenen Seiten. Un­glaub­lich, was man mit reichen Leuten für Erfahrungen macht.‹ Zu den Spendern gehörten per­sönliche Bekannte, der Heidelberger Jurist Otto Gra­­denwitz, Heinrich Simon von der Frankfurter Zeitung, Paul Siebeck, sein Verleger, und er selbst. Im Mai 1910 waren es mit einer Spende des Insti­tuts für Gemeinwohl in Frank­furt (Wilhelm Merton) 9000 Mark. Weber wandte sich an die Heidel­ber­ger Akademie der Wissenschaften, deren korres­pondierendes Mitglied er ge­worden war, mit der Bitte um finanzielle För­derung. Diese sagte einen Be­trag von 10.000 Mark zu (Weber 1994: 501ff.)

Auch hatte er die Bereitschaft zur Mitarbeit von Vertretern der Presse gewonnen: Chefredakteur Dr. Jacobi, Hannoverscher Courier, Mitglied des Vorstandes des Redakteur-Vereins, Dr. Max Jänecke, Hannover, Vor­sitzen­­der des Zeitungsverleger-Vereins, Theodor Curti, Frankfurt, Direk­tion der Frankfurter Zeitung, berichtet er am l0. Juni 1910 an der Heidel­ber­ger Akademie (Weber 1994: 565). 

Max Weber hat die Presse-Enquête als erstes Forschungsprojekt der DGS an­ge­regt, inhaltlich strukturiert und ihre Organisation und Mittelbeschaf­fung per­sönlich übernommen. Auf dem Soziologentag im Oktober 1910 prä­sen­tierte er sie in seinem Geschäftsbericht noch zuversichtlich. Den­noch schei­terte das Projekt. In seinem Rechenschaftsbericht auf dem 2. Deutschen Soziologentag am 28. Oktober 1912 erklärte Max Weber: ›Ein ganz besonderer Unstern hat über demjenigen Unternehmen gewaltet, wel­ches die Deutsche Gesellschaft für Soziologie als erstes ins Leben rufen wollte: die Erhebung über das Zeitungswesen. Hier spielen leider Ver­hält­nisse, die direkt mit meiner Person verknüpft sind, die entscheidende Rolle, denn mir persönlich hat die Verpflichtung obgelegen, dieses von mir vorgeschlagene Unternehmen in Gang zu bringen. Im Dezember 1910 hat auch die Konstituierung des dafür vorgesehenen Ausschusses mit dem Recht der Kooptation stattgefunden, und zahlreiche angesehene Theore­ti­ker und Praktiker des Zeitungswesens hatten ihre Mitwirkung zugesagt. Auch war es gelungen, den Vorstand des Vereins deutscher Zeitungs­ver­le­ger und den Reichsverband der Presse teils zum Eintritt in den Arbeitsaus­schuss, teils zum Zusammenwirken zu gewinnen: Große Zeitungen hatten zugesagt, ihre geschäftliche Entwicklung durch Angaben über die prozen­tuale Entwicklung und Bedeutung der einzelnen großen Einnahme- und Aus­gabeposten offenzulegen.

Alles war auf dem besten Wege. Zu Anfang 1911 aber geriet ich in einen Konflikt, der in unaufhaltsamer Verkettung zu einem Presseprozeß und an diesen anschließend zu einem Prozeß miteinem anderen Herren (dem Heidelberger Zeitungswissenschaftler Adolf Koch, R.L.) führte. Bei dem Presseprozeß handelte es sich um den Versuch, trotz des Redak­tions­geheimnisses, welches kein ehrenhafter Journalist preisgibt, die Quelle eines anonymen Angriffs (auf die Ehre Max Webers, R.L.) zu ermitteln‹ (Ver­handlungen 1913: 76f.). Diese Umstände hätten das Vertrauens­ver­hält­nis zwischen Max Weber und den Vertretern des Zeitungswesens so be­lastet, dass er sich nach Beginn des Presseprozesses im Mai 1911 von dem Unternehmen zurückgezogen habe.

