Offene/geschlossene Gesellschaft? Jugend und Integration in der globalisierten Welt
Gesellschaftliche Integration ist bei Jugendlichen zentral: ›Die‹ Erwachsenengesellschaft fordert sie, Jugendliche streben sie typischerweise an. Allerdings existieren auch Formen von Integration in deviante oder delinquente Kontexte. Überlegungen zu Integration und Exklusion Jugendlicher in einer für sie mal offenen, mal geschlossenen Gesellschaft gehen von der Frage aus, wie sehr die Annahme einer mehrfach ›gespaltenen Gesellschaft‹ (Lessenich/Nullmeier) auch auf Jugendliche zutrifft. Relevant für die Analyse sind (makro-)strukturelle Rahmenbedingungen, subjektive Reaktionen darauf sowie die Verbreitung alternativer, sozial, politisch, religiös motivierter Wirklichkeitsentwürfe, die als Partikularmoralen (Durkheim) (nicht nur) Jugendlichen angedient werden.
Bei den ungleichheitsstrukturellen Rahmenbedingungen geht es um den sozial hergestellten, nicht für alle gleich offenen Zugang zu Ressourcen und Gütern, die Jugendliche handlungsfähig machen, ihnen Möglichkeiten zur relativ selbstbestimmten Lebensführung geben und mit deren Aneignung zugleich gesellschaftliche Integrationsprozesse einhergehen. Hier müssen vor allem das Bildungssystem, der Ausbildungs- und Arbeitsmarkt sowie wohlfahrtsstaatliche Institutionen mit ihren Mechanismen sozialer Öffnung und Schließung berücksichtigt werden. Diese Prozesse finden unter dem Einfluss globalisierter Kommunikations-, Informations-, Waren- und Menschenströme (Castells) statt.
Gerade die Lebensverhältnisse Jugendlicher mit Migrationshintergrund machen deutlich, dass für bestimmte Kategorien junger Menschen (immer noch) strukturell bedingte Schließungen von Gesellschaftsbereichen bestehen. In besonderer Weise gilt dies für die bislang noch wenig erforschte Gruppe jugendlicher Flüchtlinge.
Im Bildungsbereich ist seit PISA die international hohe Selektivität und relative soziale Schließung des deutschen Bildungssystems erklärungsbedürftig geworden. Kritisiert wird hierzulande, dass Schulen eher soziale Herkunft als Leistungsdifferenzen prämieren. Herkunftsbedingte Ressourcen werden damit ausschlaggebend für weitere Lebenschancen. Veränderungen im Bildungssystem erfolgen auch unter Einfluss transnationaler Rahmensetzungen. Die OECD-begleiteten PISA-Studien gelten auch als Instrumente zur ›Ökonomisierung‹ und Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit von Bildung(ssystemen). ›Mehr Bildung‹, also mehr Investition in das Humankapital, soll die Wirtschaftskraft steigern. Zu fragen ist, inwieweit das die Öffnung und Schließung von Chancen beeinflusst.
Ebenfalls integrationsrelevant ist der Ausbildungs- und Arbeitsmarkt. Er ist zunehmend gekennzeichnet durch Deregulierung, Flexibilisierung, Effizienz-, Erfolgs- und Wettbewerbsorientierung. Als Folge des demographischen Wandels wird versucht, die Jugendphase stärker an der ökonomischen Verwertbarkeit auszurichten. Hinweise auf Öffnungs- und Schließungsprozesse ergeben sich u.a. aus den Einmündungen in Ausbildung und Arbeit (die u.a. nach Herkunft und Migrationshintergrund variieren), der Expansion des Übergangssystems und dem relativ großen Anteil junger Menschen in atypischer Beschäftigung. Da Erwachsenenstatus und gesellschaftliche Integration eng an die vollwertige Etablierung im Arbeitsmarkt gebunden sind, wird einem Teil der Jugendlichen beides zunächst vorenthalten.
Der ›aktivierende Sozialstaat‹ erzeugt weitere Spaltungslinien. Er steigert die Bedeutung der Erwerbsarbeit und die Eigenverantwortlichkeit der Akteure. (Auch) Jugendliche sollen ihre gesellschaftliche Integration zunehmend individuell durch Eigenleistung erreichen. Der Ausbildungs- und Arbeitsmarkt ist nur für diejenigen ›offen‹, die seinen Kriterien entsprechen (können). Ein Scheitern daran wird – wie der Diskurs um die ›fehlende Ausbildungsreife‹ Jugendlicher zeigt – typischerweise individualisiert. Jugendliche, die den Übergang nicht bewältigen, werden Sozialstaatsklienten, sollen aber ihre Hilfebedürftigkeit aus eigener Kraft beenden. (Auch) gesellschaftliche Regulierungsversuche und institutionelle Problembearbeitungen können damit zu Weichenstellungen für Integration oder Exklusion werden.
Integration und Exklusion sind nicht nur Folge aufgezwungener Strukturen, sondern auch Ausdruck von Entscheidungen; mit ihnen sind (neue) subjektive Wirklichkeiten verbunden, die eine eigenständige Betrachtung erfordern. Strukturell vorenthaltene Ressourcen und Chancen, gesellschaftliches ›Positioniert-Werden‹ und Prozesse der Selbstpositionierung Jugendlicher hängen zusammen.
Die Vorträge auf dem Sektionsnachmittag sollen folgende Fragestellungen berücksichtigen:
Wodurch werden für bestimmte Kategorien Jugendlicher systematisch und relativ dauerhaft die Möglichkeiten der Integration, der Wahl der Lebensentwürfe und der Optionen der Lebensführung eingeschränkt? Inwieweit geht dies mit Prekarität, Exklusion, Armut einher? Welche produktiven Bewältigungsstrategien finden diese Jugendlichen? Wie hängen vorenthaltene Chancen und Selbstpositionierung zusammen? Welche Bedeutung haben dabei alternative Wirklichkeitsentwürfe?
Inwieweit wirken globale Ströme (Ideen, Kommunikation, Menschen, Waren) auf die Integration Jugendlicher und ihre Bewältigungsstrategien? Ist ein europäischer, transnationaler, globaler Trend in der Gestaltung von Jugend erkennbar? Welche (anderen) Phänomene werden relevant, wenn die Analyse auf einen transnationalen Bezugsrahmen umgestellt wird?
Was bedeutet Integration und Exklusion insbesondere für jugendliche Flüchtlinge? Wie hängen (gesellschaftliche) Integration und die Chancenstruktur im Aufnahmeland zusammen?
Was lässt sich Neues über die Mechanismen im Bildungssystem sagen, über die sich Selektivität, Privilegierung, Bildungsarmut vollziehen? Wie sehr wird die Bildungs-/Leistungsgerechtigkeit als Legitimation in Frage gestellt? Wie wirkt sich die angestrebte größere Durchlässigkeit der Schulformen auf Mobilität und Integration aus? Inwieweit lösen sozialstaatliche Hilfeleistungen Prozesse einer ›sekundären‹ Integration/Exklusion aus?
Interessentinnen und Interessenten senden bitte ihr Vortragsangebot mit einem Abstract von maximal 4000 Zeichen sind bis zum 31.03. an Jens.Luedtke(at)phil.uni-augsburg.de oder Marcel.Eulenbach(at)erziehung.uni-giessen.de.