Das Kongressthema: ›Transitionen‹
Unter dem Leitbegriff ›Transitionen‹ stellen wir auf dem 42. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie Prozesse sozialen Wandels zur Debatte. Die Soziologie als wissenschaftliche Disziplin wurde in Zeiten zum Teil rapider und fundamentaler gesellschaftlicher Umbrüche etabliert, sie hat seither verschiedene weitreichende gesellschaftliche Veränderungen kritisch reflektierend begleitet und hält entsprechend zahlreiche Begriffe zur Beschreibung solcher Phänomene bereit: sozialer Wandel, Transformation, Prozess, Entwicklung, Evolution oder auch Revolution. Mit dem Begriff der ›Transitionen‹ als Leitbegriff für diesen Kongress sollen vor allem die Verläufe und Dynamiken gesellschaftlicher, institutioneller wie individueller Veränderungen in ihren unterschiedlichen Qualitäten fokussiert werden. Der Blick liegt damit stärker als in Konzeptionen des sozialen Wandels auf den Prozessen des Übergangs mit ihren Momenten des ›Dazwischen‹, der Kontingenz und der Offenheit wie auch möglicher Regelhaftigkeit, Regulierung und Gerichtetheit weiterer Entwicklungen. Soziale Transitionen beschreiben Zustände des Werdens; sie sind sowohl ein Nicht-Mehr als auch ein Noch-Nicht und können auf allen Ebenen des Sozialen und in allen Bereichen der Gesellschaft beobachtet werden. Im Mittelpunkt des Kongresses stehen somit weniger Phänomene der Konstanz und der Langlebigkeit, als vielmehr Soziales im Entstehen, in der Veränderung und im Übergang – Gesellschaft in und als Transitionen.
Facetten und Qualitäten von Transitionen
Soziale Phänomene der Transition sind ausgesprochen zahlreich und heterogen. Ihre Vielfalt interessiert soziologische Forschung und Theoriebildung auf verschiedene Weise:
1. Mit Blick auf die Größenordnung und Reichweite von Phänomenen des gesellschaftlichen Wandels sind Transitionen im Großen wie im Kleinen von soziologischem Interesse. Sie umfassen Prozesse, die parallel oder zeitversetzt verlaufen, die unterschiedlich weit ausgreifen und vielfältig miteinander verflochten sind. Transitionen sind Ausdruck von Veränderung und sie verändern das gesellschaftliche (Zusammen-)Leben und seine Strukturen auf verschiedenen Ebenen und zugleich über verschiedene Felder hinweg. Sie beziehen sich auf das soziale Geschehen im Politischen wie im Administrativen, im Alltäglichen wie im Strukturellen, im Religiösen wie im Ökonomischen, im subjektiven Erleben wie in technischen Objekten und Artefakten – und dies in differenter Weise, die oft neue Ungleichheiten hervorbringt. Digitalisierung ist zum Beispiel ein solcher tiefgreifender und umfassender Transitionsprozess, der alle gesellschaftlichen Bereiche zu erfassen sucht.
Phänomene globaler und weltgesellschaftlicher Reichweite wie der Klimawandel machen Fragen nach dem sozialen Umgang hiermit relevant, beispielsweise im Übergang zu nachhaltigeren Lebens- und Wirtschaftsweisen – einer Herausforderung, vor der alle Gesellschaften weltweit stehen. Dabei zeigt die Klimakrise eindrücklich, dass soziologische Forschungen multiperspektivisch entworfen werden müssen: Die jeweiligen Konstellationen auf den verschiedenen Ebenen, in denen Transitionen stattfinden und untersucht werden, erfordern die ganze Bandbreite des soziologischen Analyse-Instrumentariums. Um ein weiteres Beispiel anzuführen: Miteinander verflochtene kriegerische Konflikte können auf supranationaler Ebene als Elemente eines Übergangs in eine neue geopolitische Weltordnung beobachtet und so für die Soziologie Thema werden. Solche Wandlungsprozesse schlagen sich zugleich auf nationalgesellschaftlicher Ebene nieder, wo sie u. a. im politischen Feld weitere Transitionsprozesse anstoßen können. Umgekehrt entfalten nationalgesellschaftliche Dynamiken Wirkungen auf supranationaler und globaler Ebene und bedingen zugleich weitere Entwicklungsdynamiken z. B. in Familien, wenn kriegsbedingte Abwesenheiten einzelner Familienmitglieder neue Verteilungen von Aufgaben und Verantwortlichkeiten nach sich ziehen.
