Prof. Dr. Dirk Baecker

Prof. Dr. Dirk Baecker

  • Inhaber des Lehrstuhls für Kulturtheorie und Management an der Universität Witten/Herdecke
  • Arbeitsschwerpunkte: soziologische Theorie; Kulturtheorie; Wirtschaftssoziologie; Organisationforschung; Managementlehre
  • DGS-Mitglied seit dem 15.04.1988
  • Mitglied der Sektion Wirtschaftssoziologie
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›Wir aber treiben nicht Soziologie um ihrer selbst willen (…).‹
Max Weber

Die Soziologie ist eine der Beobachtung und Beschreibung gesellschaftlicher Phänomene verpflichtete Wissenschaft. Ihr Wissen um die Komplexität der Gesellschaft zwingt sie zur Differenzierung und Kontextualisierung. Dieses Wissen um Komplexität stellt sie der Gesellschaft zur Verfügung. Die Theorien und Methoden der Soziologie geben Auskunft über Diversität und Perspektivenvielfalt.

Darüber hinaus ist die Soziologie eine zivile Wissenschaft. Sie ist eine Stimme unter anderen. Die Soziologie ist auch streitbar, keine Frage, aber dies typischerweise nur bis zu jenem Punkt, an dem auch ihre Gesprächspartner sich zur Komplexität der Verhältnisse bekennen. Erst dann beginnt die eigentliche Arbeit.

Die Soziologie ist eine akademische Disziplin und eine berufliche Ausbildung. Sie ist in Universitäten, öffentlichen und privaten Forschungsinstituten sowie in Stellenbeschreibungen von Behörden, Unternehmen, Kirchen, kulturellen Einrichtungen und anderen Organisationen verankert. Es gibt keinen Lebens- und Arbeitsbereich, der ihr fremd ist, weil jeder Lebens- und Arbeitsbereich ein Teil der Gesellschaft ist, ihres wichtigsten Forschungsgegenstands.

Die Soziologie pflegt den interdisziplinären Austausch. Ihre Problemstellungen ergänzen jene der Wirtschafts- und Politikwissenschaften, Biologie und Psychologie, Linguistik, Literatur-, Kunst-, Film-, Kultur- und Medienwissenschaften, sowie der Theologie, Medizin, Mathematik und Informatik. Jede dieser Wissenschaften ist zugleich Teil ihres Gegenstands. Jede dieser Wissenschaften ist paradigmatisch geprägt durch die Gesellschaft, in der sie ihre Problemstellungen, Begriffe und Methoden entfalten. Die Soziologie ergänzt diese Wissenschaften, indem sie nicht nur Formen ihrer Institutionalisierung untersucht, sondern auch ihr eigenes Verständnis von Sinn, Kommunikation und Praxis der Arbeit an Grundbegriffen zur Verfügung stellt.

Zugleich ist die Soziologie ein Kind der Industriegesellschaft und der Ausdifferenzierung der Fachwissenschaften im 19. Jahrhundert. Schon im 20. Jahrhundert zeigt sich, dass die Soziologie außerhalb der Universitäten, ihrer Institute, Lehrstühle und Curricula nicht an diese fachwissenschaftliche Ausdifferenzierung gebunden ist. Begriffe wie Komplexität, Kommunikation, Kognition und Kontingenz sind Begriffe, die wissenschaftliche Interessen markieren, die typischerweise über die Grenzen von Fachdisziplinen hinausgreifen. Die verschiedenen Turns der Wissenschaften des 20. Jahrhundert (linguistic turn, cultural turn, rhetoric turn, spatial turn, performative turn, postcolonial turn usw.) zeigen an, dass Begriffe und Gegenstände neue Allianzen suchen, die sich disziplinär nicht begrenzen lassen.

Seit Comte und Marx untersucht die Soziologie nicht nur Elemente der Gesellschaft und ihre statistischen Mengen, sondern Relationen, Relationen von Relationen und Konditionierungen dieser Relationen von Relationen. Dass das Verhältnis empirischer Sozialforschung zu theoriegeleiteten Fragestellungen nach wie vor eher im Zeichen der Differenz als der Integration steht, ist möglicherweise eher Teil der Lösung eines Problems als selber ein Problem. Zu selten allerdings fühlt sich die Soziologie durch diese Differenz fruchtbar herausgefordert. Die Netzwerktheorien und Netzwerkanalyse des ausgehenden 20. Jahrhunderts und beginnenden 21. Jahrhunderts machen deutlich, dass sich interdisziplinär eine neue Konsolidierung wissenschaftlicher Fragestellungen andeutet, die in den elektronischen Medien nicht nur einen neuen Gegenstand und neue Methoden zu ihrer Erforschung, sondern auch neue Herausforderungen ihrer Paradigmen gefunden hat.

