Die Deutsche Gesellschaft für Soziologie hat die Entwürfe der Kernlehrpläne gesichtet und nimmt wie folgt Stellung:
Angesichts immer komplexer werdender gesellschaftlicher Verflechtungen im lokalen, regionalen, nationalen und internationalen Vergleich ist es aus Sicht der DGS dringend erforderlich, dass die Lehrerinnen und Lehrer in der Aus-, Fort- und Weiterbildung systematisch Kompetenzen zur Analyse von Strukturmerkmalen moderner Gesellschaften erwerben. Nur dann kann es gelingen, dass Schülerinnen und Schüler die spezifischen Merkmale, Entwicklungslinien und Problemlagen moderner Gesellschaften angemessen erkennen, um sich selbstbestimmt und eigenverantwortlich in diesen Gesellschaften orientieren und diese mitgestalten zu können.
Die Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Soziologie bezieht sich auf die Entwurfsfassungen der Kernlehrpläne für Gesellschaftslehre (Fach Wirtschaft-Politik) der Gesamtschule/Sekundarschule, das Fach Wirtschaft und Arbeitswelt der Hauptschule sowie die Fächer Politik und Wirtschaft der Realschule.
Die Kernlehrpläne zeigen insbesondere drei Sachverhalte:
- Für Kinder und Jugendliche relevantes Wissen über Gesellschaft, das die Soziologie und keine andere Gesellschaftswissenschaft zur Verfügung stellt, kommt trotz seiner Relevanz in den Lehrplanentwürfen nur kursorisch vor und fehlt an relevanten Stellen in Fach- und Zielbeschreibungen, Inhaltsfeldern und Kompetenzen.
- Das Fehlen der gesellschaftlichen Perspektive auf relevante Sachverhalte und Problemlagen und des soziologischen Wissens, das zu ihrem Verständnis, ihrer Bearbeitung und Beurteilung unverzichtbar ist.
- Die Entwürfe der Kernlehrpläne machen deutlich, dass fachlich kompetenter Unterricht unabdingbar ist. Gerade an den Schulformen Hauptschule, Gesamtschule/Sekundarschule und Realschule ist der Anteil fachfremd erteilten Unterrichts seit vielen Jahren extrem hoch. Die in den Entwurfsfassungen festgelegten fachlichen Wissensbestände und Kompetenzen können von den Schülerinnen und Schülern in vielen Fällen kaum oder nur unzureichend angeeignet werden.
Die DGS bewertet die grundsätzliche Beibehaltung einer sozialwissenschaftlich integrativen Konzeption des Faches Wirtschaft-Politik sowie die Option, dass Realschulen sich für ein integratives Angebot von Wirtschaft-Politik entscheiden können positiv. Die DGS begrüßt die Aufrechterhaltung der Bezugnahme auf die Disziplinen Soziologie, Politikwissenschaft und Wirtschaftswissenschaften.
Die DGS lehnt ein separates Fach Wirtschaft ab, insbesondere dann, wenn den Lernenden dort ausschließlich wirtschaftswissenschaftliches Wissen angeboten und wichtiges soziologisches (und politikwissenschaftliches) Wissen über wirtschaftliche Phänomene, Probleme und Zusammenhänge vorenthalten wird. Die wissenschaftliche Unangemessenheit und unterrichtspraktische Absurdität der Zerlegung in zwei Fächer zeigt sich exemplarisch in der Trennung des Themenkomplexes Globalisierung in zwei Inhaltsfelder ›Globalisierte Strukturen und Prozesse in der Politik‹ und ›Globalisierte Strukturen und Prozesse in der Wirtschaft‹. Hier wird willkürlich getrennt, was in der Realität der Globalisierung, ihrer wissenschaftlichen Analyse, der politischen Praxis und der Auseinandersetzung damit im Unterricht zusammengehört. Selbstverständlich schließt das die gesellschaftliche Dimension von Globalisierung unabdingbar ein, die deshalb in den Lehrplänen zu verankern ist.