Neben globalen Fragen sind Nationalgesellschaften und -ökonomien mit weiteren, oft spezifisch auf dieser Ebene problematisierten Transitionen konfrontiert, wie etwa demografische Übergänge der sogenannten Baby-Boomer-Generation in die nacherwerbliche Lebensphase, die nicht nur im Hinblick auf den Fachkräftemangel eine Herausforderung etwa der bundesrepublikanischen (Post-)Migrationsgesellschaft darstellen. Diese gesamtgesellschaftlichen Vorgänge rapiden Wandels korrespondieren mit Veränderungen auf weiteren Ebenen des Sozialen: Organisationen, Institutionen und Infrastrukturen (z. B. Bürokratien oder Kommunikationsmedien und ihre Nutzungsarten) weisen je spezifische Transitionen auf. Zugleich werden Transitionen auf der mikrosozialen Ebene von Interaktionen und dem individuellen Leben relevant, wenn etwa Veränderungen größerer Reichweite zu Veränderungen sozialer Praktiken und der Formen sozialer Beziehungen führen. Daneben finden sich aber auch für diese Mikro-Ebene typische und genuin strukturelle Transitionen: Der gesellschaftlich und kulturell institutionalisierte Übergang zur Elternschaft oder die Transition zwischen Geschlechterkategorien sind oft einschneidende Übergangsphänomene, die im Privaten und Höchstpersönlichen genauso wirksam werden und soziologisch dort aufgesucht und untersucht werden müssen, wie sie umgekehrt auch mit Phänomenen größeren Maßstabs in ko-konstitutiven oder relativierenden Zusammenhängen stehen. Hier öffnet sich ein weites Feld möglicher theoretischer und empirischer Problemstellungen. Dazu zählt auch die Frage, wie Transitionen auf verschiedenen Ebenen (sei es individuell-biografisch, organisational, institutionell, feldspezifisch oder gesamtgesellschaftlich) in ihren vielfältigen Relationen und dynamischen Wechselwirkungen gedacht und untersucht werden können.
2. Mit Blick auf die Form und Logik von Transitionen werden Fragen der Geordnetheit und Geplantheit (sowie Planbarkeit) einerseits und der Offenheit, Kontingenz und Dynamik von Transitionen andererseits relevant. Wir laden ein, mit dem Begriff ›Transition‹ als Leitbegriff zur Analyse fortlaufender (d. h. historisch noch nicht abgeschlossener) Entwicklungen vor allem die Dynamik und Kontingenz entsprechender Vorgänge in den Vordergrund zu stellen und Sozialität als prinzipiell offen zu betrachten, d. h. soziale Veränderungen ohne Rekurs auf teleologische Vorstellungen oder Zwangsläufigkeit zu denken. Das impliziert keineswegs soziologische Beliebigkeit, denn auch im Ungeplanten können sich Muster und (wiederholbare) Formen offenbaren. Gleichwohl können Transitionen auch geplant und organisiert sein, so- dass sie ebenso Gegenstand von gesellschaftlichen Anstrengungen der Ordnung und Regelung sind. Da Transitionen in der Regel nicht ex nihilo entstehen, schreiben sie historisch gewachsene Strukturen fort – indem sie sie jedoch auch verändern oder gar mit ihnen brechen. Transitionen stellen potentiell konflikthafte oder doch zumindest konfliktaffine Prozesse dar, die in ihrer Form mit Blick auf Macht und Herrschaft zu diskutieren sind.
