Thema

Geschlossene Gesellschaften

Millionen Menschen migrieren und flüchten, vertrieben durch Krieg, Armut, Um­welt- oder Klimakatastrophen und politische Repression. Zugleich schlie­­ßen Europa und weitere Regionen ihre Grenzen, ziehen Zäune, um sich ab­zu­schotten. Aber auch in vermeintlich sozialstrukturell und politisch offenen Ge­sellschaften gilt, dass Frauen, bildungsschwächere und gesund­heit­lich be­ein­trächtigte Gruppen sowie Angehörige minorisierter Gruppen, wie Migrantinnen und Migranten in sicheren oder gehobenen Berufs­po­si­tio­nen stark unterrepräsentiert und von den wirtschaftlichen und politischen Eli­ten in Deutschland ausgeschlossen sind. Daneben bekunden verschlos­se­ne Ar­beits-, Finanz- und Freizeitwelten, abschottendes Wachpersonal der ga­ted com­mu­nities ökonomische, soziale und kulturelle Abgrenzungen von Ober­schich­ten. Als geschlossen erleben viele Menschen auch das politische ›Sys­tem‹, das sie als abgekoppelt von den ›realen‹ Bedürfnissen be­schrei­ben. Zugleich ar­ti­ku­lieren sich viel mehr Menschen in Deutschland, Europa und weltweit als noch vor Jahrzehnten in der digitalen Öffentlichkeit, die für bei­nahe alle glei­cher­maßen offen erscheinen. Doch auch hier: Überwachung und ›security‹ von Orten, Personen und ihren Daten werden privat und von Seiten des Staa­tes ausgebaut. Einerseits wächst durch einen damit einher ge­hen­den Ge­ne­ral­verdacht die Angst vor Offenheit in der Öffentlichkeit, zu­gleich gehen ande­rer­seits Personen immer offener und sorgloser mit ihren Da­ten um.

Geschlossene Gesellschaften sind nicht lebensfähig. Offene auch nicht. Gesellschaften, Organisationen, Gruppen und Lebensverläufe sind immer von einer Ambivalenz gleichzeitiger Offenheit und Geschlossenheit ge­prägt. Bei deren Beobachtung geht es um Öffnungs- oder Schlie­ßungs­pro­zesse. Und es geht der Soziologie um das Verständnis der Ursachen von Öffnung und Schließung und deren Fol­ge­wirkungen. Auch über die Zeit hinweg las­sen sich einerseits mediale, ökonomische, politische und kul­tu­relle Dyna­mi­ken ausmachen, die bis heute immer neue Räume in allen Be­reichen der Ge­sell­schaft öffnen. Anderseits bestehen in eben diesen in­sti­tu­tionellen, sozial­struk­turellen und organisationalen Bereichen vielfältige Schlie­ßungen des So­­zia­len fort, oder es entstehen in geöffneten Räumen sehr schnell neue Schließungen.

Mit dem Thema ›Geschlossene Gesellschaften‹ richtet der 38. Kon­gress der DGS daher seine Aufmerksamkeit auf einen Kernbereich der Selbst­­be­schreibung moderner Gesellschaften: Diese verstehen sich im Sinne der kri­ti­schen Aufklärung (Kant), des Marxismus oder der Ratio­na­li­sie­rungs-, Dif­fe­renzierungs- und Modernisierungstheorien (von Weber und Durkheim über Parsons und Luhmann bis Elias und Beck sowie den mul­tiple mo­der­ni­ties etwa bei Eisenstadt bzw. den postcolonial perspectives) als von Menschen selbst ge­machte Ordnungen. Das heißt, moderne Gesellschaften verstehen sich als ge­staltungsoffen. Und doch werden alltäglich Schlie­ßun­gen vorgenommen, und sie müssen vorgenommen werden. Partielle Ge­schlos­senheit nach Außen kann dazu dienen, Rechte und Pflichten zu in­sti­tu­tionalisieren, Er­war­tungssicherheit zu generieren, Identität zu sichern, Leistungskraft zu ent­falten und nicht selten auch innere Offenheit zu be­wahren oder auszubauen. Soziale Schließungs- und Öffnungsprozesse voll­ziehen sich auf allen so­zialen Ebenen, auf der Ebene des individuellen und kollektiven Handelns, in Klein- und Großgruppen, in Gesellschaften und Gemeinschaften, in Or­ga­nisationen und Systemen. In den sozialen Kon­struktionen von Sinn und Wert ebenso wie in den Kämpfen um An­er­ken­nung geht es immer auch um das Verhältnis zwischen Offenheit und Ge­schlossenheit. Dabei sind soziale Schließungen ein wesentlicher Me­­cha­nis­mus, um Zugänge zu sozialen, öko­nomischen und kulturellen Lebens- und Teilhabechancen zu steuern und Anerkennungen und Privilegien zu ver­teilen. Zudem sind Schließungen eine Möglichkeit, Komplexität zu re­du­zie­ren. Je komplexer die Verbindungen und Probleme sind, desto kom­ple­xer sind häufig auch die Bearbeitungs­pro­zes­se und umso geschlossener agie­­ren spezialisierte Expertengruppen. In Ge­sellschaften, Gemeinschaften und Organisationen etablieren sich Akteu­re und Akteurinnen über Selek­tions- und Ausschlussmechanismen. So etwa, wenn es Gruppen gelingt, andere soziale Gruppen über den – offenen oder ver­deckten – Verweis auf Herkunft oder die Behauptung fehlenden oder unzureichenden Human­ka­pi­tals vom Zugang zu den Ressourcen von Ar­beits­märkten, Bildungs- und So­zialsystemen auszuschließen. Soziologische Fra­gen und empirische Ana­ly­sen zu Ursachen und Folgen sozialer Schlie­ßun­gen und Öffnungen sind vor diesem Horizont, denken wir nur an Weber, Parkin, Collins oder Bour­dieu alles andere als neu, aber sie sind je­weils raumzeitlich spezifisch und der­zeit (wieder) besonders virulent.

