Thema
Transnationale Vergesellschaftungen
11.-15. Oktober 2010 in Frankfurt am Main
Im Oktober 2010 begeht die Deutsche Gesellschaft für Soziologie ihren einhundert jährigen Jubiläumskongress. Die Gründung einer entsprechenden deutschen soziologischen Gesellschaft, die bereits 1909 in Berlin erfolgte, muss den dabei Beteiligten in dieser Zeit der Nationalstaaten mit ihren Volkswirtschaften offenbar zeitgemäß erschienen sein. Allerdings wusste man bereits im frühen 19. Jahrhundert um die Paradoxie des Gegenstands der Soziologie. Denn die bürgerliche Gesellschaft war einerseits in den mehr oder weniger absolutistischen westeuropäischen Staaten entstanden, weshalb man von der französischen, englischen oder deutschen Gesellschaft sprechen und dem entsprechend nationale Gesellschaften für Soziologie gründen konnte. Andererseits war klar, dass diese Gesellschaft potentiell Weltgesellschaft war, weil sie die staatlichen Grenzen in Handel und Verkehr von Anfang an überschritt. Für Hegel war das Meer "das Naturelement der Industrie, zu dem die bürgerliche Gesellschaft hinstreben" musste. Und hatte nicht Ferdinand Tönnies, der Mitbegründer und erste Präsident der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, schon 1887 darauf hingewiesen, dass "die Ausbildung nationaler Staaten nur eine vorläufige Beschränkung der schrankenlosen Gesellschaft" darstelle? Heute beruht die "Weltgesellschaft" auf verschiedenen transnationalen Ordnungen wie der globalisierten Wirtschaft, Technik und Wissenschaft sowie einer globalen Öffentlichkeit bzw. einer sich bereits in Umrissen abzeichnenden globalen Zivilgesellschaft. Zwar gibt es nach wie vor Nationalstaaten mit ihren jeweiligen "Volkswirtschaften". Als globale Akteure haben sie in einer "postnationalen Konstellation" jedoch an Bedeutung verloren. Die zeitgenössische Soziologie hat diese Entwicklung aufgegriffen und im Zuge der Globalisierungsdebatte versucht, ihr sowohl in grundbegrifflicher als auch in methodologischer Hinsicht Rechnung zu tragen. Wie weit sie in ihrem Bemühen gekommen ist, ihre eigenen theoretischen Grundlagen, Begriffe und Methoden auf die Transnationalität des Sozialen auszurichten, soll aufdem 35. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Frankfurt am Main verhandelt werden. Dabei wird auch zu prüfen sein, ob es weiterhin sinnvoll ist, zwischen regionalen bzw. nationalen Varianten wie der deutschen, französischen, europäischen und amerikanischen Soziologie zu unterscheiden. Zwar hatten gerade diese verschiedenen nationalen Traditionen der Soziologie im 19. und 20. Jahrhundert weltweit eine erhebliche Bedeutung gehabt. Ob die Gegenwartssoziologie aber auch heute noch entsprechend nationalstaatlich ausbuchstabiert werden kann, ist keineswegs ausgemacht. Mit dieser theoriegeschichtlichen Selbstreflexion knüpft die Deutsche Gesellschaft für Soziologie thematisch an ihre Ursprünge an, indem sie das Spannungsverhältnis zwischen regionaler, nationaler und globaler Identitätsbildung in den Mittelpunkt ihres Jubiläumskongresses rückt. Gesellschaftstheoretische Fragestellungen sind damit ebenso verbunden wie die Ausrichtung der diversen soziologischen Bestandsaufnahmen und Zeitdiagnosen auf verschiedene transnationale Formen der Vergesellschaftung, die zum Teil in einem konfliktreichen Verhältnis zueinander stehen und die insofern überhaupt erst den Raum dessen ausloten, wofür der bereits von Tönnies gebrauchte Begriff der Weltgesellschaft steht bzw. stehen könnte. Die gegenwärtig zu beobachtenden Globalisierungsprozesse vollziehen sich zum einen im Rahmen eines spannungsreichen Verhältnisses von Globalität und Lokalität, das paradoxerweise auch den Raum für eine entsprechende Aufwertung lokaler Besonderheiten geöffnet hat. Zum anderen vollziehen sie sich in einem Spannungsverhältnis von Diffusität und Geordnetheit, das die Entwicklung verschiedener transnationaler Ordnungen im Bereich der Wirtschaft und der Politik begünstigt. Ein entsprechendes "Regieren" jenseits der Nationalstaaten ist dabei darauf angewiesen, nicht nur die einzelnen Staaten, sondern auch die weltweit agierenden Unternehmen und Banken, supranationalen Verbände sowie zivilgesellschaftlichen Organisationen einzubeziehen. Solche transnationalen Formen der Vergesellschaftung schließen das Entstehen abstrakter Teilnahme- und Teilhabemöglichkeiten ebenso wenig aus wie den Rekurs auf partikularistische