Soziologisch lassen sich mit dem Fokus auf Transitionen unvorhergesehene Ereignisketten ebenso rekonstruieren, wie erwartete Dynamiken empirisch untersucht oder Versuche der Modellierung von Zukunft unternommen werden. Der Blick auf Transitionen soll sich auf die Erfassung unsicherer und instabiler Übergänge genauso richten wie auf Bemühungen, solche Veränderungen zu antizipieren und explizit zu gestalten (oder im Nachhinein mit Sinn zu versehen). Im Kontrast zu teleologisch grundierten Prozessbegriffen (exemplarisch: Modernisierung) und der Gerichtetheit des Transformationsbegriffs wollen wir mit dem Begriff der Transitionen aber zugleich den Blick für das Offene, Unintendierte, Übergangshafte weiten.
Zugleich soll diese Perspektive dazu anregen, die innere Logik verschiedener Transitionen und ihrer Verknüpfungen zu reflektieren. Zu fragen ist z. B. nach der Dynamik und Form von Transitionen: Wie vollziehen sich Transitionen praktisch und materiell? Mit welchen Verteilungs-, Ressourcen- und Machtfragen ist dies je verbunden? Welche Vorstellungen von Neuem oder Altem werden (performativ) impliziert? Welche Wertvorstellungen und Bewertungen von ›schlechteren‹ oder ›besseren‹ Zuständen und Imaginationen eines ›davor‹ und ›danach‹ gehen mit Transitionen einher? Wie wird der Übergang lebensweltlich gedeutet, wie praktisch bewältigt, wie institutionell gespurt? Wie zeigen sich darin Differenzen, die über Größenordnung und Reichweite systematisch rekonstruiert werden können? Die Perspektive auf Transitionen erlaubt einen vergleichenden soziologischen Blick auf empirische Fälle solcher Veränderungen, auf ihre ggf. ungerichteten und dabei ambivalenten Dynamiken sowie auf ihre je eigenen Rhythmen, (Un-)Geregeltheiten und Abfolgen.
3. Die verschiedenen Qualitäten von Transitionen ergeben sich auch aus den (institutionellen wie alltäglichen) Qualifizierungen, Rahmungen, Deutungen und Problematisierungen entsprechender Phänomene. Sie werden immer auch auf diskursiver Ebene kommentiert und eingeordnet und damit als soziale Phänomene mithervorgebracht. Transitionen werden politisch und kulturell teils hoch emotional verhandelt. Solche Beschreibungen und Bewertungen von Transitionen sind Teil des Phänomens und zugleich eine Meta-Ebene, die soziologischer Untersuchung bedarf. Die historische und vergleichende Beschreibung gesellschaftlicher Veränderungen, das Bemühen um systematisches Verstehen, die Interpretation konkreter Prozesse wie diffus erscheinender Entwicklungen und die nüchternen Analysen sozialen Wandels gehören seit jeher zum Fach.
Gleiches gilt für die methodologische Reflexion der dabei verwendeten Begriffe, Konzepte und Methoden, um die gewünschte Distanz zur affektiven, subjektiven Wahrnehmung der Gesellschaft zu ermöglichen. So ließe sich etwa die Krisen- und Übergangsrhetorik selbst zum Gegenstand historisierender Perspektiven machen: Wie wurde in vergangenen Zeiten und wie wird aktuell eine gesellschaftliche Transitionszeit adressiert, inwieweit ist sie auf lokaler, nationaler oder globaler Ebene oder als Verbindung dazwischen zu verorten, welche Diskurse und Disziplinen sind dabei leitend und welche kollektiven Imaginationen werden auf diesen Ebenen sichtbar? In diesem Zusammenhang ist nicht zuletzt auch im Blick zu behalten, welche Aussagen zu wünschbaren gesellschaftlichen Veränderungen und welche normativen Kritiken sich von der Soziologie als wissenschaftlicher Disziplin verantworten lassen oder von ihr erwartet werden: Inwieweit sind Formen der gerechten Ausgestaltung von Übergängen (prominent etwa im Zusammenhang der Klimakrise) soziologisch begründungsfähig, und welche anderen Fragen von ›transitional justice‹ geraten in den Blick, wenn sich die Soziologie hierbei nicht allein auf die Beschreibung und Untersuchung unterschiedlicher Gestaltungsabsichten zurückziehen will? Sind die aktuellen gesellschaftlichen Krisenbeschreibungen im Kern vom Fach mit angetriebene Rhetoriken (wie bereits mehrfach auf Soziologiekongressen diskutiert)? Und welche Macht entfalten diese und weitere uns eigenen Formen von Wissen?