Angesichts anhaltender gesellschaftlicher Problemlagen und multipler Krisen betont die DGS zugleich, dass soziologische Denkweisen und Konzepte in den Lehrplanentwürfen zu schwach repräsentiert sind. Die bildungspolitische Privilegierung wirtschaftswissenschaftlicher Zugänge und Inhalte in den vorliegenden Lehrplanentwürfen hält die DGS für unvereinbar mit zentralen Prinzipien wie Selbstbestimmung und Offenheit im Denken, Wissenschaftlichkeit und Pluralismus, Problemorientierung und Lebensweltbezug sowie nicht zuletzt dem Gebot der staatlichen Zurückhaltung gegenüber einseitiger Beeinflussung der Lernenden, die der Schulpflicht unterliegen.
Wir sehen in unserer Stellungnahme aus pragmatischen Gründen davon ab, die kerncurriculare Festlegung von Inhalten, Zielen und Kompetenzen en détail aus einer soziologischen Perspektive zu analysieren und zu prüfen, ob dies dem wissenschaftlichen state of the art entspricht. Dies würde zu einer grundsätzlichen Kritik an einer Reihe von wissenschaftlichen Unzulänglichkeiten und Defiziten führen, die den Rahmen der Verbändeanhörung mit Blick auf die äußerst kurze Frist für die Überarbeitung der Pläne nach Ablauf der Anhörungsphase sprengen würde.
Bevor wir zu konkreten Vorschlägen kommen, halten wir aber fest, dass die soziologische Perspektive in allen vier hier kommentierten Kernlehrplänen systematisch zu kurz kommt, sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht. Das kann die vergleichsweise oft verwendete Formulierung ›ökonomisch, politisch und gesellschaftlich‹ kaum kaschieren. Im Entwurf für Politik in der Gesamtschule/Sekundarschule haben nur zwei von zwölf Inhaltsfeldern einen gesellschaftlichen Fokus, während vier auf eine ökonomische Perspektive fixiert sind. Darüber hinaus wird das Inhaltsfeld zur Globalisierung auf Wirtschaft reduziert und das zur Europäischen Union ignoriert die gesellschaftliche Dimension der Beziehungen zwischen den Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaft, insbesondere im Hinblick auf die Transnationalisierung sozialer Beziehungen.
Diese Befunde treffen auch auf die Entwürfe für die Fächer Politik und Wirtschaft an der Realschule zu, hier stehen zwei gesellschaftliche vier ökonomischen Inhaltsfeldern gegenüber, Europäische Union und Globalisierung werden ebenfalls ohne gesellschaftliche Aspekte betrachtet. Im Fach Politik wird Globalisierung radikal auf Friedens- und Sicherheitspolitik reduziert, im Fach Wirtschaft auf internationale wirtschaftliche Verflechtung und Handelsbeziehungen.
Diese systematischen Verkürzungen sind aus soziologischer Sicht nicht nur wissenschaftlich unangemessen, sondern mit Blick auf die Lernenden auch für den Erwerb wichtiger Kompetenzen unverantwortlich. Nicht zuletzt tragen diese Unzulänglichkeiten der Lehrplanentwürfe zu einem einseitigen Weltbild bei, sodass den Schülerinnen und Schülern eine adäquate Orientierung, informierte Urteilsbildung und sachgerechte Handlungsfähigkeit verwehrt bleibt.
Die Deutsche Gesellschaft für Soziologie schlägt die folgenden Änderungen an den Entwürfen vor, die sich auf das aus ihrer Sicht unbedingt Erforderliche beschränken und in Form konkreter Formulierungen vorgelegt werden. Soweit die Lehrplanentwürfe über die Schulformen hinweg gleiche oder ähnliche Vorgaben machen, legen wir auch schulformübergreifende Änderungsvorschläge vor.
Zum Lehrplanteil ›Aufgaben und Ziele der Fächer/des Faches‹
Hauptschule (HS), Wirtschaft und Arbeitslehre (WA), S. 7:
(1) Einzufügen sind die Sätze:
[Nach: Die Arbeitslehre hat die Aufgabe, den Schülerinnen und Schülern die Lebenswelt – soweit sie durch Arbeit geprägt wird – erfahrbar und durchschaubar zu machen.] Sie leistet einen Beitrag zum Aufbau eines Orientierungs-, Deutungs-, Kultur- und Weltwissens. Sie fördert die Entwicklung einer eigenen Identität sowie die Fähigkeit zur selbstständigen Urteilsbildung und schafft damit die Grundlage für das Wahrnehmen eigener Lebenschancen sowie für eine reflektierte Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Lebenswirklichkeiten.