Identitätsbildungen. Das Verhältnis von räumlicher und zeitlicher Verortung wird neu gewichtet. "Heimat" und "Welt", Nahsicht und Fernsicht avancieren zu gleichrangigen Bezugspunkten der Selbstdefinition und eröffnen somit Chancen für neue Solidaritätsstiftungen und "posttraditionale" Vergemeinschaftungen. Transnationalisierungsprozesse stellen insofern traditionelle binäre Unterscheidungen in Frage. Nicht das "Entweder-oder", sondern das "Sowohl-als-auch" ist für sie charakteristisch. Sie finden in einem Zwischenraum jenseits einzelstaatlicher Zugehörigkeiten statt, der als Experimentierfeld der Moderne zunehmend an Bedeutung gewinnt. Dabei steht heute nicht mehr die räumliche Nähe des großstädtischen Zusammenlebens im Vordergrund, sondern die Möglichkeit, soziale Beziehungen in immer größer werdenden geographischen Räumen auszubilden und auf Dauer zu stellen. Entsprechend bleiben auch im Rahmen der transnationalen Migration die Auswanderungs- und Ankunftsorte miteinander verbunden und wirken wechselseitig aufeinander ein. Es handelt sich insofern nicht um einen einmaligen, nur in eine Richtung verlaufenden Ortswechsel, sondern um die Entstehung von transnationalen Gemeinschaften und sozialen "Räumen", die beide Orte miteinander verbinden und zu verändern beginnen. Folgende Themenfelder strukturieren den Kongress:
1. Soziale Ungleichheit im Spannungsfeld von Nationalstaatlichkeit und Transnationalität
Zeitgenössische Gesellschaften sind zunehmend kulturell und sozial divers. Prozesse sozialer und räumlicher Mobilität innerhalb einzelner Gesellschaften, aber vor allem zwischen Nationen und Regionen führen weltweit zu einer permanenten Veränderung der sozialen Zusammensetzung aller Gesellschaften. Nicht zuletzt für die demokratischen Nationalgesellschaften der westlichen Welt ist die Erfahrung substantieller, sich kreuzender und interagierender Spielarten der Diversität neu. Der Prozess der Nationenbildung gestaltete sich als ein Prozess der Zentralisierung, Harmonisierung und Standardisierung in Richtung einer klar definierten kulturellen, sprachlichen und sozialen Norm. Soziale Ungleichheit definierte sich in diesen Kontexten in der Regel als eine vertikale Schichtung oder Klassenbildung entlang der Trias von Einkommen, Bildung und beruflicher Stellung, die sich als meritokratisch und leistungsgerecht normativ begründen konnte, auch wenn horizontale Verteilungsmuster (entlang der Dimensionen Geschlecht, Alter, Peripherie-Zentrum etc.) in der klassischen nationalstaatlichen Konfiguration immer ein Rolle spielten. Fluchtbewegungen, Dekolonialisierung und Arbeitskräftemangel haben seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges und später nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und ihrer Sattelitenstaaten umfangreiche Migrationen generiert, die langfristig von Dauer sein werden und zu einer zunehmenden globalen Entgrenzung führen. Im 21. Jahrhundert stellt sich die Frage nach sozialen Ungleichheitsstrukturen völlig anders. Auch ist die soziale Position einer Person oder Gruppe nicht länger ausschließlich nationalstaatlich zu bestimmen, da Position im Nationalstaat und in transnationalen Räumen (bzw. Herkunftsland und Arbeits- und Wohnort) selten deckungsgleich sind. Auch aus der Perspektive sozialstaatlicher Politiken und der Herstellung von Wohlfahrt greift der nationalstaatliche Blickwinkel zu kurz. Folgende Fragen ergeben sich daraus: Sind soziale Ungleichheitsstrukturen in der transnationalen Welt zunehmend individualisiert oder bilden sich in ihnen neue Gruppen und Kollektive heraus? Wie sind die Prozesse der Inklusion und Exklusion beschaffen, die der Herausbildung von sozialer Ungleichheit Vorschub leisten? Wie lassen sich in einem transnationalen Kontext Aussagen über Prekarität bzw. prekäre Lebenslagen machen? Welche Distinktionskriterien sind strukturbildend und wie und von wem wird ihre Anwendung normativ legitimiert? Welche sozialpolitischen Steuerungssysteme werden der Transnationalisierung des sozialen Raums gerecht? Wie definieren sich Rechte und Pflichten, Zugang zu Citizenship und staatsbürgerlichen Teilhaberechten innerhalb transnationaler Sozialordnungen? In welchem Verhältnis stehen die noch immer dominanten nationalen Wohlfahrtsregime zu Ansätzen einer europäischen Sozialpolitik einerseits sowie den sich entwickelnden globalen Sozial- und Ungleichheitsordnungen andererseits?
