Nachdem die Wählerinnen und Wähler in Nordrhein-Westfalen ein neues Parlament gewählt haben, werden sich die Parteien zur Bildung einer neuen Landesregierung in Koalitionsverhandlungen begeben. Diese finden statt in einer Zeit, in der eine Serie von Krisen unsere Gesellschaft erschüttert hat und immer noch erschüttert. Besonders betroffen von der Krisenhaftigkeit sind Kinder und Jugendliche, die vermehrt mit psychischen Störungen und Desorientiertheit reagieren. Gerade in den Krisen dieser Zeit zeigt sich, dass Kindern und Jugendlichen das soziologische Wissen und das analytische Rüstzeug dafür fehlt, diese Krisenerfahrungen als gesellschaftliche zu verstehen und in ihren komplexen Bezügen zu durchdringen. Das aber ist die Voraussetzung dafür, vom bloßen individuellen Erleiden zu selbstbewusstem Mithandeln in der Krisenbewältigung zu kommen.
Essen, 16. Mai 2022
Die Deutsche Gesellschaft für Soziologie macht vielfach die Erfahrung, dass junge Menschen sich sehr für gesellschaftliche Themen, Probleme und deren Lösung interessieren und nach Gelegenheiten suchen, sich intensiver damit auseinanderzusetzen. Wir sehen hier ein gesellschaftliches Bildungsinteresse, dem die Bildungspolitik entsprechen sollte – nicht zuletzt, weil Jugendliche damit Kompetenzen erwerben können, mit denen sie fachlich fundiert, differenziert und reflektiert zur Bearbeitung und Lösung der drängenden gesellschaftlichen Krisen und Problemlagen beitragen können.
Aus unserer Sicht bietet die Schule in Nordrhein-Westfalen bisher zu wenige Optionen für eine fachliche fundierte gesellschaftliche, also sozialwissenschaftlich-soziologische Bildung. In starkem Kontrast dazu können die Schulen Schülerinnen und Schülern, die sich verstärkt für wirtschaftliche Inhalte interessieren, seit rund einem Jahrzehnt das Fach Sozialwissenschaften in der Variante Sozialwissenschaften/Wirtschaft wählen. Dass es hierzu keine soziologische Alternative gibt, schränkt aus unserer Sicht die Freiheit der Lernenden erheblich und unbegründet ein. Diese asymmetrische Beschneidung der Wahlfreiheit ist von der Sache her und mit Blick auf das allgemeine Ziel der sozialwissenschaftlichen Bildung zur gesellschaftlichen Teilhabe nicht zu rechtfertigen. Das gilt zumal angesichts des Personalbestandes, da die Schulen in NRW über Lehrkräfte mit Lehrbefähigung Sozialwissenschaften inklusive Soziologie verfügen, was es leicht macht, ein soziologisches Angebot in der Oberstufe zu realisieren.
Wir schlagen daher vor, dass die neue Landesregierung dafür Sorge trägt, dass in der gymnasialen Oberstufe baldmöglichst Leistungskurse Soziologie angeboten werden können und angeboten werden. Die Lehrplanentwicklung dafür sollte möglichst umgehend beginnen, und die Deutsche Gesellschaft für Soziologie ist gerne bereit, sich dort mit ihrer Fachkompetenz einzubringen. Im Sinne einer zweitbesten Lösung könnte man alternativ daran denken, den derzeit geltenden Kernlehrplan ›Sozialwissenschaften und Sozialwissenschaften/Wirtschaft‹ so zu erweitern, dass er Gymnasien und Gesamtschulen die Möglichkeit einer Schwerpunktsetzung im Bereich Gesellschaft eröffnet (Sozialwissenschaften/Gesellschaft). Auch an dieser curricularen Arbeit wird sich die DGS gerne beteiligen.
Grundsätzlich halten wir es für angemessen, dass die Oberstufenschülerinnen und -schüler maßgeblichen Einfluss darauf haben, welche Leistungskurse oder Schwerpunktbildungen in der sozialwissenschaftlichen Domäne an ihrer Schule angeboten werden. In diesem Sinne begrüßen wir es, wenn die Landesregierung die Partizipationsrechte der Lernenden hier stärkt – ganz im Sinne einer Erziehung zu mündigen Bürgerinnen und Bürgern.