Begriffe und Methoden soziologischer Analysen von Transitionen
Neben der Bearbeitung konkreter Phänomene von Transitionen soll der Kongress auch einen Rahmen für die Frage bieten, wie die Soziologie mit ihren Instrumenten gesellschaftliche Transitionen begrifflich und mithilfe unterschiedlichster Forschungsmethoden empirisch in den Blick nehmen kann.
1. Richtet man hier zunächst den Blick auf die Denkbarkeit und Intelligibilität von Transitionen, auf die Konzepte und Begriffe, solässt sich aus dem 19. Jahrhundert kommend, am Anfang der Disziplin eine Dominanz oder Plausibilität evolutionistischer und teleologischer Theorien feststellen, die eine lineare bzw. gerichtete Abfolge von Gesellschaften zu denken suchten, etwa in Stufen- oder Phasenmodellen gesellschaftlicher Entwicklung. Die Arbeiten der beiden Namensgeber des Faches, Herbert Spencer und August Comte, hatten dabei eine enorme Wirkung; wie auch Karl Marx, Ferdinand Tönnies, Emile Durkheim, Max Weber oder später Talcott Parsons, die auf je eigene Weise nach ›Gesetzen‹ der Veränderung bzw. Stabilität trotz vordergründigen Veränderungen von Gesellschaft suchten, etwa im Sinne einer (letztlich kontinuierlichen und gerichteten, wenn auch ungeplanten) Modernisierung – je verstanden als Zivilisierung, Rationalisierung oder Differenzierung, oder als Folge von Klassenkämpfen. Diese Perspektiven laufen darauf hinaus, distinkte soziale Zustände zu diagnostizieren oder zu postulieren, zwischen denen ein Übergang stattfindet, wobei die Transition selbst oft eher nur sekundär interessiert.
Prozessperspektiven im engeren Sinne rücken dagegen die Permanenz und dabei die Unbestimmtheit, Kontingenz oder Unvorhersehbarkeit von sozialen Veränderungen ins Zentrum. Gesellschaftliche Zustände oder Ordnungen werden hier als (notwendige) gesellschaftliche Narrationen analysiert. Dies ist z. B. angelegt in soziologischen Theorien der Post- bzw. Spät-moderne, die gegenwärtige gesellschaftliche Entwicklungen zwar auch als Fortführungen oder Erweiterungen früherer Phasen gesellschaftlicher Entwicklung verstehen, dabei aber deren Offenheit und Ambivalenz betonen. Darüber hinaus ist an pragmatistische und an französische differenztheoretische Denktraditionen zu erinnern: Für diese sind allein Prozesse ständigen und unvorhersehbaren Anders-Werdens real, und gerade deshalb ist es gesellschaftlich notwendig, Ordnungen und Identitäten imaginär zu instituieren. Wie lassen sich in diesen und weiteren Denktraditionen Kontingenzen und Ambivalenzen von Vorgängen des Übergangs, von sozialen Verhältnissen im Übergang beschreiben? Welche Konzepte stehen dafür auch aus anderen Disziplinen zur Verfügung – etwa aus Geschichtswissenschaft, Philosophie, Erziehungswissenschaft, Kulturwissenschaften, Natur- und Lebenswissenschaften? Verschiedene Konzepte tragen unterschiedliche Vorstellungen der Qualitäten von Übergangsphasen mit sich. Die Begriffe sozialer Kipppunkte oder gesellschaftlicher Brüche betonen die begrenzte Kontrollierbarkeit von Übergängen und deren Plötzlichkeit. Demgegenüber stellen Konzepte wie Übergangsriten die Geordnetheit und gesellschaftliche Regulierung von biografischen Übergängen und ihre Folgen heraus. Weitere Begriffe, wie Liminalität oder Schwellenzustand, beschreiben zugleich einen unbestimmten Status von Individuen oder Kollektiven, in dem soziale Klassifizierungen noch nicht oder nicht mehr greifen.