Begründung:
Das sind Formulierungen aus den Entwürfen für Gesamtschule/Sekundarschule und Realschule. Es gibt keinen Grund, Hauptschülerinnen und Hauptschüler hier anders zu behandeln. Im Gegenteil, ihre Lebenswirklichkeit und die empirische Evidenz sprechen dafür, gerade für sie auf diese Ziele Wert zu legen.
Realschule(RS), Politik (PO), S. 7:
(2) Einzufügen ist der Satz:
[Nach: … mündig zu vertreten, sachkundig zu urteilen und verantwortungsvoll sowie demokratisch zu handeln.] Das Fach Politik leistet einen Beitrag zur erfolgreichen Bewältigung politisch und gesellschaftlich geprägter Lebenssituationen und bereitet Schülerinnen und Schüler auf individuelle Lebensführung, gesellschaftliche Teilhabe sowie politische Mitwirkung in unserer demokratischen Gesellschaftsordnung vor.
Begründung:
Es handelt sich um Formulierungen aus den Entwürfen für Gesamtschule/Sekundarschule und Hauptschule, die bei der Realschule ohne ersichtlichen Grund fehlen.
Gesamtschule/Sekundarschule (GS), Wirtschaft-Politik (WP), S. 7:
(3) Zu ergänzen ist die Passage ›politisch und gesellschaftlich‹ im folgenden Satz:
[Nach: … mündig zu vertreten, sachkundig zu urteilen und verantwortungsvoll sowie demokratisch zu handeln.] Das Fach Wirtschaft-Politik leistet einen Beitrag zur erfolgreichen Bewältigung ökonomisch, politisch und gesellschaftlich geprägter Lebenssituationen und bereitet Schülerinnen und Schüler auf individuelle Lebensführung, gesellschaftliche Teilhabe sowie politische Mitwirkung in unserer demokratischen Gesellschaftsordnung vor.
Begründung:
Die Reduzierung auf ›ökonomisch‹ steht im Widerspruch zu den übrigen Zielformulierungen dieses Lehrplans. Sie ist im Übrigen sachlich unangemessen und wäre eine nicht vertretbare Verkürzung des Bildungsziels des Faches.
GS, WP, S. 7; HS, WA, S. 7; RS, WI, S. 7:
(4) Zu unterscheiden sind wirtschaftliche Perspektiven und wirtschaftliche Rollen, zu ergänzen sind zivilgesellschaftliche Akteure; der neue Satz lautet:
[Nach: … das grundlegende wirtschaftliche Strukturen und Prozesse verstehbar und mitgestaltbar macht.] Vor dem Hintergrund der vielfältigen ökonomischen Herausforderungen in Zeiten der Globalisierung und Digitalisierung werden im Unterricht unterschiedliche wirtschaftliche Perspektiven thematisiert und wirtschaftliche Rollen eingenommen: Verbraucherinnen und Verbraucher, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Unternehmerinnen und Unternehmer, Wirtschaftsbürgerinnen und -bürger sowie zivilgesellschaftliche Akteurinnen und Akteure.
Begründung:
Unterschiedliche wirtschaftliche Perspektiven auf einen Sachverhalt können nicht mit verschiedenen wirtschaftlichen Rollen gleichgesetzt werden. Die von den Lehrplänen mehrfach betonte Zivilgesellschaft kann bei der expliziten und abschließenden Aufzählung der Akteure nicht ausgeschlossen werden.