2. Globale ökonomische Vernetzungen und ihre regionalen und nationalstaatlichen Auswirkungen
War noch für Max Weber der industrielle Kapitalismus jene Schicksalsmacht, die einen bestimmenden Einfluss auf die Entwicklung der modernen Welt ausübt, so sind es heute die aus dem Ruder geratenen internationalen Finanzmärkte, welche diesen zweifelhaften Ruf genießen. Die jüngste Bankenkrise hat längst die sogenannte "Realwirtschaft" erreicht und 2009 weltweit zu einer bemerkenswerten Rezession geführt. Entsprechende öffentliche Konjunkturprogramme, die Teilverstaatlichung des Bankensystems und die Einführung neuer rechtlicher Regularien für die Finanzaufsicht haben vorübergehend zu einem Bedeutungszuwachs der einzelnen Staaten gegenüber den Märkten geführt, der allerdings vor dem Hintergrund der dramatisch steigenden Staatsschulden gesehen werden muss. Die Krise des Sozial- und Steuerstaates wird dabei durch eine weit gefährlichere Wirtschaftskrise überlagert, deren Ausgang auch einschneidende Auswirkungen auf die staatlichen Handlungs- und Entscheidungsmöglichkeiten haben wird. Ob kapitalbasierte Altersversicherungssysteme dabei als möglicher Ausweg aus der Krise des modernen Wohlfahrtsstaates angesehen werden können, hängt offensichtlich davon ab, ob es gelingen wird, den Finanzsektor zu stabilisieren und die Kreditvergabe wieder in Gang zu bringen. Welche Konsequenzen dies für die Weltwirtschaft und den ungehinderten Fluss der globalen Finanzströme hat, ist gegenwärtig ebenso offen wie die Frage, ob es den einzelnen Staaten und Staatenverbünden gelingen wird, jenseits nationaler Partikularismen globale Lösungen für die anstehenden weltwirtschaftlichen Probleme zu finden. Die durch unterschiedliche Pfadabhängigkeiten begünstigte Entstehung von verschiedenen Varianten des Kapitalismus stellt dabei eine Chance dar, das Verhältnis zwischen "Markt" und "Staat" neu auszubuchstabieren und entsprechende transnationale Problemlösungsstrategien zu entwickeln. Die weltweite Diffusion von Technologien, Bildungskonzeptionen, Standardisierungen und entsprechenden rechtlichen Regularien muss dabei vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Widerständigkeit nichtwestlicher Kulturen gegenüber dem Anpassungsdruck der globalen Marktvergesellschaftung gesehen werden, die auch zu einer zunehmenden Diversität der auf die gegenwärtige Weltwirtschaftskrise reagierenden Problemlösungsstrategien führen wird.
3. Staatenübergreifende normative Ordnungen
Die Herausbildung transnationaler Ordnungen und damit einhergehende Verrechtlichungsformen der zwischenstaatlichen Beziehungen finden heute sowohl im EU-Raum als auch in der internationalen Staatengemeinschaft statt. Am Beispiel der Europäischen Union kann dieses Spannungsverhältnis von Lokalität (Stadt, Region, Nation) und Globalität (der Kontinent als Teil einer Weltordnung) besonders gut verdeutlicht werden. Die Europäische Union ist einerseits mehr als eine internationale Organisation, denn sie greift unmittelbar in die Ordnungen ihrer Mitgliedsstaaten ein. Andererseits ist sie weniger als ein Staat. Dass Souveränität geteilt, aber nicht auf eine höhere Ebene übertragen wird, macht die Europäische Union zu einem eigentümlichen Konstrukt, das sich am besten als "Netzwerk" verstehen lässt. Die Herausbildung transnationaler normativer Ordnungen ist aber nicht auf den EU-Raum beschränkt, sondern hat inzwischen globale Ausmaße angenommen. Seit der im 17. Jahrhundert beginnenden Entwicklung des Völkerrechts und der Ende des 18. Jahrhunderts erfolgten Proklamation der Menschenrechte haben verschiedene Phasen einer zunehmenden Verrechtlichung der Beziehungen zwischen den Staaten stattgefunden, die zum Teil auf Zwang, zum Teil aber auch auf einer friedlichen Diffusion entsprechender Rechtnormen beruhen. Das dadurch bedingte Spannungsverhältnis zu den einzelnen nationalstaatlichen Rechtstraditionen muss dabei ebenso berücksichtigt werden wie die Bedeutung der Rechtschöpfung durch transnationale Organisationen, an der neben den Staaten auch private Akteure beteiligt sind. Die Vision einer "globalen Konstitutionalisierung ohne Staat" kann dabei als Versuch einer Überwindung der Staatszentrierung des modernen Verfassungsbegriffs trotz des Fortbestandes von segmentären Differenzierungen der Weltgesellschaft in Form von Nationalstaaten verstanden werden.