2. Neben der Diskussion angemessener begrifflich-theoretischer Instrumente stellt sich ebenso die Frage nach der empirischen Beobachtbarkeit von Transitionen, nach geeigneten Verfahren der Datengenerierung und den damit verbundenen methodischen Instrumenten der empirischen Sozialforschung: Welche Methoden sind insgesamt geeignet, Veränderungen zu erfassen – z. B. historische Vergleiche, Biografie- und Lebenslaufforschung, Diskursanalysen, die Erforschung historischer Semantiken, die Erhebung von Prozess- und Paneldaten, Zeitreihen- oder Kohortenanalysen? Welche Grenzen haben diese Methoden und Daten jeweils, und welche Artefakte werden damit erzeugt? Welche Weiter- und Neuentwicklungen wären hier notwendig und wie können sie angegangen werden? Wie verhalten sich methodische Beschreibungen von distinkten Zuständen zu Deskriptionen und Narrationen sozialer Veränderungen, von Übergängen? Und welche neuen Methoden bieten sich im Blick auf diese Fragen durch Big Data? Wie können soziologische Methoden der Erfassung von Transitionen von inter- und transdisziplinären Zugängen profitieren? Ausdrücklich möchten wir an dieser Stelle ermuntern, auch die Methoden und die methodologischen Diskussionen der Nachbardisziplinen mit wahrzunehmen und vorzustellen.
Transitionen als komplexe Untersuchungsgegenstände
Für den Duisburger Soziologiekongress laden wir dazu ein, verschiedenste soziale und gesellschaftliche Phänomene als ›Transitionen‹ zu analysieren, wobei Transitionsphänomene in einer doppelten Hinsicht bestehen: In den Blick kommen Verläufe, Übergänge und Prozesse als Untersuchungsgegenstände, aber auch Dynamiken der Veränderung vonUntersuchungsgegenständen selbst (zu denen auch Begriffe und Konzepte sowie Diskurse zählen). Und nicht zuletzt muss thematisiert werden, wie sich solche Prozesse des Wandels als Übergänge begrifflich und sozialtheoretisch konzeptionieren und empirisch untersuchen lassen.
Aus der Vielzahl möglicher empirischer Phänomene soll im Folgenden nur eines exemplarisch betrachtet werden, an dem deutlich wird, dass Transitionen in ganz verschiedenen Reichweiten und Größenordnungen in enger Verflechtung zu analysieren sind: Die Klimakrise ist ein globales Phänomen, das einerseits selbst als Transition gedacht werden kann, beispielsweise im Sinne sich wandelnder Mensch-Natur-Verhältnisse, veränderter Lebensbedingungen, sich wandelnder Diskurse zu Konsum und Nachhaltigkeit, aber auch in der Analyse des Zustandekommens von klimatischen Ereignissen und ihrer Beeinflussbarkeit.