Die Soziologie ist innerhalb der Universitäten als Hauptfach, Nebenfach in verschiedenen Konstellationen und Lehramtsfach etabliert. Sie zielt auf berufliche Kompetenzen von der gesellschaftlichen Beratung und Konfliktmoderation bis zur Projekt- und Organisationsentwicklung. Oft findet man Soziologinnen und Soziologen dort, wo man sie am wenigsten erwartet. Dementsprechend vielfältig sind die Kontakte, die die Deutsche Gesellschaft für Soziologie pflegt und ausbauen sollte. Von der Hochschul- und Schulpolitik über das Gespräch mit den Berufsverbänden bis zur Suche nach Formaten, in denen die Soziologie sich an Projekten gesellschaftlicher, kultureller, urbaner und regionaler Entwicklung beteiligen kann, gibt es kaum ein Feld, das keine Aufmerksamkeit verdient. Der Umgang mit einer Pandemie wie Covid-19 zeigt, dass es ebenso sinnvoll ist, ein historisches Wissen abrufbar bereitzuhalten, wie mit überraschenden gesellschaftliche Reaktionen umgehen zu können.

Die Soziologie ist eine Wissenschaft mit Augenmaß. Für das Unauffällige und Durchschnittliche, das eine Gesellschaft am Laufen hält, interessiert sie sich ebenso sehr wie für das Auffällige und Ungewöhnliche. Es gehört zu ihrem Profil, bestimmte, für sie typische Themen nachhaltig im Blick zu behalten, von der sozialen Frage über die soziale Ungleichheit bis zu Fragen der Globalisierung und Migration, des Auseinanderdriftens von Globalem Süden und Globalem Norden, der Digitalisierung, des Umbaus zu einer nachhaltig wirtschaftenden Gesellschaft, des Verhältnisses der Geschlechter und der Transformation der modernen Buchdruckgesellschaft in eine nächste Gesellschaft der elektronischen Medien. Die Soziologie weiß, dass sie in allen diesen Themen ebenso sehr Akteur wie Gegenstand einer Rücksicht auf neue Sensibilitäten ist. Zu dieser Rücksicht gehört nicht zuletzt eine Überprüfung der medialen Präferenzen der Soziologie für Daten und Texte. Dabei kommen nicht nur Bilder und Töne zu kurz, sondern auch Grafiken, Formeln und Modelle.

Vom Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Soziologie erwarte ich, dass er das Bild einer wissenschaftlichen Disziplin, die für Komplexität und Differenzierung zu werben vermag, nach Innen und nach Außen vertritt und eine Agenda verfolgt, die die Soziologie zu einem gesuchten und geschätzten Partner gesellschaftlicher Entwicklungen macht.

Zur Person: 1974 bis 1982 Studium der Volkswirtschaftslehre, Finanzwissenschaften, Soziologie und Wirtschaftsgeschichte an der Universität zu Köln und Université Paris-IX (Dauphine); 1982 bis 1993 Promotion und Habilitation im Fach Soziologie an der Universität Bielefeld bei Niklas Luhmann; 1993 bis 1996 Heisenberg-Stipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft; Visiting Scholar an der Stanford University, London School of Economics und Johns Hopkins University; Gastprofessur an der Universität Wien; 1996 Ruf auf den Reinhard-Mohn-Lehrstuhl für Unternehmensführung, Wirtschaftsethik und sozialen Wandel an der Universität Witten/Herdecke; 2000 Ruf auf den Lehrstuhl für Soziologie an der Universität Witten/Herdecke; Mitbegründer des Management Zentrums Witten; 2007 Ruf auf den Lehrstuhl für Kulturtheorie und Kulturanalyse an der Zeppelin University; Lehraufträge an der Universität Basel; 2015 Ruf auf den Lehrstuhl für Kulturtheorie und Management an der Universität Witten/Herdecke.
Internet: catjects.wordpress.com und uni-wh.de/baecker. Email: dirk.baecker@uni-wh.de.