Ausgangpunkt war ein Zeitungsbericht in den Dresdner Neuesten Nach­richten aus Heidelberger Universitätskreisen. Darin hieß es, Weber habe wegen seines Gesundheitszustandes eine Duellforderung abgelehnt. Für Weber bedeutete dies eine tiefe Kränkung – als Mann, Corpsstudent und Reserve­offizier –, und er verlangte von der Zeitung eine Gegendarstellung, die diese ablehnte. Weber beschuldigte die Dresdner Neuesten Nachrichten, be­wusst die Unwahrheit gesagt zu haben, und bezeichnete den berich­tenden Korrespondenten als einen ›Revolverjournalisten‹. Das führte zur Klage des Chefredakteurs der Dresdner Neuesten Nachrichten, in dessen Ver­lauf We­ber durch eine Unachtsamkeit des betreffenden Journalisten den Namen des Informanten, des HeidelbergerZeitungswissenschaftlers Adolf Koch, er­fuhr. Daraufhin begann der Prozess gegen Adolf Koch.

Der Chefredakteur der Dresdner Neuesten Nachrichten, Wolf, war zugleich Vorstandsmitglied des Presseverbandes und bekämpfte Weber wegen dessen Angriffs auf das Redaktionsgeheimnis. Dieses hatte Weber zwar für politische Meldungen als unerlässlich anerkannt, doch wollte er im Falle des persönlichen Ehrenschutzes den Informanten zwingen, die Wahrheit der Behauptung mit seinem Namen zu bestätigen (vgl. Weber 1998: 974f.). Die Prozesse gegen den Chefredakteur Wolf und mit dem Zeitungs­wissen­schaftler Koch, der über gute Kontakte zur Presse verfügte, veran­lassten Weber, seine Mitwirkung bei der Zeitungsuntersuchung abzu­brechen. Er glaubte, das dafür notwendige Vertrauensverhältnis zu den Ver­tretern der Presse verloren zu haben. 

Für ein zweites Forschungsprojekt warb Max Weber nachdrücklich. Er stellte es in seinem Geschäftsbericht auf dem ersten Soziologentag 1910 mit folgenden Worten vor: ›Eine fundamentale Aufgabe einer jeden Ge­sell­schaft für Soziologie ist (es), diejenigen Gebilde zum Gegenstand ihrer Arbeiten zu machen, welche man konventionell als "gesellschaftliche" be­zeich­net, d.h. alles das, was zwischen den politisch organisierten oder aner­kannten Gewalten – Staat, Gemeinde und offizielle Kirche – auf der einen Seite und der naturgewachsenen Gemeinschaft der Familie auf der an­deren Seite in der Mitte liegt. Also vor allem: eine Soziologie des Ver­eins­wesens im weitesten Sinne des Wortes, vom Kegelklub – angefangen bis zur politischen Partei und zur religiösen oder künstlerischen oder litera­rischen Sekte.‹ (Verhandlungen 1911: 52f.)

Weber interessierten dabei Fragen von der Art: ›Wie wirkt die Zu­ge­hö­rigkeit zu einem bestimmten Verein nach innen? auf die Persön­lich­keit als solche?‹ ›Wie beeinflußt die Vereinstätigkeit den Gesamthabitus und die Re­gle­mentierung der Lebensführung?‹ (Verhandlungen 1911: 55, 58) Wie und mit welchen Mitteln wirken die Vereine ›in der doppelten Rich­tung: einmal der Prägung der einzelnen Individuen; und dann der Prä­gung der objektiven, über­individuellen Kulturgüter?‹ (Verhandlungen 1911: 59)

Wie schon bei der von ihm entworfenen Soziologie des Zeitungswesens, zeigt sich Weber auch bei dem Projekt der Soziologie des Vereinswesens als ein genuiner Soziologe, der zentrale Fragen der Sozialstruktur aufgreift, sie empirisch bearbeiten will, und zwar im interkulturellen Vergleich.

 Auf die Organisation und inhaltliche Gestaltung des Ersten Deutschen Soziologentages nahm Weber großen Einfluss. Die drei Vorsitzenden der Gesellschaft: Tönnies, Simmel und Sombart, standen als Redner fest, auch We­ber, der als Schatzmeister (Rechner) den Geschäftsbericht zu geben hatte. Zwischen Tönnies und Simmel herrschten persönliche Animosi­tä­ten. Da Tönnies, als ältester unter den Vorsitzenden, den Kongress eröff­nen wollte, musste für Simmel eine herausgehobene Rolle gefunden wer­den, um die jeweilige Eitelkeit zu befriedigen. Weber fand eine Lösung. Der Kongress fand im Gebäude der Akademie für Sozial- und Handels­wissen­schaf­ten in Frankfurt statt, und diese hatte am Vortag zu einem Begrüßungs­abend geladen. Weber schlug nun vor, Simmel solle am Begrüßungsabend sprechen. Er hielt seine bekannte Rede Soziologie der Geselligkeit (Weber 1994: 651). Dieser Vorschlag wurde akzeptiert, so dass Tönnies den Kon­gress eröffnen, Simmel den ersten Vortrag halten konnte.

