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Identität und Interdisziplinarität
Juan E. Corradi
The End of Sociology?
Der Autor analysiert den Status der Soziologie aus der persönlichen Perspektive von mehr als fünfzig Jahren Forschung und Lehre auf diesem Gebiet. Er beobachtet den relativen Niedergang der Disziplin in drei Dimensionen: Theorie, empirische Studien und berufliche Beschäftigung. Er stellt eine Verlagerung von der Objektivität zur Lobbyarbeit fest, eine Entwicklung, die die Soziologie anfällig für politische Angriffe macht – vor allem durch rechte Politiker und Bewegungen in den USA und darüber hinaus.
The author analyses the status of sociology from the personal perspective of more than fifty years researching and teaching in the field. He observes the relative decline of the discipline in three dimensions: theory, empirical studies, and professional employment. He detects a shift from objectivity to advocacy, a development that makes it vulnerable to political attacks – mostly from right-wing politicians and movements in the US and beyond.
Georg Vobruba
Soziologische Spuren im Verschwörungsdenken
Soziologie und Verschwörungsdenken haben den Anspruch gemeinsam, die sozialen Verhältnisse zu erklären. Allerdings unternehmen sie das im Rahmen diametral entgegengesetzter Logiken. Die Soziologie bietet relationale Erklärungen an, im Verschwörungsweltbild dagegen wird alles auf die bösen Intentionen eines mächtiges Handlungszentrums zurückgeführt. Dies bringt dem Verschwörungsdenken Erklärungsprobleme, die es durch Lügenvorwürfe und das Behaupten von Gegenwahrheiten zu neutralisieren versucht. Dadurch freilich wird eine Dynamik in Gang gesetzt, in der dem Verschwörungsdenken die Wirklichkeit Schritt für Schritt verloren geht. Diese Dynamik wird in dem Beitrag rekonstruiert, um der Frage nach Ähnlichkeiten zwischen Verschwörungsdenken und Soziologie sowie deren Ursachen nachzugehen. Ergebnis sind einerseits soziologisch informierte Einsichten in die Dynamik von Lügen und Wirklichkeitsverweigerung, andererseits Spuren soziologischer Argumentationen im Verschwörungsdenken, die zu soziologischer Selbstreflexion anregen sollten.
Sociology and conspiracy thinking claim to explain society in common. However, they do so within the framework of diametrically opposed logics. Sociology offers relational explanations, whereas in the conspiracy worldview, everything is attributed to the evil intentions of a powerful center of action. This creates explanatory problems for conspiracy thinking, which it attempts to neutralize by accusing the mainstream of lying and by asserting counter-truths. However, this sets in motion a dynamic in which conspiracy thinking gradually loses touch with reality. This dynamic is reconstructed in the article in order to pursue the question of similarities between conspiracy thinking and sociology as well as their causes. The results are, on the one hand, sociologically informed insights into the dynamics of lies and the denial of reality and, on the other hand, traces of sociological argumentation in conspiracy thinking, which should encourage sociological self-reflection.
Hier der Text zum Download
Anika Oettler, Clara Ruvituso, Fabio Santos
Dekolonisierung als Dekanonisierung?
Der Beitrag greift die jüngst auch in der Soziologie geführten Debatten zur Öffnung und Dekolonisierung des Kanons und des Fachs auf und erweitert sie durch einen Blick auf die Geschichte der deutschsprachigen Soziologie und Lateinamerikaforschung, inklusive ihrer Austauschbeziehungen mit lateinamerikanischen und karibischen Intellektuellen: Exemplarisch dienen uns hierfür die gegenwärtige, späte und ausgewählte Rezeption Aníbal Quijanos sowie die (in Vergessenheit geratene) produktive Rezeption der Dependencia-Ansätze in den 1970er und 1980er Jahren in der spezifischen bundesdeutschen akademischen Landschaft. Mit dieser fachgeschichtlichen Rekonstruktion und Re-Lektüre soziologischer Theorie argumentieren wir, dass die gegenwärtige Beschränkung der hiesigen Soziologie auf nordwesteuropäische und nordamerikanische Kontexte historisch keine Konstante darstellt und deshalb mit Blick auf die Zukunft durchaus veränderbar ist.