GS, WP, S. 15; HS, WA, S. 15; RS, PO, S. 12; RS, WI, S. 12; jeweils Abschnitt Sachkompetenz, Änderung in Satz 2:
(5) Einzufügen sind die Begriffe Analysekompetenz, Problemlagen und Lösungsalternativen:
[Nach: … damit gesellschaftliche Realität sinnstiftend erschlossen und verstanden werden kann.] Sie zeigt sich damit vor allem als Analyse-, Deutungs- und Orientierungsfähigkeit. Ökonomisch-politische Sachkompetenz bildet [Streichung] eine wesentliche Grundlage dafür, ökonomische, politische, soziale, kulturelle und ökologische Sachverhalte, Problemlagen und Lösungsalternativen mithilfe von fachspezifischen Erfassungsweisen, Erklärungsmustern, Modellen und Theorien zu erschließen, einzuordnen sowie kritisch zu reflektieren.
Begründung:
Analysekompetenz ist von Deutungskompetenz zu unterscheiden. Die Engführung von Sachkompetenz auf den Bezug zum ›Hintergrund einer Bildung für nachhaltige Entwicklung‹ ist angesichts weiterer relevanter und anhaltender Problemlagen sachlich nicht gerechtfertigt und würde Sachkompetenz inhaltlich unangemessen verkürzen. Eine Beschränkung auf ›Sachverhalte‹ wird weder der gegenwärtigen noch zukünftigen Lebenssituation der Lernenden noch den Herausforderungen, vor denen Wirtschaft, Gesellschaft und Politik stehen, gerecht. Deshalb sind Problemlagen und Lösungsalternativen zu ergänzen. Ohne diesen Teil der Sachkompetenz kann sich keine adäquate Handlungskompetenz entwickeln.
GS, WP, S. 17; HS, WA, S. 15 f.; RS, PO, S. 12 f.; RS, WI, S. 12 f.; jeweils Abschnitt Handlungskompetenz, Änderung in Satz 4:
(6) Einzufügen ist der Begriff Mitbestimmung:
[Nach: … auch hinsichtlich des reflektierten Umgangs mit digitalen Medien, einsetzen zu können.] Sie beinhaltet Erfahrungen mit demokratischen und partizipativen Aushandlungs-, Entscheidungs- und Handlungssituationen, welche die Fähigkeit zur Teilhabe, Mitbestimmung und Mitwirkung im ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Raum stärken.
Begründung:
Dem relativ starken und umfassenden Demokratiebegriff, den die Lehrplanentwürfe vertreten, widerspricht die Beschränkung auf die schwache Formulierung von Partizipation als ›Mitwirkung‹. Mitwirkung ist keineswegs der Oberbegriff, der Mitbestimmung einschließt. Wenn die Formulierung im Lehrplan also Teilhabe und Mitwirkung umfasst, ist ein wesentlicher Teil der – gesetzlich kodifizierten und gesellschaftlich praktizierten – demokratischen Partizipation ausgeschlossen. Das ist sachlich nicht vertretbar und wäre politisch einseitig.
GS, WP, S. 17, Abschnitt Handlungskompetenz:
(7) Zu übernehmen ist die Formulierung aus den anderen Lehrplänen:
Handlungskompetenz umfasst die Fähigkeit, sich am öffentlichen demokratischen Prozess der Meinungsbildung und Entscheidungsfindung zu beteiligen. Sie befähigt dazu, Chancen der Einflussnahme auf die Gestaltung wirtschaftlicher, politischer und gesellschaftlicher Strukturen und Prozesse aus unterschiedlichen Perspektiven wahrzunehmen. Handlungskompetenz zeigt sich in der Fähigkeit, erworbene fachspezifische Sach-, Methoden- und Urteilskompetenzen in unterschiedlichen Lebenssituationen, auch hinsichtlich des reflektierten Umgangs mit digitalen Medien, einsetzen zu können. Sie beinhaltet Erfahrungen mit demokratischen und partizipativen Aushandlungs-, Entscheidungs- und Handlungssituationen, welche die Fähigkeit zur Teilhabe, Mitbestimmung und Mitwirkung im ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Raum stärken.
Begründung:
Sachliche Gründe für eine abweichende Bestimmung von Handlungskompetenz exklusiv für die Gesamtschule/Sekundarschule sind nicht ersichtlich.