›Wer will, der kann!‹ Mit diesem handlungsprogrammatischen Titel be­ginnt Anfang der 1950er Jahre im Aufbruch zur sozialen Marktwirtschaft ein Abendprogramm des deutschen Fernsehens. Die materiellen Be­din­gun­gen dieses normativen Imperativs waren in allen modernen Volks­wirt­schaf­ten günstig: Für viele Menschen steigerte sich ihre ökonomische Pro­duk­tivität, erhöhte sich ihre wirtschaftliche und soziale Wohlfahrt, ver­brei­terten sich die Zugänge zu Bildungs- und Sozialsystemen, vervielfältigte sich der kul­tu­rel­le Erfahrungsraum, eröffneten sich neue In­for­ma­tions­zu­gänge und ver­mehr­ten sich die sozialen Kontakte. Gleichwohl bestanden so­ziale Schlie­ßun­gen in vielfältiger Form fort, die Individualisierung und ge­staltende Teil­habe systematisch verhinderten. Liberalisierungs- und In­klu­sions­pro­zes­se sto­ßen, so stellt die Soziologie in empirischer Hinsicht im­mer wieder fest, oft und schnell auf Ab- und Ausgrenzungsprozesse.

Hierbei kann es sich erstens um manifeste Abgrenzungspolitiken han­deln, etwa wenn Professionen versuchen, sich gegen die Konkurrenz an­de­rer Berufsgruppen abzuschotten, wenn der Wohlstand von Gruppen und Ge­­­sell­schaf­ten gegenüber Außenstehender bewacht und abgesichert wird, oder wenn Versicherungen und Clubs über rigide Mitgliedschaftsregeln ein güns­tiges Einnahmen-Ausgaben-Verhältnis herstellen und dadurch einen pri­­vilegierten Status Weniger absichern. Immer wieder versuchen or­ga­ni­sier­­te Gruppen, Gemeinschaften und Gesellschaften, ihre Vorteile zu ma­xi­­mie­ren und zu monopolisieren, indem sie den Zugang zu sozialen Rech­ten oder öko­nomischen Begünstigungen und Chancen auf einen ge­schlos­se­nen Per­so­nenkreis begrenzen.

Der häufigere Fall sind allerdings zweitens institutionalisierte, ›selbst­ver­­­ständ­lich‹ gewordene und dadurch kulturell verborgene Schließungen. Um sie werden deutlich weniger Auseinandersetzungen geführt. So, als könn­­ten sie gar nicht mehr zur Disposition stehen, werden diese Schlie­ßungen im All­tag gemeinhin als vorgegebene Bedingungen wahr­ge­nom­men. Dies ist der Fall etwa bei Gesundheits-, Alters- oder Ge­schlech­ter­nor­men, De­fi­ni­tio­nen von Staatsbürgerschaft und nationaler Zugehö­rig­keit, An­­­wart­schafts­be­dingungen bei Sozialversicherungen, Arbeitsteilungen oder Berufs­zu­schnit­ten, in denen zugleich Rechte und Pflichten sowie soziale Abhän­gig­keits­strukturen festgelegt werden.