The article takes up the recent debates in Soziologie on the opening and decolonization of the canon and the discipline, expanding on them by taking a close look at the history of German sociology and Latin American Studies, including its relations of exchange with Latin American and Caribbean intellectuals: Our exemplary case studies are the current, belated, and selective reception of Aníbal Quijano as well as the (forgotten) productive reception of dependencia approaches in the 1970s and 1980s in the specific German academic landscape. With this historical reconstruction and re-reading of sociological theory, we argue that the current focus of German sociology on Northwestern European and North American contexts is not a historical constant and can therefore be changed in the future.
Forschen, Lehren, Lernen
Mathias Wagner
Benötigt qualitative Forschung eine schriftliche Absicherung der Ethik?
In der qualitativen Sozialforschung wird heute die schriftliche Zustimmung der Interviewpartnerinnen und -partner zu Interviews gefordert. Bis vor wenigen Jahren reichte dagegen noch die Selbstverpflichtung der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zur Anonymisierung der Daten und zum Persönlichkeitsschutz der Akteure aus. Es wird die Frage aufgeworfen, ob mit der Veränderung zur schriftlichen Form tendenziell bestimmte soziale Gruppen die Teilnahme an Forschungen aus Misstrauen verweigern. Trifft das zu, so wird der Zugang zu vulnerablen sozialen Schichten oder zu Personen mit Misstrauen gegenüber der etablierten Gesellschaft unmöglich. Zudem widerspricht die schriftliche Zustimmung zu einem Interview der Alltagslogik von Vertrauen in der Kommunikation. Gerade in ethnografischen Forschungen gewähren Akteure aufgrund von nicht formalen Kriterien Einblick in ihren Alltag.
In qualitative social research today, the written consent of interviewees is required for interviews. Until a few years ago, however, the self-commitment of the researchers to anonymize the data and to protect the privacy of the participants was sufficient. The question is raised as to whether the change to the written form means that certain social groups tend to refuse to participate in research out of mistrust. If this is the case, access to vulnerable social groups or people with a mistrust of established society becomes impossible. In addition, written consent to an interview contradicts the everyday logic of trust in communication. In ethnographic research in particular, actors provide insight into their everyday lives on the basis of non-formal criteria.
DGS-Nachrichten
- Transitionen. Themenpapier zum 42. Kongress der DGS 2025 auf dem Campus Duisburg der Universität Duisburg-Essen
- Stellungnahme der DGS zu Mediendarstellungen von Akademiker:innen im Rahmen politischer Proteste zum Israel-Gaza-Konflikt
- Aus dem DGS-Vorstand
- Veränderungen in der Mitgliedschaft
Berichte aus den Sektionen
- Arbeitskreis Normativitäten
- Sektion Frauen- und Geschlechterforschung
- Sektion Methoden der qualitativen Sozialforschung
Nachrichten aus der Soziologie
- Der Rat für Sozial- und Wirtschaftsdaten: Ziele – Bedeutung – Tätigkeitsfelder
Corinna Kleinert, Hubert Knoblauch - Klaus-Mehnert-Preis
- Habilitationen
- Call for Papers
- Die Vielfalt des Rechts
- Verbraucher:innen in der Energiewende
- Der Wandel des Pilgerns im heutigen Europa
- Tagungen
- Vulnerable Gesellschaften: Risiken und Reaktionen
- Norbert Elias in der Praxis
- Interdisziplinäre Antisemitismusforschung
- ›Wer schützt hier eigentlich wen?‹
- Babyboomer. Sozialräumliche Perspektiven auf die Vielen