Andererseits sind die weltweiten wie regionalen Folgen des Klimawandels soziologisch als gesellschaftliche Transitionen deutbar, z. B. indem neue Verständnisse globaler Ausbeutung erarbeitet werden, neue Formen sozialer Ungleichheit oder neue Formen und Modi individueller Differenz entstehen. Daran anschließend lassen sich Konflikte um Ressourcen als Übergang in eine neue geopolitische Ordnung verstehen. Diese sind systematisch verbunden mit auf neue Weise virulenten Fragen von Grenzregimen, von Migration und nationalstaatlichen Lösungsversuchen. Darin verhandelte diskursive Deutungen sind ebenso soziologisch zu beobachten wie die politischen Veränderungen auf geopolitischer, innergesellschaftlicher und familiärer Ebene oder die institutionellen Veränderungen der Wissenschaften, ihrer gesellschaftlichen Relevanzen und Anfechtungen. Es können technische Veränderungen sein, die zu Gesellschaften in Transition führen, oder in (gerade auch soziologischen) Diskursen als solche gedeutet werden. Ebenso wie ausgehend von den Klimatransitionen zahlreiche gesellschaftliche Ebenen in den Blick kommen, die ihrerseits Brüche, Übergänge, Neues aufweisen, wären weitere Prozesse als gesellschaftliche Transitionen auf neue Weise zu denken und zu untersuchen: Ausgehend von politischen Transitionen z. B. die gesellschaftlichen, ökonomischen und auch wissenschaftlichen Dekolonisierungsprozesse (und die Prozesse von (Neo-)Kolonisierungen oder Transitionen ökonomisch erzeugter Ungleichheiten und damit zusammenhängende Übergänge in Rechtfertigungsordnungen, individuellem Begehren oder administrativen Einhegungen. Zu denken ist auch an die Transitionen von Geschlechterordnungen und die damit zusammenhängenden Veränderungen politischer Zugehörigkeiten und Abgrenzungen, von Identitätskonzepten – und anderes mehr.
Nicht zuletzt stellt sich die Frage, ob und wie die Soziologie an Transitionen teilnimmt, sie fördert oder bremst und auch ihrerseits Transitionen unterliegt. Nicht nur als Beitrag zur Selbstbeschreibung der Gesellschaft spielt die Soziologie eine Rolle für die Auswahl von Problemstellungen und die Form des Problemverständnisses, sondern auch als Akteurin und Moderatorin, die aktiv an Prozessen des Wandels teilnimmt und Deutungen anbietet, die Eingang in den gesellschaftlichen Kommunikationshaushalt finden. Zu untersuchen und zu diskutieren wäre, wo und wie das der Fall ist, sei es in der soziologischen Beratung, in der Begleitung von Bürgerforen oder in der systemischen Gestaltung von Großgruppenprozessen. Die Soziologie kann dank ihres Wissens um die Differenz und Divergenz von Akteursperspektiven eine vermittelnde oder auch zuspitzende Rolle in Transitionen spielen. Wo und wie setzt sie dieses Wissen ein? Wo hat sie ihre eigenen blinden Flecken (soweit sie diese beobachten kann, etwa als kritische Theorie)? Es ist überdies nicht auszuschließen, dass sich die Soziologie im Zuge ihrer Beteiligung an Transitionen auch selbst verändert. Mit ihrem Engagement können eine objektive Distanz verloren gehen und sich methodologische Probleme stellen, die reflektiert werden müssen. So wird die Soziologie selbst zur Akteurin und muss lernen, die Erkenntnisse einer Akteurstheorie auch auf sich selbst anzuwenden. Welche wissenschaftssoziologischen und wissenschaftstheoretischen Schlussfolgerungen sind aber aus einer Entwicklung dieser Art zu ziehen?
Duisburg als Ort des Soziologiekongresses 2025
Wir laden ein nach Duisburg! Die Entwicklung der Stadt Duisburg ist von Aufstiegen, Nieder- und Übergängen geprägt, und wir laden in der Woche des Soziologiekongresses ein, diese Spuren von vergangenen und gegenwärtigen Transitionen in der Stadt zu erkunden und soziologisch zu reflektieren. Duisburg, das ist der ›Tatort‹-Kommissar Schimanski, ›Wandel durch Kultur – Kultur durch Wandel‹ im Kulturhauptstadtjahr RUHR.2010, die Katastrophe der Love-Parade im selben Jahr, die anhaltende Migration, der größte Binnenhafen Europas, Duisburg als Endstation der Güterzüge aus China auf der ›neuen Seidenstraße‹, aber auch der Wandel von Stadtteilen wie Marxloh von Ausgehmeilen zu Problemvierteln zu Wirtschaftszentren.
