Prof. Dr. Jörg Strübing

Prof. Dr. Jörg Strübing

  • Professor für Soziologie an der Eberhard Karls Universität Tübingen
  • Arbeitsschwerpunkte: Qualitative Methoden und Methodologien, Wissenschafts- und Technikforschung, pragmatistische Sozialtheorie und Praxistheorien
  • DGS-Mitglied seit dem 28.02.2000
  • Mitglied der Sektionen Methoden der qualitativen Sozialforschung und Methoden der empirischen Sozialforschung
  • Mitglied im Konzil der DGS seit 2019
  • Mitglied im Vorstand der DGS seit 2021, dort zuständig für das Ressort Lehre
  • Leitung Ausschuss ›Soziologie in Schule und Lehre‹
  • auf Vorschlag der DGS: gewähltes Mitglied im Rat für Sozial- und Wirtschaftsdaten von 2014 bis 2017 und seit 2020; in der Zwischenzeit für die DGS dort ständiger Gast
  • Mitglied im Beirat von KonsortSWD seit 2020
  • Sektion Methoden der qualitativen Sozialforschung: Sektionsvorstand von 2006 bis 2012; Sektionssprecher von 2008 bis 2012
  • DGS-Kommission für die Reform der soziologischen Methodenausbildung von 2001 bis 2002
  • Website

Wahlprogramm

Zur weiteren Professionalisierung der Soziologie

Wohin wollen wir mit der DGS? Das ist die Frage, die jeder Kandidatur für den Vorsitz unserer Fach­gesellschaft vorausliegen muss. Für mich ist die DGS der bedeutendste Verband für die akademische Soziologie in Deutschland, nicht allein, weil sie mit ihren rund 3500 Mitgliedern der größte Zusam­men­schluss soziologischer Kolleg:innen in Deutschland ist, sondern vor allem, weil sie als einzige hiesige Fach­gesellschaft die ganze theoretische, methodische und gegenstandsbezogene Breite unseres Faches zu organisieren vermag. Eben dies muss ein Kernanliegen der DGS auch in der Zukunft sein.

Dieses Alleinstellungsmerkmal ist kein Selbstläufer, sondern bedarf immer wieder gemeinsamer An­strengungen der Mitglieder und Gremien. Und es bedarf engagierter Debatten (nicht nur) innerhalb unserer Dis­zi­plin. Denn mit unserem Gegenstand Gesellschaft verändern sich auch die Bedingungen unter denen wir Soziologie als eine empirisch forschende Wissenschaft des Sozialen betreiben können. In jüngster Zeit konnten wir vor allem eine verstärkte Professionalisierung und Internationalisierung vieler Bereiche der Wissenschaften, Veränderungen im Publikationswesen, aber auch der Beschäfti­gungs­­optionen und Karrieremuster jüngerer Kolleg:innen beobachten.

Soziologie wird gerne als ›Krisenwissenschaft‹ bezeichnet. Wenn damit nicht eine Wissenschaft in der Krise gemeint ist (wie es das Feuilleton gelegentlich behauptet), sondern eine Wissenschaft, deren analytische Kompetenz in gesellschaftlichen Krisen unverzichtbar ist, dann ist jetzt eine Hochzeit unseres Faches. Auch wenn Anfragen an die gesellschaftsdiagnostische Kompetenz der Soziologie zunehmen, müssen wir konstatieren, dass Medien und Politik genuin soziologische Fragen oft eher an Vertreter:innen der Politik- oder Wirtschaftswissenschaften stellen als an unser Fach. Das ist be­dauer­lich, weil sich viele dieser Krisenphänomene ohne die gesellschaftswissenschaftliche und sozial­theo­re­ti­sche Grundlagenarbeit und die systematische Empirie der Soziologie nur schwer angemessen verstehen lassen. Das hat ernstzunehmende Konsequenzen und betrifft weit mehr als nur unsere wissenschaftliche Eitelkeit:

Wir können in den letzten Jahren beobachten, wie die Zahl der Studierenden, die sich für die Soziologie entscheiden, stagniert oder gar sinkt. Dafür sind viele Gründe verantwortlich, die auch andere Fächer betreffen, und nicht alle sind von der DGS aktiv zu beeinflussen. Mit Blick auf die Studien­wahl fällt allerdings auf, dass Jugendliche in der Schule – als einem zentralen Ort für Studienwahlentscheidungen - mit Soziologie als Fach kaum in Berührung kommen und Lehramts­stu­die­rende für sozialkundliche Fächer in fast keinem Bundesland soziologische Grundlagen studieren. Wenn wir den Nachwuchs in unserem Fach sicherstellen wollen, müssen wir auch aus diesem Grund als DGS dafür Sorge tragen, dass Soziologie in allen Bundesländern Teil der sozial­kund­lichen Fachinhalte und Lehramts­aus­bil­dun­gen wird. In diesem Feld habe ich mich in der aktuellen Wahlperiode gemeinsam mit dem Ausschuss ›Soziologie in Schule und Lehre‹ bereits engagiert, möchte dies aber als Vorsitzender noch weiter forcieren.