Zum Lehrplanteil ›Kompetenzbereiche und Inhaltsfelder‹
GS, WP, S. 60; RS, PO, S. 13;
Inhaltsfeld 2 bzw. 1: Sicherung und Weiterentwicklung der Demokratie:
(8) Die Beschreibung ist an das von den Lehrplanentwürfen vertretene Konzept von Demokratie als Lebens-, Gesellschafts- und Herrschaftsform anzupassen:
In diesem Inhaltsfeld geht es um ein Verständnis von Demokratie als Lebens-, Gesellschafts- und Herrschaftsform in Deutschland. Dabei werden grundlegende politische Handlungsoptionen, die Sicherung und Weiterentwicklung der verfassungsrechtlichen Ordnung, der selbstbestimmten, pluralistischen Zivilgesellschaft sowie der demokratischen Alltagskultur betrachtet. In diesem Zusammenhang werden auch Formen politischer Beteiligung, Mitgestaltung und Mitbestimmung im politischen Nahbereich von Schule und Kommune sowie die damit einhergehenden Chancen, Rechte und Pflichten thematisiert. Zudem ermöglicht die Auseinandersetzung mit politischen Formen, Inhalten, Prozessen und Partizipationsmöglichkeiten auf Landes- und Bundesebene ein Verständnis von der pluralen Demokratie sowie der verfassungs- und rechtsstaatlichen Ordnung in Deutschland und ihren Gestaltungsoptionen. Dabei spielen Herausforderungen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung eine zentrale Rolle, zu denen auch die Chancen und Risiken digitaler Medien für den politischen Willensbildungsprozess zählen. Die Auseinandersetzung mit diesem Inhaltsfeld stärkt das demokratische Bewusstsein und die Fähigkeit zur politischen Teilhabe in der Zivilgesellschaft.
Begründung:
Der breite Demokratiebegriff verlangt die Erwähnung von Zivilgesellschaft und demokratischer Alltagskultur, eine Reduzierung auf die politische Rechtsordnung ist nicht vertretbar. Der Anspruch ›Weiterentwicklung der Demokratie‹, den der Name des Inhaltsfeldes zu Recht hervorhebt, muss sich in der Beschreibung inhaltlich wiederfinden. Eine juristische Verengung von Partizipation auf Rechte und Pflichten ist unangemessen. Die besondere Betonung der digitalen Medien im Vergleich zu den Gefährdungen der Grundordnung ist nicht durch empirische Evidenz gedeckt.
GS, WP, S. 61; RS, PO, S. 13;
Inhaltsfeld 4 bzw. 2: Nachhaltige Entwicklung in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft:
(9) Einzufügen sind hier vor allem einige sachlich notwendige Ergänzungen:
Dieses Inhaltsfeld befasst sich mit der Bedeutung individuellen und gemeinsamen nachhaltigen Handelns in wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Zusammenhängen. Dazu gehört neben einer Beschäftigung mit ökonomischen, sozialen und ökologischen Herausforderungen und Chancen der globalisierten Welt auch eine grundlegende Auseinandersetzung mit nachhaltiger Entwicklung. Dabei werden mögliche Maßnahmen zur Optimierung der Nachhaltigkeit im privaten, unternehmerischen, kommunalen, zivilgesellschaftlichen und kommunalen Umfeld sowie staatliche umweltpolitische Instrumente betrachtet. Zudem werden die Bedeutung nachhaltiger Entwicklung und die Verteilung natürlicher und sozialer Ressourcen thematisiert. Ziel ist, ein Grundverständnis von der Relevanz einer nachhaltigen Entwicklung für Gesellschaft und Ökonomie zu erhalten sowie eigenes alltägliches, gemeinschaftliches und politisches Handeln diesbezüglich zu reflektieren. Darauf aufbauend ermöglichen weitere Inhaltsfelder eine vertiefende Auseinandersetzung mit ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Aspekten einer nachhaltigen Entwicklung
Begründung:
Demokratien zeichnen sich gerade durch gemeinschaftliches Handeln in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik aus. Eine Reduzierung auf Ressourceneffizienz steht in scharfem Gegensatz zum Stand der wissenschaftlichen und politischen Diskussion zum Themenkomplex Nachhaltigkeit. Mit Blick auf die empirische Evidenz und Handlungsmöglichkeiten ist es unvertretbar, Unternehmen und Zivilgesellschaft bei den Maßnahmen zur Nachhaltigkeit zu ignorieren.