Richten wir den Blick auf die gesellschaftlichen Entwicklungen, dann lässt sich beobachten, wie mit dem Begriff der Globalisierung, der seit den 1980er Jahren die politischen und sozialwissenschaftlichen Diskussionen prägt, die Vorstellung vielfältiger Öffnungs- und Liberalisierungsprozesse so­wohl zwischen als auch innerhalb der Nationalstaaten verbunden wurde. Glo­balisierung wurde und wird – auch – als befreiende Öffnung ver­stan­den, als Überwindung von wachstumsbeschränkenden Regu­lie­run­gen, plan­­wirt­schaft­lichen Verfügungen sowie kulturellen Konformitäts- und Nor­­mali­täts­zwängen. Mit der Bildung transnationaler Wirtschafts- und So­zial­räume und einer weitgehend von Territorium und Geographie los­ge­lös­ten, be­schleu­nig­ten funktionalen Differenzierung der Wirtschafts- und So­zial­welt schienen auch neue Formen eines internationalen Regierens und einer nicht mehr na­tional­staatlich fixierten politischen Steuerung Wirk­lich­keit zu werden. Sozio­lo­gische Diagnosen der Ausbildung einer ›Welt­gesell­schaft‹, die Be­ob­ach­tung unaufhaltsamer transnationaler Vergesell­schaf­tungs- und Vergemein­schaf­tungsprozesse und der Vorherrschaft multina­tio­naler Un­ter­nehmens­for­men mit globalen Wertschöpfungsketten schie­nen auf eine tragfähige so­zial­strukturelle Grundlage für neue Ordnungs­mo­delle auf allen Ebenen des Ge­sellschaftlichen hinzuweisen. In der Integration Eu­ro­pas fanden diese Entwicklungen als ›postnationale Kon­stel­lation‹ mit ho­hem eman­zi­pa­to­ri­schem Potential eine auf den ersten Blick stabile insti­tu­tio­nelle Form, in der sich das Leitmotiv einer Öffnung zur Differenz materialisierte. Doch erwies sich diese neue Offenheit schnell nur als eine Seite der Medaille, denn gleich­zei­tig stellten sich Glo­ba­li­sierung bzw. Trans­nationalisierung als asym­me­tri­sches Diktat dar. Oft wur­den Öffnungen und Liberalisierungen als Teil der Po­litik inter­na­tio­na­ler Organisationen wie der Weltbank, des IWF und der WTO als Oktroi empfunden. An vielen Orten der Welt kennzeichnet (bis­weilen extreme) Knappheit die Le­bens­bedingungen von Menschen, zugleich – und damit verschränkt – schotten sich ganze Regionen ökonomisch ab, etwa durch Import­be­schrän­­kungen. So verhindert Protektionismus (Schlie­ßung) Ent­wicklungen (Offen­heit) in diesen Regionen. Solche ungleichen Ver­flech­tun­gen können soziale Pro­teste auslösen und zur Mo­bi­li­sie­rung einer glo­ba­len Demo­kra­ti­sie­rungs­bewegung führen, die das Recht auf die Mit­ge­stal­tung ihrer Ge­sell­schaft einfordert. Das Mindeste, was sich mit Blick auf diese Prozesse sagen lässt, ist: Tatsächlich offene und integrierte Ge­sell­schaf­ten benötigen sehr viel mehr an sozialen, politischen und kulturellen Vor­aussetzungen als das, was bislang für sie mobilisiert und realisiert wurde.

Aus der Perspektive sozialer und institutioneller Strukturen von Lebens­ver­­läufen sind vor allem institutionell verankerte Zugangsnormen sowie das Han­deln in Organisationen, insbesondere im Bildungs-, Berufs- und Be­­schäf­­tigungssystem, von Bedeutung für soziale Schließungen. Hier wird auf viel­­fältige Weise unterschiedliche soziale Herkunft in ungleiche Teil­habe­­chan­­cen, seien es Bildungs-, Berufs- oder Einkommenschancen, über­führt. In Organisationen mit ihren Zielen, Programmen und Mitglied­schafts­­regeln lassen sich soziale Schließungen gut beobachten: Etwa wenn wir sehen, wie in Organisationen um exklusive Einflussmacht gerungen wird, die auch Kor­rup­tion etc. einschließt (aktuell etwa in der FIFA). Oder wenn wir den Blick auf umfängliche Spionagetätigkeiten (aktuell der NSA) oder komplexe Ab­stim­­mungs- und Entscheidungsprozesse (aktuell etwa das Transatlantischen Frei­­handelsabkommens TTIP) richten, wo die Öf­fent­­lichkeit von Infor­ma­tio­n­en und Mitsprache ausgesperrt werden soll. Auch hier zeigt sich die Am­bi­valenz von Öffnung und Schließung. So, wenn Or­ga­nisationen als Hü­te­rin­­nen von Freiheit versuchen, sich gegen Pro­testgruppen und Populismus ab­zuschotten und genau damit offene Ge­sell­schaften dort besonders schwä­chen, wo sie in der Realität ohnehin schwach sind: beim ständigen Aus­han­deln des Gemeinwohls auf Basis des gu­ten Arguments.