Duisburg ist eine Stadt der Transitionen, die von ökologischen Ereignissen beeinflusst wird, in der externe Einflüsse zu internen Transitionen werden und in der soziale, kulturelle und ökologische Transitionen aus sich selbst heraus stattfinden. Der Blick in die Geschichte zeigt, dass Duisburg rund 700 Jahre älter ist als bisher angenommen. Historisch reichen die Spuren nun bis zu den Römern zurück. Im Mittelalter war die Stadt am Rhein ein bedeutendes urbanes Handelszentrum und erlebte eine wirtschaftliche Blütezeit. Duisburg lag am Ende des Hellwegs, zog Kaufleute an und der Handel florierte. Ein Naturereignis beendet diese Phase um 1.000 n. Chr. Nach einem starken Hochwasser veränderte sich der Flusslauf. Die Duisburger Rheinschlinge war nun abgetrennt und die Stadt lag landeinwärts, abgeschnitten von der Rheinschifffahrt und den Handelsrouten. Aus der bedeutenden Handelsstadt wurde ein Ackerbürgerstädtchen. Erst im 19. Jahrhundert wurde wieder eine Verbindung zum Rhein geschaffen. Der Hafen wurde ausgebaut und mit den Rohstoffquellen in der Nähe und dem wiedererlangten Zugang zum Rhein als Transportweg gewann Duisburg erneut an Bedeutung.
Nach dem Auf- und Ausbau der Eisen- und Stahlindustrie ab Ende des 19. Jahrhunderts und der Zuwanderung aus vielen Regionen kam es während der Weltwirtschaftskrise zur höchsten Arbeitslosenquote der Weimarer Republik. Der massiven Rüstungsproduktion im Zweiten Weltkrieg folgte die großflächige Zerstörung von Wohngebäuden durch Bombardierungen der Alliierten. Ein weiterer Aufschwung mit Kohle und Stahl brachte Arbeitskräftebedarf, Arbeitsmigration und überdurchschnittliche Wirtschaftskraft. Es folgte jedoch Krise und wirtschaftlicher Niedergang mit der Schließung von Zechen und Hütten, verbunden mit enormen Kaufkraftverlusten und großer Armut spätestens ab den 1970er Jahren. Über ein halbes Jahr hielt der vehemente Widerstand von Stahlwerkern und Stadtgesellschaft gegen die Schließung des Krupp-Stahlwerks in Rheinhausen 1987/88 an. Im Jahr 2008 wurde die letzte Zeche in Duisburg geschlossen. Zugleich ist die Stadt bis heute Standort des größten Stahlwerks Europas, das mit dem Übergang zu ›grüner‹ Technik klimafreundlich werden will. Weltweit erstmalig soll mit dem Duisburger Stadtteil Ruhrort zudem ein urbanes Quartier umweltneutral weiterentwickelt werden.
Auf- und Abstieg lassen sich historisch auch am Beispiel der Universität nachzeichnen. Lange nachdem Gerhard Mercator 1544 in Duisburg Zuflucht gesucht hatte und als angesehener Gelehrter seine Weltkarten schuf, wurde 1655 die ›Alte Universität‹ Duisburg eröffnet, mit einer theologischen, juristischen, medizinischen und philosophischen Fakultät. Duisburg wurde das wissenschaftliche Zentrum des Niederrheins. Ende des 18. Jahrhunderts, das linke Rheinufer war an Frankreich abgetreten, das rechte besetzt, verlor die Universität jedoch Studierende und infolgedessen an Ansehen. 1818 wurde die Universität aufgelöst (Universitätssiegel und große Teile der Bibliothek gingen nach Bonn). 1972 wurde die Gesamthochschule Duisburg neu gegründet (ab 1994 Gerhard-Mercator Universität), u. a. mit dem Fach Soziologie. 2003 fusionierten die Duisburger und die Essener Universität-Gesamthochschule zu einer der jüngsten Universitäten in Deutschland.
Die Stadt Duisburg ist damit ein Modell für Wendepunkte und Transitionen, mit tiefgreifenden Auswirkungen für die Stadt und ihre Einwohner:innen. Wie schaut die Soziologie auf diese Transitionen? Wir freuen uns auf anregende Vorträge und lebhafte Diskussionen am Campus Duisburg der UDE!