Thema
Komplexe Dynamiken globaler und lokaler Entwicklungen
Themenskizze zum 39. DGS-Kongress vom 24. bis 28. September 2018 in Göttingen
Nach weit verbreiteter Wahrnehmung leben wir in einer Zeit ambivalenter gesellschaftlicher Veränderungen. Die Anlässe für diese Wahrnehmung sind vielfältig. Sie umfassen etwa die wirtschaftlichen Folgen verflochtener Finanzmärkte, den Aufstieg von Populismus und Autoritarismus, neue Formen internationaler Solidarisierung, oftmals gewalt-, armuts- und klimabedingte Migrationsprozesse in verschiedenen Weltregionen, vielfache Verflechtungen sozialer Ungleichheiten, transnational feststellbare Veränderungen im Bereich der Arbeitswelt wie etwa Prekarisierungstendenzen oder die Digitalisierung mit ihrer Veränderung gesellschaftlicher Interaktionsformen sowie ihren Teilhabe- und Überwachungspotentialen. Öffentlich werden diese Phänomene häufig in ihrer Bedeutung ›vor Ort‹, das heißt im zeitlichen und räumlichen Horizont gegenwärtiger, nationalstaatlich verfasster Gesellschaften diskutiert. So hat sich zum Beispiel die öffentliche Debatte zur sogenannten Flüchtlingskrise zumeist auf Fragen von Grenzkontrollen und staatlicher Souveränität, von kultureller Pluralisierung und nationaler Integration konzentriert.
Der 39. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) ›Komplexe Dynamiken globaler und lokaler Entwicklungen‹ 2018 in Göttingen will die derzeitigen gesellschaftlichen Veränderungen nicht allein vor Ort, sondern im komplexen Spannungsfeld globaler, regionaler, nationaler und lokaler Dynamiken ausleuchten. Dafür bieten sich je nach Untersuchungsgegenstand unterschiedliche methodische Zugriffe an, von mikrosoziologischen Fallstudien über großflächige makrosoziologische Vergleiche bis hin zu Mehrebenenanalysen, von der interpretativen Rekonstruktion von Deutungsmustern bis hin zur Analyse kausaler Mechanismen sozialen Wandels. Sie alle können jeweils spezifische Beiträge dazu leisten, den soziologischen Blick in räumlicher und zeitlicher Hinsicht zu erweitern und Anstöße zur Reflexion gewohnter Perspektiven und normativer Prämissen unserer Disziplin zu geben. Der Kongress zielt damit auf zweierlei: Erstens soll im Rahmen einer Standortbestimmung des Faches diskutiert werden, mit welchen theoretischen Zugängen, analytischen Instrumentarien und empirischen Methoden sich die komplexen Verflechtungen lokaler, nationaler, regionaler und globaler Dynamiken erfassen lassen. Zweitens sollen der Wandel und die Verflochtenheit unterschiedlicher räumlicher und zeitlicher Ebenen exemplarisch anhand konkreter Themenfelder ausgeleuchtet werden.
Für die Soziologie stellen gesellschaftliche Umbrüche schon immer Chance und Herausforderung zugleich dar. Eine Chance sind sie deshalb, weil ihre öffentliche Wahrnehmung einen gesteigerten Bedarf an soziologischen Analysen erzeugt. Gerade die Soziologie, die die theoretische Reflexion alltagsweltlicher Deutungen der sozialen Welt mit einem differenzierten Instrumentarium empirischer Sozialforschung vereint, hat das Potenzial, für unterschiedliche Perspektiven auf komplexe Dynamiken zu sensibilisieren. Sie fungiert damit als Reflexionsmodus der Gesellschaft, als Ort und Form der kritischen Befragung des Common Sense. Herausforderungen betreffen insbesondere die Auseinandersetzung mit einer der jeweiligen Fragestellung angemessenen Dimensionierung räumlicher und zeitlicher Bezugsebenen – die den Forschungsgegenstand stets auch mit konstituiert. So besteht ein Erkenntnisgewinn zum Beispiel darin, lokale und regionale Phänomene im Lichte transregionaler und globaler Prozesse zu betrachten oder umgekehrt globale Entwicklungen in ihren kleinräumig verorteten Konstellationen zu analysieren. Auch in zeitlicher Hinsicht sind Wechselwirkungen zwischen zu definierenden Bezugsebenen zu untersuchen, seien es kürzere oder längere (ggf. historisch vergleichende) Untersuchungszeiträume, seien es verschiedene Zeitregime oder Zäsuren als Teil des Untersuchungsgegenstands. Die Balance zwischen einem zeitlich und räumlich weiten Überblick und einer fokussierten, differenzierten Betrachtung ist dabei gegenstandsbezogen zu reflektieren. Des Weiteren gilt es, epistemische und normative Prämissen soziologischer Analysen zu hinterfragen. Verschiedene Ansätze betonen hier gegenüber vereinfachenden linearen Konzepten die Komplexität globaler und lokaler Entwicklungen, wie es etwa das Stichwort der multiplen Modernitäten ausdrückt. Postkoloniale Studien stellen durch ihre Eurozentrismuskritik ein Beispiel dafür dar, wie bedeutsam es ist, den eigenen Standpunkt offenzulegen, um die jeweilige Dimensionierung des Forschungsgegenstands transparent zu machen.
Diese Chancen und Herausforderungen können anhand vielfältiger thematischer Zugänge bearbeitet werden, wobei die Gegenstände soziologischer Analyse in ihrer Bezogenheit auf ein weitläufiges Spektrum räumlicher Ebenen und zeitlicher Entwicklungen zu betrachten sind. Forschungen können in diesem Sinne bei systematischen Vergleichen ansetzen, etwa zwischen globalen und lokalen Ebenen ebenso wie zwischen Ländern oder Städten, zwischen mehreren Zeitpunkten oder zwischen Zeitregimes, um die analytische Breite zu erhöhen. Sie können sich zudem mit Blick auf die analytische Tiefe den Verflechtungsmechanismen komplexer Dynamiken widmen. Mit dem Kongressthema sind die Fachkolleginnen und -kollegen dazu aufgefordert, die Vielfalt der analytischen Instrumentarien der Soziologie dazu zu nutzen, die komplexen gesellschaftlichen Dynamiken im Hinblick auf unterschiedliche räumliche und zeitliche Ebenen zu diskutieren und so einen fundierten Beitrag zum besseren Verständnis der eingangs skizzierten Umbruchsituationen und ihrer öffentlichen Diskussion zu leisten.
DGS-Vorstand und lokales Organisationsteam freuen sich mit Ihnen auf einen gelungenen Kongress!