Im Zusammenwirken von Menschen und Organisationen bilden sich qua Schließung Institutionen heraus. Dabei stabilisieren Sozialisations- und Ver­gesellschaftungsprozesse und die darin vermittelte Aneignung von ge­sell­­schaft­­lichen und organisatorischen Normen die entsprechenden Struk­tu­ren. Zugleich beinhalten Vergesellschaftungsprozesse immer und zwingend auch Öffnungen, etwa als subjektiver, praxeologischer, durchaus auch kör­per­leib­licher Eigensinn oder als gestaltende, aktive Aneignung von Normen. Auch auf der subjektiven, biographischen Ebene lässt sich also die Gleich­zei­tigkeit von Öffnung und Schließung nachvollziehen. Darüber hinaus bzw. da­mit verbunden lassen sich umgekehrt auch Öffnungen von insti­tu­tio­na­li­sier­ten Schließungen beobachten, wenn etwa aus nicht-hegemonialen Pra­xen juri­sti­sche und institutionelle Öffnungen werden, wie beispielsweise bei der Gleich­stellung gleichgeschlechtlicher Partner­schaften.

Auf allen genannten Ebenen – globalisierte Weltgesellschaft, trans­na­tio­­na­le Räume, Nationen, Organisationen, Gruppen, Biographie – und so­zia­­­len, wirtschaftlichen und kulturellen Bereichen finden Auseinanderset­zun­gen statt, die sich im jeweiligen Kontext nicht nur, aber doch wesentlich um den Grad von Öffnung und Schließung drehen. Die Analyse von Öff­nungs- und Schließungsprozessen, ihre Institutionalisierung und De-In­sti­tu­tio­na­li­sie­­rung, die Kämpfe um ihre Deutung und Bewertung sowie die Fol­gen für Leistungsbereitschaft, Innovationsfähigkeit, Enttäuschung oder Pro­test etc. sind seit jeher soziologische Kernanliegen. Die basalen Fragen nach so­­­zialen Schließungen und ungleichen Verteilungen sind für Ent­wick­lungen von Ge­sellschaften in die eine oder andere Richtung von hoher Bedeutung und ge­ra­ten aktuell wieder stärker in den Blick der Sozial­wis­senschaft. Dies be­­trifft einerseits das Auseinanderdriften von Wohl­stands­niveaus und po­li­ti­scher Beteiligung zwischen Gesellschaften, andererseits aber auch die Sprei­zung in der Verteilung von Zugängen zu Wohl­stand und Mitsprache in­ner­halb von Gesellschaften. Schließlich hängen soziale Teil­ha­be­chancen auch in ver­­­­meint­lich offenen Gesellschaften noch immer sehr stark von der wirt­schafts­­­­­­­strukturellen, sozialen und ethnischen Herkunft, dem Geschlecht, der se­­­xu­­ellen Orientierung oder körperlichen und psychi­schen Voraussetzungen ab.

Das Thema des 38. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie ist im Lichte aktueller gesellschaftlicher Dynamiken und im Bewusstsein um die interne Pluralität des Faches konzipiert. Es gehört zum Selbst­ver­ständ­nis der Soziologie, die Ursachen sozialer Schließungen und ihre Wir­kungs­­me­cha­nismen für gesellschaftliche Entwicklungsprozesse und indivi­du­elle Le­bens­verläufe zu verstehen, Zusammenhänge offenzulegen und Fol­ge­wir­kun­gen abzustecken, um Akteuren und Akteurinnen ein reflexives Wissen über Handlungen und Handlungsfolgen für die Entscheidungen, die sie zu tref­fen haben, bereitzustellen. Angesichts der system­über­grei­fen­den Ver­än­de­rungsprozesse ist die Soziologie, die ihren Ursprung in der Ana­­ly­se­not­wen­digkeit zunehmend dynamischer und komplexer werdender Ge­sell­schaf­ten genommen hat, dafür besonders qualifiziert.

Wir freuen uns, wenn Sie die Debatten des Kongresses mit Ihren theo­re­tischen, thematischen und methodischen Perspektiven bereichern. Wir hof­fen auf lebhafte Diskussionen der Ergebnisse empirischer Studien und theo­retischer Verortungen, nicht zuletzt auch, um Nutzern und Nut­ze­rin­nen soziologischen Wissens ein hinreichendes Verständnis von Ursachen und Wirkungen sich öffnender oder sich schließender Gesellschaften und Ge­meinschaften geben zu können.