4. Transnationale Neuformierungen der Geschlechterverhältnisse
Im Zuge von Transnationalisierungsprozessen verändern sich Rechts- und Kommunikationssysteme, Wissensformen und Lebensweisen von Menschen. Damit geht die Frage einher, ob und wenn ja, wie sich diese Entwicklungen auch auf eine der wichtigsten gesellschaftlichen Ordnungskategorien, das Geschlechterverhältnis, auswirken. In welcher Weise sind Asymmetrien im Geschlechterarrangement, etwa in Bezug auf die Bereiche Arbeit, Familie, Bildung, Sexualität etc. von Transnationalisierung betroffen? Oder umgekehrt: Gibt es möglicherweise soziale Felder, in denen "Geschlecht" die entscheidende Kategorie transnationaler Umstrukturierungsprozesse ist? Dabei ist bislang keineswegs geklärt, ob die zu konstatierenden Entwicklungen zu mehr Geschlechtergleichheit oder zur Retraditionalisierung von Geschlechterverhältnissen führt. Die im Rahmen der EU-Politiken entworfenen Programme und Richtlinien, welche die Herstellung von Geschlechtergerechtigkeit zum Ziel haben (z.B. Gender-Mainstreaming, Work-Life-Balance und Antidiskriminierung), haben auf den ersten Blick zwar rhetorische Veränderungen bewirkt. Allerdings zeigt sich, dass in vielen Mitgliedsländern der "Gender-Pay-Gap" in den vergangenen Jahren größer statt kleiner geworden ist. Es lassen sich zahlreiche Beispiele für widersprüchliche Entwicklungen und Folgen transnationaler Einflüsse auf das Geschlechterverhältnis aufzeigen, die sichtbar werden (transnationale Familienräume; geschlechtsspezifisch geprägte transnationale Bildungsmärkte, Individualisierung von Arbeits- und Unterhaltsrechten, Transnationalisierung von Sorge- und Fürsorgearbeit etc.). Offensichtlich geht es nicht nur um den Wandel und die Beharrlichkeit von Geschlechteridentitäten und -arrangements, sondern auch um normative Verschiebungen und Verflüssigungen in der Bewertung dieser Veränderungen. Mit der Transnationalisierung geraten auch Differenzen innerhalb einer Genus-Gruppe stärker in den Blick, womit Aspekte intersektoraler Ungleichheitsverflechtungen angesprochen sind. Im Bereich der (medialen Darstellungsform von) Sexualität lassen sich einerseits Verflüssigungen von Heteronormativiät erkennen, andererseits auch genau das Gegenteil, nämlich deren Verfestigung und Naturalisierung mit Hilfe neuer Technologien. Insofern muss das gesamte Spannungsfeld der Geschlechterordnung im politischen, sozialen und kulturellen Bereich aus der Perspektive der Transnationalisierung hinterfragt werden.