Ein weiteres Problem bleibt die prekäre Beschäftigungssituation im sog. Mittelbau. Vermehrt kehren aus­sichts­reiche junge Wissenschaftler:innen der akademischen Soziologie den Rücken. Sie tun dies nicht aus Mangel an Begeisterung für unser Fach, sondern wegen praxisferner Befristungsregeln, dem Mangel an universitären Dauerstellen und gleichzeitig steigendem Arbeitsdruck. Zusammen mit gestiegenen Ansprüchen an die Anerkennung erbrachter Leistungen und auch an die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben lässt dies Viele nach Alternativen außerhalb der Hochschulen suchen – zum Schaden auch für unser Fach. Ziel der Vorstandsarbeit im Themenfeld Soziologie als Beruf muss es hier sein, im Verbund mit anderen Fächern nicht nur auf Änderungen bei den Befristungsregeln zu hinzuwirken, sondern auch alternative dauerhafte Karrierepfade neben der Professur, aber innerhalb der Wissenschaft zu entwickeln und politisch zu etablieren.

Als zentrales Forum unseres Faches ist der Soziologiekongress seit langer Zeit etabliert. Er hat an Reiz und Bedeutung für die deutsche Soziologie – wie 2022 in Bielefeld zu besichtigen war – auch über die Zeit der Pandemie nicht eingebüßt. Daran sollten wir anknüpfen: Bei allem Zugewinn an Online-Optionen erscheint mir für die Debatte wissenschaftlicher Positionen und Forschungsergebnisse, aber auch für die unverzichtbare Vernetzung unter Kolleg:innen regelmäßiger Austausch in Präsenz unverzichtbar – und der Kongress ist der zentrale Ort dafür. Daneben sollten wir aber auch andere, elektronische Formate für die verschiedenen Aktivitäten der DGS nutzen.

Die Zeiten werden rauer. Die finanziellen Corona-Auswirkungen, vor allem aber der unerklärte Krieg Russlands gegen die Ukraine mit seinen auch wirtschaftlich dramatischen Folgen werden die Wissenschaft nicht verschonen. Aktuell bereiten Ministerien und Universitäten die ersten Bündel an Sparmaßnahmen vor. Die DGS verstehe ich in diesem Zusammenhang als organisiertes Sprachrohr gegen die Kannibalisierung unserer Institute und Studiengänge zugunsten marktgängigerer Angebote und Versprechungen. Hier kommt es, wenn wir Wirkung entfalten wollen, neben der nachdrücklichen Profilierung unseres eigenen Faches einmal mehr auf gute Koordination und Abstimmung mit anderen Fächern insbesondere in den Sozial- und Geisteswissenschaften an, wenn vermeidbare Kürzungen auch mit strategischen Allianzen abgewendet und unvermeidliche fair zwischen den Fächern verhandelt werden sollen. In der Regel passiert das an den Universitäten oder auf Länderebene, aber als Fachgesellschaft sollten wir Argumentationshilfen liefern, den Kolleg:innen strategisch beratend zur Seite stehen und Öffentlichkeit mobilisieren.

Um den Vorsitz der Deutschen Gesellschaft für Soziologie bewerbe ich mich vor dem Hintergrund eines langjährigen Engagements für unser Fach und die DGS. Anfang der 2000er Jahre habe ich in der Kom­mission zur Neuausrichtung der Methodenausbildung in den Soziologiestudiengängen mitge­arbeitet, war danach mehrere Jahre Vorstandsmitglied in der Sektion Methoden der qualitativen Sozial­for­schung und von 2008 bis 2012 ihr Sprecher. Über die kritische Auseinandersetzung mit der Forderung nach Archivierung von Forschungsdaten für Sekundäranalysen bin ich seit 2014 als gewähltes Mitglied im Rat für Sozial- und Wirtschaftsdaten für die DGS aktiv. Nachdem ich über mehrere Jahre intensiv an der Debatte zur Zukunft der deutschen Soziologie mitgewirkt habe, wurde ich 2019 ins Konzil und 2021 in den Vorstand der DGS gewählt und bin dort seitdem für den Bereich Lehre zuständig.

Meine Kandidatur verstehe ich als Angebot an alle, die den Weg in eine zunehmend professionalisierte Soziologie mitgehen wollen. Es geht mir also darum, bei aller Vielfalt der Spezialisierungen, Methoden und Theorieperspektiven die DGS als einen integrativen Kommunikationsraum nach innen und eine starke Interessenvertretung der Soziologie nach außen weiterzuentwickeln und dabei den Kern unseres Faches zu stärken. Dabei ist mir an Dialog im Fach (über alle vermeintlichen Gräben hinweg), aber auch an Kooperationen mit benachbarten Fachgesellschaften gelegen, denn viele aktuelle Probleme lassen sich – so viel hat mich die Arbeit im Rat für Sozial- und Wirtschaftsdaten gelehrt – nur im kollegialen Verbund lösen.