GS, WP, S. 62 f.; HS, WA, S. 17 f.; RS, WI, S. 14 f.;
Inhaltsfeld 12 bzw. 6: Beruf und Arbeitswelt:
(10) Relevante, aber fehlende Aspekte sind zu ergänzen:
Dieses Inhaltsfeld setzt sich mit Analysen der Berufs- und Arbeitswelt auseinander und zielt auf die individuelle berufliche Orientierung der Schülerinnen und Schüler angesichts zunehmender Unsicherheit und Komplexität. Dazu tragen die Reflexion eigener Bedürfnisse und Interessen, Selbst- und Fremdeinschätzung eigener Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie Kenntnisse über die aktuellen und perspektivischen Strukturen und Anforderungen von Berufen bzw. Berufsfeldern, schulischen und außerschulischen Ausbildungssystemen bei. Außerdem wird die Möglichkeit von Existenzgründungen und der damit verbundenen unternehmerischen Selbstständigkeit in den Blick genommen. Darüber hinaus werden die Transformationen der Arbeitswelt, die damit verbundenen zukünftigen Entwicklungen und deren Gestaltungsmöglichkeiten behandelt. Es ist Ziel, selbstbestimmte und eigenverantwortliche Entscheidungen im Hinblick auf Lebensplanung und den Übergang in die Berufs- und Arbeitswelt zu ermöglichen.
Begründung:
Wissenschaftsorientierung als ein Prinzip des Unterrichts an öffentlichen Schulen verlangt die Auseinandersetzung mit Analysen, die die Berufs- und Arbeitswelt erschließen. Ein wesentliches Merkmal der Berufs- und Arbeitswelt sind deren Unsicherheit und Komplexität, die eine planvolle berufliche Orientierung erheblich erschweren. Die Beschränkung auf Anforderungen greift zu kurz, zukunftsfähiges, transferierbares Wissen umfasst vor allem Strukturen, die Ordnung und Orientierung verschaffen. Die Engführung auf Digitalisierung mag zwar zurzeit naheliegen, der Begriff Transformationen ist aber wesentlich angemessener, da der Wandel der Berufs- und Arbeitswelt hochdynamisch und kaum prognostizierbar ist. Die Gestaltung der Arbeitswelt ist eine zentrale Aufgabe vor allem von Politik, Unternehmen und Betriebsräten sowie den Interessenverbänden der Tarifparteien, die eine institutionelle Säule der deutschen sozialen Marktwirtschaft sind und seit Jahrzehnten in überwiegend kooperativen Arbeitsbeziehungen stehen. Bildung dient der Persönlichkeitsentwicklung, in einer Demokratie als Lebens-, Gesellschafts- und Herrschaftsform und unter den Bedingungen einer pluralistischen Gesellschaft ist Selbstbestimmung ein zentraler Wert.
GS, WP, S. 62 f.; HS, WA, S. 17; RS WI, S. 14;
Inhaltsfeld 10 bzw. 5 : Globalisierte Strukturen und Prozesse in der Wirtschaft:
(11) Eine Trennung dieses Inhaltsfeldes in ein wirtschaftliches und ein politisches Inhaltsfeld ist sachlich und didaktisch ungerechtfertigt und für das Verstehen und Gestalten von Globalisierung kontraproduktiv. Problemkomplexe wie Klimawandel, Migration, Nachhaltigkeit oder Pandemien führen das eindrücklich vor Augen. Für den Fall, dass diese unangemessene Separierung nicht korrigiert wird, fordern wir, hier relevante Aspekte zu ergänzen:
Grundsätzliche Überlegungen zur globalisierten Ökonomie unter Berücksichtigung sozialer und ökologischer Folgen bilden den Schwerpunkt in diesem Inhaltsfeld. Dabei werden Unternehmen und deren internationale Verflechtung, internationale Institutionensowie andere wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Akteure und deren Interessen im Kontext der Globalisierung betrachtet. Die Auseinandersetzung mit politischen Gestaltungsoptionen sowie den Ursachen und Wirkungen von Freihandel und Protektionismus auf nationale wie internationale Arbeits-, Güter- und Kapitalmärkte, Gesellschaften, politische Ordnungen und Gestaltungsoptionen ermöglicht eine grundlegende Beurteilung internationaler Handelsbeziehungen. Ziel ist ein grundlegendes Verständnis der ökonomischen, politischen und sozialen Chancen und Risiken globalisierter Strukturen und Prozesse in der Wirtschaft, auch mit Blick auf ihre Gestaltbarkeit sowie eine nachhaltige Entwicklung.
