Gastländer

Gastländer USA und Frankreich

Zu den nationalen Traditionen, welche die Entstehung sowie die Entwicklung der Soziologie im 20. Jahrhundert maßgeblich geprägt haben, gehören neben der deutschen insbesondere auch die französische sowie die U.S.-amerikanische Soziologie. Bereits soziologische Klassiker wie Ferdinand Tönnies und Georg Simmel unterhielten um 1900 zahlreiche Beziehungen zu ihren Kollegen in Frankreich und den U.S.A. Umgekehrt haben so bedeutende Soziologen wie Emile Durkheim, George Herbert Mead und Albion Small in Leipzig und Berlin studiert, um die Gründe zu erfahren, warum den deutschen Universitäten zu dieser Zeit weltweit eine Vorbildfunktion zugesprochen worden ist, die auch in einem entsprechenden Ansehen ihrer geistes- und sozialwissenschaftlichen Institute zum Ausdruck kam.

Im Laufe des 20. Jahrhunderts verschoben sich die entsprechenden Gewichtungen allmählich zugunsten jener Form von Soziologie, wie sie nach dem Zweiten Weltkrieg in den U.S.A. betrieben worden ist. Hatte Talcott Parsons in seinem 1937 erschienenen Buch ?The Structure of Social Action? noch ausdrücklich auf die Bedeutung der verschiedenen nationalen Traditionen der Soziologie in Europa hingewiesen, so war es nicht zuletzt er selbst, der erfolgreich mit dazu beitrug, dass spätestens um 1950 der U.S.-amerikanischen Soziologie weltweit eine führende Rolle zukam, die bis in die 1970er Jahre fortbestand. Anschließend konnten im Gefolge der 1968er-Bewegung insbesondere die verschiedenen Repräsentanten der ?Frankfurter Schule der Soziologie? auf sich aufmerksam machen. Aber auch die verschiedenen, zum Teil in der deutschsprachigen Tradition entwickelten Varianten einer ?Verstehenden Soziologie? erfuhren nun eine entsprechende internationale Aufmerksamkeit, die in einem auffallenden Zusammenhang mit dem weltweiten Niedergang des Marxismus als einer missionarischen akademischen Sammlungsbewegung stand.

Dieser transnationale Brückenschlag zwischen der deutschsprachigen und der U.S.-amerikanischen Soziologie verdankt sich nicht zuletzt der sozialwissenschaftlichen Migration und Remigration im 20. Jahrhundert, von der die Frankfurter Soziologie seit 1933 in einem besonderen Ausmaß betroffen war. Insbesondere diesen verschiedenen transnationalen intellektuellen Migrationen ist es zu verdanken, dass im 20. Jahrhundert der U.S.A. eine erhebliche Bedeutung für die weltweite Rezeption und Weiterentwicklung der deutschsprachigen Tradition der Soziologie zukam. Überdies macht auch die verspätete internationale Rezeption der von Norbert Elias bereits in seiner Frankfurter Zeit entwickelten Zivilisationstheorie sowie die weltweite Diffusion der ursprünglich in den U.S.A. entstandenen sozialwissenschaftlichen Systemtheorie deutlich, dass es nicht nur bezüglich des von Talcott Parsons betriebenen Strukturfunktionalismus, sondern auch bezüglich der neomarxistischen Gesellschaftstheorie bemerkenswerte theoretische Alternativen gibt.

Wenn nicht alle Zeichen täuschen, sind es heute insbesondere die seit 1968 in Frankreich entwickelten Varianten der Soziologie, die derzeit nicht nur im deutschen Sprachraum eine besondere Aufmerksamkeit genießen. Hierbei zeichnet sich seit geraumer Zeit ein interessantes (Links-)Bündnis zwischen dem französischen Strukturalismus und Poststrukturalismus sowie den verschiedenen Varianten einer ?kritischen Theorie? ab, die ursprünglich maßgeblich durch die ?Frankfurter Schule? geprägt worden ist. Wohin diese Reise führen wird und was dies für die weitere Entwicklung der Soziologie bedeutet, ist derzeit noch schwer abzuschätzen. Auf jeden Fall freuen sich die Veranstalter dieses Kongresses darüber, dass die Goethe-Universität Frankfurt erneut der Austragungsort eines Kongresses ist, auf dem nicht nur zentrale Probleme der Gegenwartsgesellschaft zur Sprache kommen werden, sondern auch zusammen mit den am Kongress teilnehmenden französischen und amerikanischen Kolleginnen und Kollegen darüber gestritten werden darf, welcher Form von Soziologie eigentlich in berechtigter Weise die Zukunft gehört.