Auch bei der Auswahl der Referenten nahm Weber maßgeblichen Ein­fluss. Besonders war ihm daran gelegen, einen Naturwissenschaftler zu ge­winnen. Es fand sich Alfred Ploetz, ein Privatgelehrter, der 1904 das Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie gegründet hatte, für einen Vortrag über Rasse und Gesellschaft. Webers Heidelberger theologischer Kollege und Freund, Ernst Troeltsch, sollte über Das stoisch-christliche Naturrecht und das modern profane Naturrecht sprechen, und sein gleichfalls Heidelberger Kollege Eberhard Gothein, Nationalökonom und Kulturhistoriker, war bereit, einen Vortrag über Soziologie der Panik zu halten. Schließlich rekru­tierte er auch den ihm bekannten Freiburger Juristen Hermann Kanto­ro­wicz für einen Vortrag über Rechtswissenschaft und Soziologie. Nur einer der Referenten war nicht von Weber rekrutiert worden, und zwar Andreas Voigt, der als Vertreter der gastgebenden Akademie für Sozial- und Handels­wissen­schaften über Wirtschaft und Recht sprach. Weber wollte die Soziologie aus der Sicht ver­schiedener Disziplinen behandelt sehen. Er ergriffin den fünf Dis­kus­sionen zu den Vorträgen jeweils das Wort, mehr als jeder andere. Er war, nimmt man seinen Geschäftsbericht hinzu, ein dominie­ren­der Kon­gress­teilnehmer, dem am Erfolg des Soziologentages persönlich sehr gele­gen war.

Doch der Soziologentag endete mit einem Eklat, der alle Bemühungen Webers, die Soziologie als eine seriöse Wissenschaft zu präsentieren, im Vorfeld scheitern ließ. Anlass war die Intervention von Ferdinand Tönnies als Sitzungsleiter des letzten Vortrages. Tönnies hatte Hermann Kantoro­wicz unterbrochen mit dem Hinweis auf § l der Satzung, in dem es heißt: die Gesellschaft ›lehnt die Vertretung irgendwelcher praktischen, poli­ti-schen(ethischen, religiösen, politischen, ästhetischen usw.) Ziele ab‹. Dieser Vorfall und die mit ihm verbundene große Erregung kommt in den gedruckten Verhandlungen nur knapp in einer Diskussionsbemerkung von Hermann Kantorowicz zur Sprache. ›Ich stelle ganz theoretisch die Frage, darf hier gesprochen werden über die Frage, ob eine bestimmte Auf­fassung von einer Wissenschaft richtig ist oder nicht?‹ (Verhandlungen 1911: 330f.) Er habe die Freirechtsbewegung als richtig beurteilt und andere Auffassungen als falsch kritisiert. Es handele sich dabei um logische Werte und diese lägen auf einem ganz anderen Felde als praktische, ästhe­tische, ethische und sonstige Werte. ›Wenn wir darauf verzichten, zwi­schen Richtig und Falsch zu unterscheiden, so müssen wir überhaupt darauf verzichten, miteinander zu reden.‹ Über das Postulat der Wert­urteils­freiheit erhob sich ein breiter Unmut. Weber schrieb gleich nach dem Soziologentag an Ferdinand Tönnies: ›Die Tagung Sonnabend nach­mittag hat alles verdorben, was erreicht war. Sie waren müde und daher nervös, die Versammlung nicht orientiert über den Sinn von "Werturteil"‹ (Weber 1994: 654). An Franz Eulenburg gab er am 27. Oktober ein Re­sü­mee: ›Die Tagung verlief im übrigen so: Sombarts Referat war ein Feuille­ton. Die Debatte durchweg auf ganz niedrigem Niveau (mich einge­schlossen). Ploetz das übliche ungeklärte Pan-Biologentum. Debatte mäßig. Die eigentlichen Sachkenner fehlten, insbesondere Sie. Troeltsch: Vortrag ausgezeichnet, vor allem: gänzlich wertfrei – Debatte die beste des Tages. Gothein: oberflächlich. Voigt: sachlich solide und gut, gehemmt in der Form, weil er seine Frau vor acht Tagen verloren hat und deprimiert war. Debatte: kurz, nicht sehr bedeutsam aber erträglich. Kantorowicz: sehr gut. Debatte skandalös infolge der ganz unfähigen Leitung von Tönnies einerseits, des Betragens von Goldscheid und anderen anderer­seits: thörichte Debatten zur Geschäftsordnung über Werturteile, schul­meister­liche Unterbrechungen von Tönnies, Protest dagegen usw.‹ ›Ich habe mich überzeugt, daß ein "Salon des Refusés" (gemeint sind Nicht­ordinarien, R.L.), wie der Vorstand es jetzt ist, in Deutschland namentlich, mag dies noch so bedauerlich sein – einfach nicht geht; weder Geld noch Mitglieder sind zu haben.‹ ›Ich trete aus dem Vorstand aus [...] bin zum Rechner gewählt worden und werde den Verkehr mit den Verlegern be­sorgen und die Presse-Enquête fördern. Aber wenn Sie nicht mit­machen, dann gehe ich ganz und lasse alles im Stich.‹ (Weber 1994: 655f.) 