Begründung:
Wenngleich Unternehmen relevante Akteure der Globalisierung sind, ist eine Verengung auf sie allein empirisch falsch. Staatliche und Nichtregierungsorganisationen spielen eine zentrale Rolle für die ökonomische Globalisierung. Die Eingrenzung der Akteursinteressen auf Prozesse ist nicht vertretbar, da Prozesse wesentlich von Institutionen und Kulturen bestimmt werden; das gilt auch für die ökonomische Globalisierung. Die Reduzierung der politischen Optionen der Gestaltung von ökonomischer Globalisierung auf den simplen Dualismus Freihandel versus Protektionismus ist wissenschaftlich längst überholt, Globalisierung ist vieldimensional und komplex und wesentlich von gesellschaftlichen und politischen Voraussetzungen abhängig. Eine Verkürzung auf die Wirkungen von Handelspolitik sowie auf das Wirkungsfeld Märkte ist sachfremd, die Lernenden müssen auch die Ursachen sowie die Folgen für Gesellschaft, Politik und Handlungsmöglichkeiten kennen, um sich ein sachlich angemessenes Urteil bilden zu können. Da gerade die Kapitalmärkte wesentliche Triebkräfte der ökonomischen Globalisierung sind, wäre es sachfremd sie auszuschließen.
GS, WP, S. 63.; RS, PO, S. 14;
Inhaltsfeld 11 bzw. 6: Globalisierte Strukturen und Prozesse in der Politik:
(12) Eine Trennung des Inhaltsfeldes in ein politisches und ein wirtschaftliches Inhaltsfeld ist sachlich und didaktisch ungerechtfertigt und für das Verstehen und Gestalten von Globalisierung kontraproduktiv. Für den Fall, dass diese unangemessene Separierung nicht korrigiert wird, fordern wir, hier relevante Aspekte zu ergänzen. Wir weisen erneut darauf hin, dass die gesellschaftliche Dimension der Globalisierung völlig fehlt. Vorschlag für die Neuformulierung:
Dieses Inhaltsfeld thematisiert grundlegende globale Herausforderungen wie Krisen, Konflikte und Kriege hinsichtlich ihrer Formen, Ursachen und Folgen sowie der Optionen, sie durch internationale Institutionen und politische Zusammenarbeit bei Friedens- und Sicherheitspolitik sowie Nachhaltigkeits- und Menschenrechtspolitik zu bewältigen. Dabei werden die Möglichkeiten und Grenzen der politischen Optionen im Rahmen der internationalen Eingebundenheit in die UN, die Europäische Union und die NATO thematisiert und die Rolle zivilgesellschaftlicher Organisationen sowie der Bundeswehr als sicherheitspolitischer Akteur betrachtet. Darüber hinaus werden Klimawandel und Migration sowie die Optionen ihrer politischen Gestaltung behandelt. Ziel dieses Inhaltsfeldes ist die Entwicklung eines Grundverständnisses internationaler politischer Verflechtungen und Problemlagen m Zeitalter der Globalisierung.
Begründung:
Siehe Nr. (11) sowie: Eine Verkürzung des Zusammenhangs von Globalisierung und Politik auf Friedens- und Sicherheitspolitik ist wissenschaftlich und mit Blick auf die politische Realität ebenso unangemessen wie die Engführung auf Migration, ohne die langfristig aktuellen Problemkomplexe Klimawandel und Nachhaltigkeit zu erwähnen.