5. Neue Identitätsbildungen in transnationalen Vergesellschaftungen
Regionale, nationale und transnationale Identitätsbildungen und Vergesellschaftungsformen finden heute in einem Spannungsverhältnis von Globalität und Lokalität statt. Aufgrund der durch die Globalisierung bewirkten ethnischen Umschichtungen, der Bevölkerungsverdichtung in den Metropolen sowie der zeitbedingten Veränderung der privaten Lebensformen gerät das menschliche Zusammenleben unter einen enormen Anpassungsdruck. Ein zunehmendes soziales und bürgerschaftliches Engagements für thematisch begrenzte Problemstellungen ist ebenso zu verzeichnen wie ein allgemeiner Verbindlichkeitsschwund. Es handelt sich hierbei offensichtlich um Phänomene, die auf entsprechende Verschiebungen im Verhältnis von privater und beruflicher Sphäre hinweisen und das industriegesellschaftliche Gleichgewicht zwischen Arbeit, Freizeit und privater Lebensführung hinter sich lassen. Die durch die wirtschaftliche und massenmediale Globalisierung bedingte weltweite Angleichung der Konsumgewohnheiten und Lebensstile ist dabei nur die Kehrseite einer Entwicklung, die zugleich zu unterschiedlichen Varianten des Umgangs mit dem durch das moderne Leben ausgeübten Anpassungsdruck geführt hat. Angesichts der wachsenden Bedeutung digitaler und elektronischer Kommunikationsformen ermöglicht nicht zuletzt das Internet neue Formen der sozialen Beziehung jenseits von räumlichen Grenzen und Zugehörigkeitsgefühlen. Die Frage, ob komplexe Gesellschaften überhaupt Gemeinschaftsvorstellungen beziehungsweise ein konsistentes Selbstbild entwickeln können, muss deshalb vor dem Hintergrund der Lockerung der Verbundenheit mit der jeweiligen Heimat und der Entstehung multipler Identitäten in den Metropolen reformuliert und jenseits nationalstaatlicher Zugehörigkeitszwänge neu beantwortet werden.
6. Die Permanenz der Krise und die Notwendigkeit einer soziologischen Zeitdiagnose
Für den Jubiläumskongress bieten sich eine Vielzahl von Bezügen an, um die Kompetenz unseres Faches bei der theoretischen und empirischen Analyse dieser transnationalen Formen der Vergesellschaftung unter Beweis zu stellen. Diese beinhalten nicht zuletzt auch einen kritischen Rekurs auf die eigene Fachgeschichte. Denn die Soziologie hat sich im Laufe ihrer Geschichte immer wieder mit krisenhaften Erscheinungen der Gegenwartsgesellschaft auseinandergesetzt. Als "Krisenwissenschaft" par excellence ist sie seit ihren Ursprüngen mit der Fragilität ihres Untersuchungsgegenstandes - nämlich der modernen Gesellschaft - untrennbar verbunden. Ihre eigene Fachgeschichte bietet insofern selbst ein reiches Anschauungsmaterial für die theoretische und empirische Analyse von gesellschaftlichen Extremzuständen. Allerdings sollte daraus nicht vorschnell die Schlussfolgerung gezogen werden, dass bereits heute so etwas wie eine "Bilanz der Soziologie" vorgenommen werden könnte. Angesichts der Sachlage sollte man vielmehr von dem Bonmot Max Webers ausgehen, dass sich die "historischen Kulturwissenschaften", zu denen er später auch seine eigene verstehende Soziologie zählte, immer wieder dem Wandel der "großen Kulturprobleme" zu stellen haben, was ihnen zugleich die für sie typische intellektuelle Eigenschaft der "ewigen Jugendlichkeit" garantieren würde. Insofern ist die seit ihren Anfängen im frühen 19. Jahrhundert immer wieder beschworene "Krise" der Soziologie nicht nur Ausdruck der auf Dauer gestellten Frage nach ihrer eigenen gesellschaftlichen Standortbestimmung und Mission, sondern die natürliche Konsequenz einer sich mit den geschichtlichen Veränderungen ihres Untersuchungsgegenstandes immer wieder neu erfindenden akademischen Disziplin. Die fachgeschichtliche Selbstreflexion der Soziologie ist somit selbst unverzichtbarer Bestandteil einer soziologischen Zeitdiagnose, die sowohl die jeweiligen gesellschaftlichen Veränderungen als auch ihre diesbezüglichen theoretischen und empirischen Analysen zum Gegenstand hat.
Gastländer
Frankreich und die USA sind Gastländer des Jubiläumskongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. Die Beteiligung französischer und amerikanischer Kolleginnen und Kollegen an diesem Kongress trägt zum einen der Bedeutung beider Länder für die Geschichte der Soziologie sowie die Emigration deutschsprachiger Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftler im 20. Jahrhundert Rechnung. Zum anderen wird durch die Teilnahme dieser beiden Gastländer das produktive Spannungsverhältnis zwischen den nationalen Traditionen der Soziologie prägnant veranschaulicht und die Frage nach ihrem heutigen Stellenwert innerhalb des Faches zum Gegenstand entsprechender soziologiegeschichtlicher Veranstaltungen und Kontroversen gemacht.