An die
Bundesministerin für Bildung und Forschung
Bettina Stark-Watzinger
München, den 13.07.2022
Sehr geehrte Frau Ministerin Stark-Watzinger,
wie wir der Presse und den Medien entnehmen und wie uns zahlreiche Mitglieder der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) berichten, gibt es derzeit große Unklarheit und Verunsicherung hinsichtlich der Forschungsförderung durch das BMBF. Als Vorsitzende der DGS und als betroffene Antragstellerin habe ich am 07.07.2022 eine Vernetzung angeboten, bei der sich 65 Forschende aus den Bio-, Geo-, Ingenieur-, Geistes- und Sozialwissenschaften versammelt haben. Vor diesem Hintergrund möchte ich Ihnen und Ihrem Haus unsere Sorge vermitteln und Sie freundlich um Klärung der Vorgänge bitten:
Es scheint, dass insbes. die im März 2021 ausgeschriebene Förderlinie ›Gesellschaftliche Auswirkungen der Corona-Pandemie − Forschung für Integration, Teilhabe und Erneuerung‹ komplett ausgesetzt wurde. Viele Sozialwissenschaftler:innen berichten von mündlich bzw. per E-Mail zugesagtem Projektbeginn und davon, dass der Projektträger DLR die Zuwendungsbescheide fortlaufend verschiebt. Alle Projekte, auch diejenigen, die etwa zum 01.07.2022 hätten beginnen sollen, warten demnach weiterhin auf eine verbindliche Aussage bzw. auf die Zuwendung. Es herrscht völlige Unklarheit seitens der Forschung, wie das BMBF nun mit der Förderlinie umgeht.
Es muss offenbar erneut betont werden, wie ›systemrelevant‹ die sozialwissenschaftliche Forschung zum Thema ›Gesellschaftliche Auswirkungen der Corona-Pandemie‹ war, ist und weiterhin auch sein wird. Ohne solide Forschung kann es keine evidenzbasierte Policy zu zentralen Dimensionen der biosozialen Pandemie geben. Dies betrifft zentrale Lebenslagen und handfeste soziale Wirklichkeiten der Menschen in diesem Land: Ungleichheit, Kindheit, Familienleben, Bildungseinrichtungen, Care-Arbeit, sozialer Zusammenhalt/Solidarität, Teilhabe, Geschlechterfragen, politische Einstellungen, Polarisierung usw. Dies sind nur einige der Aspekte, mit denen sich die Forschungsprojekte befassen, die das BMBF in einem hoch kompetitiven Prozess bewilligt hat. Das ist Forschung, die nicht zuletzt der nachhaltigen Bewältigung einer noch andauernden pandemischen Situation dient. Ebenso unverzichtbar ist die sozialwissenschaftliche Forschung zu ›Rechtsextremismus und Rassismus‹ sowie zu ›kultureller Vielfalt‹ für die Ausrichtung entsprechender Maßnahmen.
Die aktuelle Unklarheit in Bezug auf diese (und weitere) Förderlinien ist indes auch für den Wissenschaftsstandort Deutschland verheerend. Sie treibt zahlreiche junge Forschende aus Forschung und Lehre heraus, die hervorragend ausgebildet, hoch motiviert und überaus engagiert sind. Es kommt erschwerend hinzu, dass derzeit zahlreiche Projekte nicht (und nicht einmal kostenneutral, etwa wegen Elternzeiten oder Krankheit) verlängert bzw. zu Ende geführt werden. Das ist Politik auf Kosten von jungen Forschenden und ihren Familien.
Als Vorsitzende der DGS möchte ich Ihnen unsere Sorge über die aktuelle Situation vermitteln. Im Namen vieler Kolleg:innen möchte ich meine Irritation über das bis dato noch ungekannte Ausmaß an Unklarheit Ausdruck verleihen, das derzeit von Ihrem Hause hinsichtlich der Forschungsförderung ausgeht. Dies betrifft im Übrigen keineswegs nur die Sozialwissenschaften. Ich darf Sie deswegen höflich um Klärung hinsichtlich dieser konkreten Fragen bitten:
- Welche Forschungsförderlinien des BMBF sind derzeit wie von Kürzungen, Streichungen betroffen?
- Wann, wenn, wird die Förderlinie ›Gesellschaftliche Auswirkungen der Corona-Pandemie − Forschung für Integration, Teilhabe und Erneuerung‹ zugewiesen, wann also können bewilligte Projekte tatsächlich starten?
- Nach welchen Kriterien verfährt das BMBF mit Anträgen in bzw. auf Fortführungen, Abschlussfinanzierungen, kostenneutralen Verlängerungen in sozialwissenschaftlich relevanten Förderlinien, etwa ›Aktuelle und historische Dynamiken von Rechtsextremismus und Rassismus‹?
Ich möchte als Vorsitzende der DGS erneut nachdrücklich für die solide Finanzierung entsprechender Projekte und maximale Transparenz in der Förderpolitik plädieren.
Sehr gern stehe ich für Gespräche zur Verfügung und bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. Auf Ihre baldige Antwort freue ich mich im Namen der soziologischen scientific community Deutschlands.
Mit besten Grüßen,
Prof. Dr. Paula-Irene Villa Braslavsky
Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Soziologie e.V.