Zur Notwendigkeit soziologischen Fachwissens
Soziologisches Fachwissen ist eine zentrale Bedingung für die kompetente Vermittlung von Wissen an Schülerinnen und Schüler. Das soll an einigen exemplarisch ausgewählten Themen aufgezeigt werden. Angesichts der Randstellung, die die Lehrplanentwürfe soziologischen Denkweisen und Inhalten zuweisen, befürchtet die DGS negative Rückwirkungen auf die soziologischen Anteile in der universitären LehrerInnenausbildung. Würden diese mit Bezugnahme auf die Kernlehrpläne der einschlägigen Fächer weiter reduziert, fehlte den zukünftigen Lehrkräften die soziologische Kompetenz, die für die Förderung der Orientierungs-, Urteils- und Handlungsfähigkeit der Schülerinnen und Schüler im 21. Jahrhundert unabdingbar ist.
In allen Kernlehrplänen sind Themenfelder, Inhaltsbereiche und Kompetenzen adressiert, die typischerweise im Rahmen der Soziologie verortet sind und für die es keine Expertise in den Fachwissenschaften und Fachdidaktiken gibt, die nun als Unterrichtsfächer den gesellschaftswissenschaftlichen Bereich allein abdecken sollen: Erdkunde, Geschichte, Politik, Wirtschaft sowie Hauswirtschaft und Technik an den Hauptschulen.
Prozesse und Interdependenzen von Handlungen wie sie im Kernlehrplan für die Hauptschulen adressiert sind, sind beispielsweise das Kernelement soziologischer Fragestellung und wissenschaftsdisziplinär nicht einer der zentralen Zugänge in den Wirtschaftswissenschaften.
Auch das Themenfeld kulturelle und interkulturelle Bildung, das in allen Kernlehrplänen (z. B. Kernlehrplan Hauptschule, S. 10) als bedeutsam eingestuft wird, wird innerhalb der akademischen Sozialwissenschaften primär von der Soziologie bearbeitet. Folgerichtig können die künftigen Lehrerinnen und Lehrer auch keinen wissenschaftlich adäquaten Zugang zu der Thematik finden, wenn Soziologie nicht Teil des Studiums des Unterrichtsfaches ist, was am Ende dann dazu führt, dass die inhaltlichen Kompetenzen, die die Lehrperson selbst nicht hat, auch von Schülerinnen und Schülern nicht erworben werden können.
Ein anderes Themenfeld tritt in den Kernlehrplänen für Realschule und Gesamtschule stark hervor. Die Beschäftigung mit Identität, verbunden mit der ›Betrachtung des Zusammenspiels von individueller Entwicklung und prägenden sozialen Alltagserfahrungen in einer sich auch durch Migration und Digitalisierung verändernden Gesellschaft‹. (Kernlehrplan Realschule S. 13), ist ein genuines Feld soziologischen Denkens und Analysierens, das in keinem der anderen die Fächer konstituierenden Wissenschaften einen relevanten Rang einnimmt. Diese Feststellung lässt sich auch für die Themen, die in dem Inhaltsfeld behandelt werden sollen treffen: ›Identität und Rollen: Familie, Schule und Peergroup – Wandel von Lebensformen und -situationen: familiäre und nicht-familiäre Strukturen – Herausforderungen im Zusammenleben von Menschen auch mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen und Geschlechterrollen‹ (Kernlehrplan Gesamtschule).
Schließlich ist das Themenfeld ›Disparitäten‹, das unter der Bezeichnung ›soziale Ungleichheiten‹ einen Kerngegenstand soziologischen Forschens darstellt in den Lehrplänen adressiert. Gerade jüngere Entwicklungen in modernen Gesellschaften der zunehmenden sozialen Ungleichheiten kann Schülerinnen und Schülern nur vermittelt werden, wenn Lehrerinnen und Lehrer selbst gelernt haben, komplexe Mechanismen der Produktion und Reproduktion von sozialer Ungleichheit zu verstehen. Reflexive Zugänge als Grundlage eines solchen Verständnisses vermittelt aber einzig die Soziologie.
Insgesamt muss daher festgestellt werden, dass in den Kernlehrplänen zwar soziologische Themen adressiert werden, diese aber in vielen Fällen fachlich nicht adäquat repräsentiert werden, da dies nur aus der Perspektive soziologischen Denkens geleistet werden kann.