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Flüchtiger Moderner

Zum Tod von Zygmunt Bauman

Dass der Tod ein übler Zeitgenosse ist, war ja schon hinlänglich bekannt. Dass er aber gerade jetzt, in der gegenwärtigen sozialen und gesellschaftspolitischen Konstellation, einen Wissenschaftler und Kosmopoliten wie Zygmunt Bauman ereilt hat, lässt ihn nochmals in einem schlechteren Licht dastehen. Und wirkt auf den noch vom annus horribilis 2016 mitgenommenen Beobachter wie die endgültige Verschwörung der Zeitläufte gegen die europäischen Restbestände von Aufgeklärtheit und Geschichtsbewusstsein.

Man mag es für unangemessen pathetisch halten zu sagen, dass Zygmunt Bauman ein Soziologe war, wie es ihn – spätestens jetzt – nicht mehr gibt. Und schon gar nicht mehr geben wird. Doch das Schwelgen in ehrfürchtiger Begeisterung ist im Angesicht seines Lebenswerkes, für das die Deutsche Gesellschaft für Soziologie ihn 2014 mit ihrem wichtigsten Preis ehrte, durchaus angebracht. Unter den vielen grandiosen Werken Baumans war das Anfang der 1990er Jahre, mit dem Scheitern der staatssozialistischen Alternative zum Kapitalismus, erschienene ›Moderne und Ambivalenz‹ wahrscheinlich das großartigste. Dass die Angst vor dem Unbestimmten, Unentschiedenen, Unklassifizierbaren der Gesellschaft in der Moderne nicht genommen wird, sondern sie vielmehr in all ihrem Ordnungsdenken, ihrem Typisierungswahn, ihrer Ausgrenzungswut antreibt: Das zu erkennen und anzuerkennen fällt nicht nur den Apologeten des liberaldemokratischen ›Fortschritts‹ schwer. Auch eine mit der liberalen Demokratie historisch wie ideell eng verbandelte Sozialwissenschaft mag nicht ohne weiteres glauben, dass die Moderne immer auch ihr Gegenteil mitführt und -produziert: den machtvollen, im Zweifel auch gewaltsamen, Willen zur Eindeutigkeit.

Dass Mehrdeutigkeit, Andersartigkeit und Vielfalt auch – und vielleicht sogar gerade – im Europa des 20. Jahrhunderts nur schwer und häufig gar nicht ausgehalten wurden, hat Bauman am eigenen Leib zu spüren bekommen: als Kommunist und Jude, als Geheimdienstler und öffentlicher Intellektueller, als wahlweise britischer Pole oder polnischer Brite. Die berüchtigte Dialektik der Aufklärung – für ihn eine Dialektik der Ordnung – war nicht nur wissenschaftlich sein Metier. Auch lebensweltlich ließ sie ihn nicht los, hielt sie ihn gefangen und trieb sie ihn an. 1925 in eine jüdische Familie in Posen geboren, die vor den Nazis in die Sowjetunion fliehen musste, machte er nach dem Weltkrieg, in den er noch 1944 zog bzw. gezogen wurde, zunächst eine politische Offizierskarriere. Schon in den frühen 1950er Jahren aber wechselte er die Fahnen und in die Wissenschaft, in Warschau studierte und lehrte er Philosophie und Soziologie, seit 1964 leitete er das dortige soziologische Seminar. Aufgrund einer antisemitischen Hetzkampagne rund um die Warschauer Studentenproteste musste er, der kurz zuvor aus der polnischen KP ausgetreten war, 1968 die Universität verlassen. Er emigrierte nach Israel, erhielt aber schon bald einen Ruf ins nordenglische Leeds, wo er bis zu seiner Emeritierung 1991 lehrte.

Am bekanntesten ist Zygmunt Bauman wohl mit seinem ›Modernity and the Holocaust‹ aus dem Jahr 1989 geworden, in dem er die Shoah als genuin modernes, von der Rationalität der administrativen Tötungsmaschinerie und der entwickelten Industriegesellschaft lebendes Phänomen zeichnete. Aber vielleicht bestätigte ihn die jüngste Vergangenheit, bestätigt ihn gerade auch die Gegenwart der europäischen Gesellschaften noch mehr als die Geschichte von Nationalsozialismus und Judenvernichtung. Oder sagen wir: Die Fluchtmigration des letzten Jahres und die dominanten politischen Reaktion darauf zeigen das Doppelgesicht der Moderne, den Hang der liberalen Demokratie zu Ungleichheit und Illiberalität, auf eine zugleich subtilere wie – gerade vor dem Hintergrund der Geschehnisse des 20. Jahrhunderts – bedrückendere Weise.

Gleich zu Beginn des 21. Jahrhunderts publizierte Bauman mit ›Liquid modernity‹ ein Werk, das den einen zu einer Bibel der Postmoderne wurde, den anderen aber – angemessener – eher als eine Analyse der Moderne in neuem Gewand galt. Im neuen Gewand – und mit all ihren alten Widersprüchen. Im Deutschen auf (selten genug) glückliche Weise als ›Flüchtige Moderne‹ übersetzt, zeichnet das Buch das Bild einer Gegenwartsgesellschaft, der die Stabilität abhandenkommt und die im wahrsten Sinne des Wortes haltlos wird. Als er hätte er geahnt, was heute los ist (er hat es natürlich geahnt) verweisen Buch und Titel auf eine Welt, der das Flüchtige zur Bedrohung wird – auf die sie, wie auch anders, mit der Bestätigung und Verstetigung des Bestehenden reagiert. Falsche, aber beruhigende Gewissheiten werden in Anschlag gebracht; schlichte, und daher umso überzeugendere, Lösungen werden proklamiert. Die Eindeutigkeit feiert Urständ, wenn auch nicht fröhliche.

Es ist schon bemerkenswert – und, ja, beklemmend – wie genau die politische Dramaturgie der Gegenwart in das Baumansche Drehbuch von ›Modernity and ambivalence‹ passt. Der ›Fremde‹, der das gesellschaftliche Leben untergräbt – weil er sozial uneindeutig ist, weil er Freund oder Feind oder gar beides sein kann. Der Staat als ›Gärtner‹, der der phantastischen Macht der modernen Technologie vertraut – heute der Kontroll-, Überwachungs- und Abschiebungstechnologie –, um die Ordnung der inneren Sicherheit (oder die Sicherheit der inneren Ordnung?) wiederherzustellen. Politische Akteure, die sich im Namen und Interesse der Eindeutigkeit allen möglichen und unmöglichen Steuerungsphantasien und Regulierungsfiktionen hingeben: ›Obergrenzen‹ der Zuwanderung? Kann man machen, muss man nur wollen! Eine willkürlich festgelegte Zahl aufzunehmender Flüchtlinge, sagen wir ›200.000‹? Aber sicher, wir schaffen das! Und das der Uneindeutigkeit überdrüssige Volk hört es gern – und fragt sich allenfalls, ob alles nicht noch etwas eindeutiger sein könnte.

In Zeiten solch geradezu magischen und mithin vormodernen Glaubens an die Möglichkeiten moderner Eindeutigkeitspolitik wird man Zygmunt Bauman noch mehr vermissen als man es – als Soziologe, als politischer Bürger und als kritischer Realist – ohnehin schon getan hätte. Aber es hilft nichts, man wird ab sofort ohne ihn auskommen müssen. An diesem Montag – nur so viel scheint eindeutig – starb er im Alter von 91 Jahren in seinem Haus in Leeds.

Stephan Lessenich

Dieser Text erschien am 11.01.2017 in redigierter Form in der Süddeutschen Zeitung und im Tages-Anzeiger