Weber schied zum l. Januar 1911 aus dem Vorstand aus, besorgte Siebeck als Verleger für die Schriften des Vereins und übernahm die Redaktion der Verhandlungen des Ersten Soziologentages. Die Arbeiten für die Vor­be­rei­tung der Zeitungsenquête stagnierten, es fehlten noch 5.000 Mark, und die Bestellung der Mitglieder des Arbeitsausschusses kam nicht zustande. Mit den Presseprozessen 1911 und 1912 empfand sich Weber gegenüber den Vertretern des Zeitungswesens als befangen. Es gelang nicht, einen neuen Leiter der Zeitungsenquête zu finden. Weber verlor das Interesse an einem Projekt, dem er viel Zeit und Kraft geopfert hatte.

Am Zweiten Soziologentag vom 20. bis 22 Oktober 1912 in Berlin nahm er teil. Die Thematik war der Nation, der Nationalität und dem Vater­landsgedanken gewidmet. Gerne hätte Max Weber zu diesen Fragen einen Vortrag gehalten, aber da sein Bruder Alfred reden sollte, trat er zu dessen Gunsten von diesem Plan zurück. An den Diskussionen aber betei­ligte er sich rege, insbesondere äußerte er sich zum Begriff der Nation, den er als Demos in einem politischen Bezug und vom völkischen Ethnos unter­schieden verstanden wissen wollte. Er hielt auch den Geschäfts­bericht als ›Rechner‹ der Gesellschaft, in dem er – wie schon erwähnt – den Stillstand der Zeitungsenquête mitteilte, eine Mitgliederzahl von 334 nannte und als Erfolg die Gründung der Deutschen Statistischen Gesellschaft, die aus einer Abteilung der DGS heraus entstanden war, erwähnte. Andere Gebiete, für die er die Gründung gesonderter Abteilungen gefordert hatte, wie für Philosophie und Soziologie des Rechts, Wirtschaftstheorie und Sozio­biologie, kamen nicht zustande.

Weber besorgte auch noch die Veröffentlichung und Redaktion der Ver­hand­lungen des 2. Deutschen Soziologentages 1913. 1914 trat er aus der DGS aus. Er hatte das Interesse an ihr verloren, und nachdem Rudolf Gold­scheid fürGeorg Simmel in den Vorstand gewählt worden war – zu ihm hatte er seit dem Eklat auf dem Soziologentag 1910 den Kontakt abge­brochen –, wollte er mit der Gesellschaft nichts mehr zu tun haben. Seinen Aus­tritt kommentierte er folgendermaßen: ›Ich habe mich an der Gründung dieser Gesellschaft ausgesprochenermaßen nur deshalb eifrig beteiligt, weil ich hier einen Ort wertfreier wissenschaftlicher Arbeit und Dis­kussion zu fin­den hoffte. – Mögen nun diese Herren, von denen keiner es sich mal ver­kneifen kann (denn das ist es!) einem mit ihren mir unendlich gleich­gül­ti­gen subjektiven "Wertungen" zu behelligen, gefälligst unter sich bleiben; ich habe es absolut satt, stets erneut als Don Quixote eines angeblich undurch­führ­baren Prinzips aufzutreten und peinliche "Sze­nen" herbeizuführen‹ (Ma­ri­anne Weber 1984: 429f.). Marianne Weber hatte schon im April 1911 er­kannt: ›die soziologische Gesellschaft, für die Du Dich in kleiner Münze ver­aus­gabst, wird ein leerlaufender Apparat bleiben. Der Teufel hole die sozio­lo­gische Gesellschaft‹ (Marianne Weber 1984: 427). 

Blicken wir auf das Engagement Webers für die Deutsche Gesellschaft für So­ziologie zurück, so kann man festhalten, dass er ihr in den Jahren 1909 bis 1911 viel Kraft und Zeit gewidmet hat, umfangreiche Korrespon­den­zen führ­te und für sie ein großes Forschungsprojekt entwarf, vor­bereitete und zu realisieren versucht hatte. Seine Pläne scheiterten. Im Grunde wollte Weber aus der DGS eine ›Forschungsgemeinschaft‹ entwickeln, auf der Grundlage freiwilliger Mitarbeit von Mitgliedern und Spenden von Mä­ze­naten. Es zeigte sich aber im Laufe der Zeit, dass weder die spontane Mit­wirkung der Kolle­gen noch das Spendenaufkommen für eine derartige Unternehmung aus­reich­ten. Weber erstrebte eigentlich ein Max-Planck-Institut für Gesell­schafts­forschung oder doch einen Verbund von DFG-Sonder­forschungs­berei­chen, beides lag damals noch in weiter Ferne. Er über­schätzte dieMög­lich­keiten der Deutschen Gesellschaft für Soziologie be­trächt­lich, ebenso wie das Mäzenatentum für sozial­wissen­schaft­liche For­schung. Seine Vision war die Entwicklung einer empirischen und auch inter­national vergleichenden So­zial­forschung. Im Zentrum soll­ten Fragen der Sozialstruktur der Gegen­warts­gesellschaft stehen. Das zeigen seine Pro­jektvorschläge zur Unter­suchung der Presse und die For­mierung öffentlicher Meinungen, der inter­mediären Verbände und der Bildung des sozialen Habitus von Gruppen­ange­hörigen sowie der Auslese und Karriere­wege der führenden Berufe. Weber propagierte eine Sozio­logie als empirische Analyse der modernen Ge­sellschaft durch koordinierte ›Kollek­tiv­arbeiten‹, die die Grenzen der kon­ven­tionellen Monographien von einzelnen Forschern überwinden sollten. Er wollte die Soziologie pro­fes­sionalisieren und sie über ihre Leistungsfähigkeit legitimieren. Sein En­ga­ge­ment war zukunftsweisend und bewunderungs­würdig. Auch aus diesem Blickwinkel kann er zu Recht als ein Grün­dungs­vater der Soziologie gelten.

Literatur

  • Schmidt, G. 2009: Georg Simmels Projekt (s)einer Soziologie. In: Simmel Studies., 19. Jg., Heft 1.
  • Simmel, G. 2005: Briefe 1880-1911. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005.
  • Verhandlungen 1911: Verhandlungen des Ersten Deutschen Soziologentages vom 19. bis 22. Oktober 1910 in Frankfurt a. M.. Reden und Vorträge von Georg Simmel, Fer­di­nand Tönnies, Max Weber, Werner Sombart, Alfred Ploetz, Ernst Troeltsch, Eberhard Gothein, Andreas Voigt, Hermann Kantorowicz und Debatten. Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck).
  • Verhandlungen 1913: Verhandlungen des Zweiten Deutschen Soziologentages vom 20. bis 22. Oktober 1912 in Berlin. Reden und Vorträge von Alfred We­ber, Paul Barth, Fer­di­nand Schmid, Ludo Moritz Hartmann, Franz Oppen­hei­mer, Robert Michels und Debatten. Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck).
  • Weber, M. 1984: Max Weber. Ein Lebensbild. Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Sie­beck).
  • Weber, M. 1994: Briefe 1909-1910. In M. R. Lepsius, W. J. Mommsen (Hg.) in Zu­sam­menarbeit mit B. Rudhard und M. Schön, Max Weber-Gesamtausgabe, Ab­tei­lung II: Briefe, Band 6, Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck).
  • Weber, M. 1998: Briefe 1911-1912. In M. R. Lepsius, W. J. Mommsen (Hg.) in Zu­sammenarbeit mit B. Rudhard und M. Schön, Max Weber-Gesamtausgabe, Ab­tei­lung II: Briefe, Band 7, Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck).
  • Weber, M. 2011: Briefe 1918-1920. In G. Krumeich und M. R. Lepsius (Hg.) in Zu­sammenarbeit mit S. Oßwald-Bargende, U. Hinz und M. Schön, Max We­ber-Gesamtausgabe, Abteilung II: Briefe, Band 10, Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck).